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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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IV.4. Modigliani: Die Form der Liebe

 

denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.
Du mußt dein Leben ändern.

Rainer Maria Rilke 158

 

Modigliani (Abb.8)bewegt sich in der Reihe traditioneller Aktdarstellungen und bleibt doch solitär. Tradition und eine mit Cézanne verwandte Sehweise verbindet er zu einem Ganzen, das seinem sehr privaten (nicht im Sinne von Privatleben) und keiner Strömung der Moderne explizit zurechenbaren Suchen entspringt. Vielmehr sprechen Modiglianis Bilder von einer Form der Transzendenz, die mehr mit der Überzeitlichkeit weiter zurückliegender Epochen verwandt ist, als mit der vergänglichen Zeitkategorie die in seiner eigenen Epoche dominiert. "Die Körper, die Modigliani malte, sind transzendenter als die von Tizian oder Rubens. Sie haben vielleicht eine gewisse Affinität zu den Figuren Botticellis, aber Botticellis Kunst war gesellschaftlich, sein Symbolismus und seine Mythen gehörten der Öffentlichkeit, während die Modiglianis einsam und privat sind." 159 Im Blick auf die seinen Bildern innewohnende Transzendenz ist Modigliani weniger ein 'Moderner' denn ein - allerdings subjektiver - 'Grieche', nicht durch den Rückgriff auf Formensprachen (Modiglianis Körper nähern sich durchaus 'klassischer' Proportionierung), sondern - im Gegensatz zu Manet - durch den inhaltlichen Impuls, der sich in seinen Bildern ausdrückt.
Modigliani führt die Eingebung der Form mit dem sinnlichen, 'impressionistischen', Eindruck zusammen. Weder sind seine Formen auf ein ideales System zurückzuführen, sondern entspringen selbst der Anschauung und folgen der dem Modell eigenen, je spezifischen Formensprache, 160 noch gibt der Farbauftrag nur den Blick auf das Gegebene wieder, sondern er ist auch sinnbildlich und bildet selbst ein Farbsystem, das auf die Geschlossenheit des Bildkörpers zielt.

Die Form tritt während des Zeichnens allererst zutage. Sie entspringt der Leiblichkeit des Malers, der des Modells und den kommunikativen Korrespondenzen zwischen ihnen. Modigliani geht von der Vereinfachung des sinnlichen Eindrucks aus, die sich laut John Berger im Prozeß des Malens durch die lebendige Form komplizierte. Daraus entsteht die Dialektik von Vereinfachung und Komplexität, und was "unsere Augen wahrnehmen, schwingt unaufhörlich wie ein Pendel zwischen diesen beiden Polen." 161 Die Wahrnehmung von Komplexität oder Vereinfachung ist abhängig vom Betrachterstandpunkt. Die Komplexität nimmt zu mit der Annäherung des Malers an sein Modell und mit der Verringerung des Abstands zwischen Bild und Betrachter, den das Bild fordert. Aus der Entfernung werden die Formen zu Zeichen, die einen Arm, eine Brust oder eine Hüfte meinen. Im Zeichen zeigt sich die Existenz des dargestellten Körpers.
Die Kurven sind immer zweidimensional und dreidimensional zugleich, sie beschreiben zugleich Plastizität und bilden eine Form in der Fläche. Die Figur ist zugleich Silhouette und das Gegenteil einer Silhouette: körperhafte Substanz und zweidimensionales Zeichen. John Berger beschreibt die doppelte Funktion der Kurve als 'Buchstabe' und 'Fleisch', die zusammen den 'Namen' des Dargestellten bilden; der Name ist Begriff und physische Gegenwart zugleich. Die Kontur gehört Fleisch und Bewußtsein, Kontinuität - indem sie sie ermöglicht - und Diskontinuität - indem sie dem Maßlosen eine sichtbare Form verleiht - gleichermaßen an. Modigliani "suchte einen erfundenen Buchstaben, ein Monogramm, eine Form, die der vergänglichen lebendigen Gestalt, die er anschaute, Dauer verleihen würde." 162
Die Kontur ermöglicht die richtungslose Bewegtheit und Veränderlichkeit des Fleisches und verbindet zugleich den Körper mit dem Umfeld, aus dem er nicht ausgeschnitten ist, dem er und der ihm angehört. In diesem Sinne ist die Kontur keine der Figur zugehörige Linie, sondern sie ist zwischen den Farbräumen, die sie umgrenzt und deren Sein in der Fläche sie ermöglicht; sie ist zwischen Fleisch und Welt, die gewissermaßen dasselbe sind. 163 "Alles beginnt mit der Haut und mit dem, was sie konturiert. Und alles vollendet sich auch eben da. Entlang dieser Kontur bewegt sich Modiglianis Kunst." 164
Modiglianis 'Liegender Frauenakt auf weißem Kissen' spricht von Liebe in einem nicht ausdrücklich sexuellen Sinne. Daß der Darstellung nichts Sentimentales oder Pornographisches anhaftet, bewirkt Modigliani dadurch, daß er "die strukturelle Gesetzmäßigkeit, die 'Gestalt' zu finden und offenzulegen (vermag), durch die es der Liebe gelingt, ein Geliebtes sichtbar zu machen." 165 Modigliani stellt nicht die offenkundigen Zeichen der Liebe dar, eine Geste oder ein Lächeln, sondern er konzentriert das Bild zu Form und Fleisch, Emblem und Existenz gleichermaßen.
Die einzigartige Kontur bezeichnet das Sein nicht nur des dargestellten Leibes, sondern zugleich des Bildes. Auch das Bild ist weder nur Individuum noch nur Fleisch. Wie im menschlichen Körper der transzendierende Vollzug stattfindet, durch den ein sexueller Sinn eine umfassendere Bedeutung erlangt, so erlangt der Bildkörper über die Zusammenführung von individueller Kontur und dem Fleisch des Materials, von Emblem und Existenz, eine Bedeutung, die das visuelle Phänomen einerseits und die Grenzen des Bewußtseins andererseits überschreitet, indem Wahrnehmung und Bewußtsein eine bislang nicht gekannte Verknüpfung eingehen. Darin liegt die dem Bild innewohnende Transzendenz.

Auch die Farbe drückt das Gegenwärtige, das Berührbare, die räumliche Ausdehnung aus und ist auch sinnbildlich. Sie ist selbst Körper und meint einen Körper. Die zusammengefügten Farbflächen und die unendliche Auflösung innerhalb der Farbfelder entsprechen der Einheit des Körpers. Im Unterschied zu Manet enthüllt sich das Gemalte, auch aus nächster Nähe betrachtet, nicht als Illusion, es zerfällt nicht in Einzelteile und Pinselstriche. Die Farbe stellt nicht vor, anderes zu sein, als sie ist: Material und Träger von Licht. In der Farbe als der Haut des Bildes zeigt sich die der menschlichen Haut entsprechende Verbindung von Innen und Außen: sie ist einerseits feste, nach außen begrenzte, das Licht reflektierende Oberfläche, andererseits öffnet sie sich als Farbraum und läßt den Blick ein in etwas, das nicht mehr Oberfläche ist, sondern Öffnung und das unabhängig vom Träger der Leinwand zu sein scheint (scheint, denn die Kontur bindet den farbigen Raum zurück in die Fläche, die die Bedingung seiner Existenz ist). Die Farbe illusioniert nicht einen Körper, sie imaginiert und inkarniert, sie verleiblicht den Bildkörper. Indem sie wie die Haut zugleich reflektierend und abschließend, transparent und durchlässig ist, spiegelt sie die transzendente Kraft des Körpers. Die Darstellung wird zu Leib durch die Leiblichkeit der Farbe - das ist ihre Affinität zum Leib des Modells - und die "Leuchtkraft des Körpers wird zum emblematischen Feld der Intimität." 166
Die Aktgemälde stellen nicht nur Körper dar, Dargestelltes und Darstellung verbinden sich vielmehr zu einem Leib. Durch die Malweise, in der sich die Ganzheit von Empfindung und Formgebung ausdrückt, erreicht Modigliani, daß seine Bilder beides wiedergeben: das Fleisch und die Seele. "Alles beginnt mit der Haut, dem Fleisch, der Körperoberfläche, der Hülle der Seele. Ob der Körper nackt ist oder bekleidet, ob die Fläche dieser Haut schließlich von einer Haarsträhne, vom Ausschnitt eines Kleides oder durch einen rückwärtigen oder seitlichen Umriß begrenzt wird, macht kaum einen Unterschied. ... Der einzige Unterschied ist, ob der Maler die Grenze imaginärer Intimität, jenseits derer eine schwindelerregende Zärtlichkeit beginnt, überschritten hat oder nicht." 167 Jene Zärtlichkeit, die über die Erotik der Körper hinausreicht in die der Herzen, 168 die aus der Öffnung der Haut für den anderen rührt, jener Offenheit und Verletzlichkeit, die mit Schwäche nichts und mit der Bereitschaft zur Verschmelzung alles zu tun hat.
Die Textur der Haut bestimmt ihren Zeitcharakter. Mit Cézanne wird nach Gottfried Boehm 169 der Bildraum zu einem veränderlichen Phänomen. Der Teppich der 'taches' ist eine zeitbestimmte Textur. Nicht einen Augenblick hat der Maler dargestellt, sondern in der Textur der Haut wird die Dauer seines Blicks sichtbar und teilt sich dem Betrachter mit. Indem er die Haut innerhalb der Kontur in einen unbegrenzten Farbraum aufgelöst hat, wird sie für die Blickbahn des Betrachters veränderlich und unendlich; indem sein Blick eine unendliche Bahn durchläuft, die nicht an einem bestimmten Punkt beginnt oder endet, umfaßt er eine Zeit die dauert. Die Beweglichkeit und die Veränderlichkeit umfassen Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen. Die Bewegung der Blickbahn des Betrachters erzeugt die Gegenwärtigkeit von Darstellung und Dargestelltem. Nicht der fest umgrenzte Bild- oder Modellkörper erscheinen frontal vor dem Betrachter, sondern es treffen sich die Blicke von Bild und Betrachter im freien Raum zwischen Bildhaut und Betrachterleib. In diesem Raum ist die Frontalität aufgehoben, es ist der Raum der Kontinuität.

Die Bewegung in Richtung auf die Gegenwart des Betrachters erzeugen die knapp unter Lebensgröße liegende Dimension der Figur und die frontale Zuwendung des Gesichts und der Hüfte zum Betrachterraum. Die Bewegung liegt im Blick der Figur, der mit dem Hintergrund und ihrem Leib verwoben und auf den Betrachter gerichtet ist. Der Blick verbindet die Figur mit der Bildfläche und dem Betrachterraum gleichermaßen. Der Blick verdeutlicht aber nur den eigentlichen Blick der Haut, die sich als Farbraum und als Reflexion auf den Betrachter zubewegt, sie verbindet das Fleisch von Welt, Maler und Betrachter. Diese Bewegung ermöglicht den Einblick in die Kontinuität. Zugleich bewahrt die Form, die Kontur, den Betrachter davor, in der unendlichen Bewegung aufzugehen. 170 Darin liegt das in der Dauer des Blicks 171 dauernde Gleichgewicht zwischen Form und dem, was die Form umgrenzt: die Beweglichkeit und Veränderlichkeit des Fleisches. Im Wechselspiel zwischen Sukzession und Simultaneität umfaßt die Bewegung des Blicks Grenze und Unendlichkeit.

Modiglianis Figur ist "anwesend. Sie (ist) zurückgerufen worden, und sie (wartet). Sie (wartet) mit solcher Geduld, mit solcher Hingabe und voller Verzicht, und worauf sie (verzichtet), das ist die Zeit. ... Sie (ist) da für den Augenblick, wenn alles gesagt und getan sein wird. Und diese Distanz, die nicht eine Frage der Überlegenheit, sondern der Spannweite ist ..., bedeutet, daß ihre Anwesenheit die Qualität der Abwesenheit enthält." 172 Sie ist abwesend von der gerichteten Zeit, der linearen Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aus der sie durch die transzendente Kraft der Dauer herausgehoben ist. "Das alles ist nur der erste Schritt. Beim zweiten - sobald sie nämlich in das Bewußtsein des Betrachters (eindringt), und darauf (wartet) sie ja - (wird) sie gegenwärtiger als die unmittelbar Anwesenden." 173
Sie wartet in der ihr eigenen Gegenwärtigkeit, mit Kracauers Wort in einem "zögernden Geöffnetsein" 174 - sichtbar in der Textur der Haut, die sowohl Oberfläche wie Öffnung ist - auf das Erscheinen jener Gegenwärtigkeit, die in ihr angelegt ist und die sich im Eindringen in die Gegenwärtigkeit des anderen, in seinen Blick und sein Bewußtsein, vollendet. Wenn der gegenwärtige visuelle Eindruck mit dem leiblichen Erinnerungsvermögen des Betrachters und seinem Bewußtsein zu einer Einheit sich fügen, greift jene Dauer, die in einer Spanne Gegenwärtiges wie Vergangenes umfaßt und zu unerwartet Zukünftigem formt. Die Spannweite der Dauer ist angelegt in der Dauer des Blicks, der des Malers, die in das Bild einging auf der einen und der des Betrachters während seiner lebendigen Zuwendung auf der anderen Seite.
Worauf sie wartet, ist die Beziehung zum Absoluten zu erlangen, auf den Eintritt in das transzendente Sein der Kontinuität. Der Einbruch des Absoluten kann erst dann erfolgen, wenn das Gesamtwesen - Auge, Leib und Bewußtsein - die Beziehung eingeht. Dies alles ist nicht ein linearer Weg. "Muß noch hinzugefügt werden, daß das Sichbereiten nur Vorbereitung des Nicht-erzwingbaren: der Wandlung und der Hingabe ist? An welchem Punkte die Wandlung nun eintritt und ob sie überhaupt eintritt, das steht nicht in Frage und darf auch die Sich-Mühenden nicht kümmern." 175 Das geöffnete Warten ist kein passives Ausharren, es ist die Vorbereitung für das mögliche Eindringen des Betrachters, die in der Bewegung auf den Betrachter zu und der Öffnung für seinen Blick liegt.
Ans Ende stelle ich die Interpretation John Bergers: Auf dem Spiel steht die uralte Begegnung des Endlichen mit dem Unendlichen, die nur im menschlichen Herzen und Bewußtsein stattfindet. "Ein geliebter Mensch ist endlich. Die ausgelösten Gefühle werden als unendlich empfunden. Dem Gesetz der Entropie läßt sich nur der Glaube an die Liebe entgegensetzen." 176 Ein geliebter Mensch ist als Individuum einzigartig, klar umrissen, für sich. "Die endliche Kontur ist der Beweis für ihr Gegenteil, die Unendlichkeit des Gefühls, hervorgerufen durch das, was die Kontur umschließt. ... Das Unendliche in Modiglianis Malerei läßt ... den Raum hinter sich und tritt in den Bereich der Zeit ein, um sie zu überwinden." 177


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158 Rainer Maria Rilke, Archaischer Torso Apolls. In: Gedichte, Stuttgart, 1989, S. 35.

159 Berger, 1992, Modiglianis Alphabet der Liebe, S. 66.

160 Baudelaire beschreibt das Prinzip des Ideals in der Harmonie des je individuellen Körpers. "Eine solche Hand verlangt einen solchen Fuß; jede Epidermis erzeugt ihr Haar. Jedes Individuum hat folglich sein Ideal. ... in der Seele des Malers gibt es ebenso viele Ideale wie Individuen, da das Modell sich im Portrait um den Künstler bereichert findet" (Baudelaire, 1990, Vom Ideal und vom Modell, S. 61).

161 Berger, 1992, S. 66.

162 Berger, 1992, S. 66.

163 Merleau-Ponty beschreibt 'Welt' als 'universelles Fleisch'. Siehe Kap. III.2.1. dieser Arbeit.

164 Berger, 1992, S. 73.

165 Berger, 1992, S. 72.

166 Berger, 1992, S. 66.

167 Berger, 1992, S. 73.

168 Siehe Kap. III.1. dieser Arbeit.

169 Vgl. Boehm, 1986, S. 293.

170 Mit Bataille geht es darum, in die Diskontinuität des vereinzelten Seins so viel Kontinuität einzulassen, wie das auf Diskontinuität gegründete Sein ertragen kann. Siehe Kap. III.1.1. dieser Arbeit.

171 Siehe Kap. III.4. dieser Arbeit.

172 Berger, 1992, S. 70.

173 Berger, 1992, S. 70.

174 Kracauer, 1977, Die Wartenden, S. 116.

175 Kracauer, 1977, S. 118 f.

176 Berger, 1992, S. 73.

177 Berger, 1992, S. 73.


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