IV.4. Modigliani: Die Form der Liebe
denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.
Du mußt dein Leben ändern.
Rainer Maria Rilke 158
Modigliani (Abb.8)bewegt
sich in der Reihe traditioneller Aktdarstellungen und bleibt
doch solitär. Tradition und eine mit Cézanne verwandte
Sehweise verbindet er zu einem Ganzen, das seinem sehr privaten
(nicht im Sinne von Privatleben) und keiner Strömung der
Moderne explizit zurechenbaren Suchen entspringt. Vielmehr sprechen
Modiglianis Bilder von einer Form der Transzendenz, die mehr
mit der Überzeitlichkeit weiter zurückliegender Epochen
verwandt ist, als mit der vergänglichen Zeitkategorie die
in seiner eigenen Epoche dominiert. "Die Körper, die
Modigliani malte, sind transzendenter als die von Tizian oder
Rubens. Sie haben vielleicht eine gewisse Affinität zu den
Figuren Botticellis, aber Botticellis Kunst war gesellschaftlich,
sein Symbolismus und seine Mythen gehörten der Öffentlichkeit,
während die Modiglianis einsam und privat sind." 159 Im Blick auf die seinen Bildern innewohnende
Transzendenz ist Modigliani weniger ein 'Moderner' denn ein -
allerdings subjektiver - 'Grieche', nicht durch den Rückgriff
auf Formensprachen (Modiglianis Körper nähern sich
durchaus 'klassischer' Proportionierung), sondern - im Gegensatz
zu Manet - durch den inhaltlichen Impuls, der sich in seinen
Bildern ausdrückt.
Modigliani führt die Eingebung der Form mit dem sinnlichen,
'impressionistischen', Eindruck zusammen. Weder sind seine Formen
auf ein ideales System zurückzuführen, sondern entspringen
selbst der Anschauung und folgen der dem Modell eigenen, je spezifischen
Formensprache, 160 noch gibt der Farbauftrag
nur den Blick auf das Gegebene wieder, sondern er ist auch sinnbildlich
und bildet selbst ein Farbsystem, das auf die Geschlossenheit
des Bildkörpers zielt.
Die Form tritt während des Zeichnens allererst zutage.
Sie entspringt der Leiblichkeit des Malers, der des Modells und
den kommunikativen Korrespondenzen zwischen ihnen. Modigliani
geht von der Vereinfachung des sinnlichen Eindrucks aus, die
sich laut John Berger im Prozeß des Malens durch die lebendige
Form komplizierte. Daraus entsteht die Dialektik von Vereinfachung
und Komplexität, und was "unsere Augen wahrnehmen,
schwingt unaufhörlich wie ein Pendel zwischen diesen beiden
Polen." 161 Die Wahrnehmung von Komplexität
oder Vereinfachung ist abhängig vom Betrachterstandpunkt.
Die Komplexität nimmt zu mit der Annäherung des Malers
an sein Modell und mit der Verringerung des Abstands zwischen
Bild und Betrachter, den das Bild fordert. Aus der Entfernung
werden die Formen zu Zeichen, die einen Arm, eine Brust oder
eine Hüfte meinen. Im Zeichen zeigt sich die Existenz des
dargestellten Körpers.
Die Kurven sind immer zweidimensional und dreidimensional zugleich,
sie beschreiben zugleich Plastizität und bilden eine Form
in der Fläche. Die Figur ist zugleich Silhouette und das
Gegenteil einer Silhouette: körperhafte Substanz und zweidimensionales
Zeichen. John Berger beschreibt die doppelte Funktion der Kurve
als 'Buchstabe' und 'Fleisch', die zusammen den 'Namen' des Dargestellten
bilden; der Name ist Begriff und physische Gegenwart zugleich.
Die Kontur gehört Fleisch und Bewußtsein, Kontinuität
- indem sie sie ermöglicht - und Diskontinuität - indem
sie dem Maßlosen eine sichtbare Form verleiht - gleichermaßen
an. Modigliani "suchte einen erfundenen Buchstaben, ein
Monogramm, eine Form, die der vergänglichen lebendigen Gestalt,
die er anschaute, Dauer verleihen würde." 162
Die Kontur ermöglicht die richtungslose Bewegtheit und Veränderlichkeit
des Fleisches und verbindet zugleich den Körper mit dem
Umfeld, aus dem er nicht ausgeschnitten ist, dem er und der ihm
angehört. In diesem Sinne ist die Kontur keine der Figur
zugehörige Linie, sondern sie ist zwischen den Farbräumen,
die sie umgrenzt und deren Sein in der Fläche sie ermöglicht;
sie ist zwischen Fleisch und Welt, die gewissermaßen dasselbe
sind. 163 "Alles beginnt mit der Haut
und mit dem, was sie konturiert. Und alles vollendet sich auch
eben da. Entlang dieser Kontur bewegt sich Modiglianis Kunst."
164
Modiglianis 'Liegender Frauenakt auf weißem Kissen' spricht
von Liebe in einem nicht ausdrücklich sexuellen Sinne. Daß
der Darstellung nichts Sentimentales oder Pornographisches anhaftet,
bewirkt Modigliani dadurch, daß er "die strukturelle
Gesetzmäßigkeit, die 'Gestalt' zu finden und offenzulegen
(vermag), durch die es der Liebe gelingt, ein Geliebtes sichtbar
zu machen." 165 Modigliani stellt nicht
die offenkundigen Zeichen der Liebe dar, eine Geste oder ein
Lächeln, sondern er konzentriert das Bild zu Form und Fleisch,
Emblem und Existenz gleichermaßen.
Die einzigartige Kontur bezeichnet das Sein nicht nur des dargestellten
Leibes, sondern zugleich des Bildes. Auch das Bild ist weder
nur Individuum noch nur Fleisch. Wie im menschlichen Körper
der transzendierende Vollzug stattfindet, durch den ein sexueller
Sinn eine umfassendere Bedeutung erlangt, so erlangt der Bildkörper
über die Zusammenführung von individueller Kontur und
dem Fleisch des Materials, von Emblem und Existenz, eine Bedeutung,
die das visuelle Phänomen einerseits und die Grenzen des
Bewußtseins andererseits überschreitet, indem Wahrnehmung
und Bewußtsein eine bislang nicht gekannte Verknüpfung
eingehen. Darin liegt die dem Bild innewohnende Transzendenz.
Auch die Farbe drückt das Gegenwärtige, das Berührbare,
die räumliche Ausdehnung aus und ist auch sinnbildlich.
Sie ist selbst Körper und meint einen Körper. Die zusammengefügten
Farbflächen und die unendliche Auflösung innerhalb
der Farbfelder entsprechen der Einheit des Körpers. Im Unterschied
zu Manet enthüllt sich das Gemalte, auch aus nächster
Nähe betrachtet, nicht als Illusion, es zerfällt nicht
in Einzelteile und Pinselstriche. Die Farbe stellt nicht vor,
anderes zu sein, als sie ist: Material und Träger von Licht.
In der Farbe als der Haut des Bildes zeigt sich die der menschlichen
Haut entsprechende Verbindung von Innen und Außen: sie
ist einerseits feste, nach außen begrenzte, das Licht reflektierende
Oberfläche, andererseits öffnet sie sich als Farbraum
und läßt den Blick ein in etwas, das nicht mehr Oberfläche
ist, sondern Öffnung und das unabhängig vom Träger
der Leinwand zu sein scheint (scheint, denn die Kontur bindet
den farbigen Raum zurück in die Fläche, die die Bedingung
seiner Existenz ist). Die Farbe illusioniert nicht einen Körper,
sie imaginiert und inkarniert, sie verleiblicht den Bildkörper.
Indem sie wie die Haut zugleich reflektierend und abschließend,
transparent und durchlässig ist, spiegelt sie die transzendente
Kraft des Körpers. Die Darstellung wird zu Leib durch die
Leiblichkeit der Farbe - das ist ihre Affinität zum Leib
des Modells - und die "Leuchtkraft des Körpers wird
zum emblematischen Feld der Intimität." 166
Die Aktgemälde stellen nicht nur Körper dar, Dargestelltes
und Darstellung verbinden sich vielmehr zu einem Leib. Durch
die Malweise, in der sich die Ganzheit von Empfindung und Formgebung
ausdrückt, erreicht Modigliani, daß seine Bilder beides
wiedergeben: das Fleisch und die Seele. "Alles beginnt mit
der Haut, dem Fleisch, der Körperoberfläche, der Hülle
der Seele. Ob der Körper nackt ist oder bekleidet, ob die
Fläche dieser Haut schließlich von einer Haarsträhne,
vom Ausschnitt eines Kleides oder durch einen rückwärtigen
oder seitlichen Umriß begrenzt wird, macht kaum einen Unterschied.
... Der einzige Unterschied ist, ob der Maler die Grenze imaginärer
Intimität, jenseits derer eine schwindelerregende Zärtlichkeit
beginnt, überschritten hat oder nicht." 167
Jene Zärtlichkeit, die über die Erotik der Körper
hinausreicht in die der Herzen, 168 die aus
der Öffnung der Haut für den anderen rührt, jener
Offenheit und Verletzlichkeit, die mit Schwäche nichts und
mit der Bereitschaft zur Verschmelzung alles zu tun hat.
Die Textur der Haut bestimmt ihren Zeitcharakter. Mit Cézanne
wird nach Gottfried Boehm 169 der Bildraum
zu einem veränderlichen Phänomen. Der Teppich der 'taches'
ist eine zeitbestimmte Textur. Nicht einen Augenblick hat der
Maler dargestellt, sondern in der Textur der Haut wird die Dauer
seines Blicks sichtbar und teilt sich dem Betrachter mit. Indem
er die Haut innerhalb der Kontur in einen unbegrenzten Farbraum
aufgelöst hat, wird sie für die Blickbahn des Betrachters
veränderlich und unendlich; indem sein Blick eine unendliche
Bahn durchläuft, die nicht an einem bestimmten Punkt beginnt
oder endet, umfaßt er eine Zeit die dauert. Die Beweglichkeit
und die Veränderlichkeit umfassen Vergangenheit und Zukunft
gleichermaßen. Die Bewegung der Blickbahn des Betrachters
erzeugt die Gegenwärtigkeit von Darstellung und Dargestelltem.
Nicht der fest umgrenzte Bild- oder Modellkörper erscheinen
frontal vor dem Betrachter, sondern es treffen sich die Blicke
von Bild und Betrachter im freien Raum zwischen Bildhaut und
Betrachterleib. In diesem Raum ist die Frontalität aufgehoben,
es ist der Raum der Kontinuität.
Die Bewegung in Richtung auf die Gegenwart des Betrachters
erzeugen die knapp unter Lebensgröße liegende Dimension
der Figur und die frontale Zuwendung des Gesichts und der Hüfte
zum Betrachterraum. Die Bewegung liegt im Blick der Figur, der
mit dem Hintergrund und ihrem Leib verwoben und auf den Betrachter
gerichtet ist. Der Blick verbindet die Figur mit der Bildfläche
und dem Betrachterraum gleichermaßen. Der Blick verdeutlicht
aber nur den eigentlichen Blick der Haut, die sich als Farbraum
und als Reflexion auf den Betrachter zubewegt, sie verbindet
das Fleisch von Welt, Maler und Betrachter. Diese Bewegung ermöglicht
den Einblick in die Kontinuität. Zugleich bewahrt die Form,
die Kontur, den Betrachter davor, in der unendlichen Bewegung
aufzugehen. 170 Darin liegt das in der Dauer
des Blicks 171 dauernde Gleichgewicht zwischen
Form und dem, was die Form umgrenzt: die Beweglichkeit und Veränderlichkeit
des Fleisches. Im Wechselspiel zwischen Sukzession und Simultaneität
umfaßt die Bewegung des Blicks Grenze und Unendlichkeit.
Modiglianis Figur ist "anwesend. Sie (ist) zurückgerufen
worden, und sie (wartet). Sie (wartet) mit solcher Geduld, mit
solcher Hingabe und voller Verzicht, und worauf sie (verzichtet),
das ist die Zeit. ... Sie (ist) da für den Augenblick, wenn
alles gesagt und getan sein wird. Und diese Distanz, die nicht
eine Frage der Überlegenheit, sondern der Spannweite ist
..., bedeutet, daß ihre Anwesenheit die Qualität der
Abwesenheit enthält." 172 Sie ist
abwesend von der gerichteten Zeit, der linearen Abfolge von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft, aus der sie durch die transzendente Kraft
der Dauer herausgehoben ist. "Das alles ist nur der erste
Schritt. Beim zweiten - sobald sie nämlich in das Bewußtsein
des Betrachters (eindringt), und darauf (wartet) sie ja - (wird)
sie gegenwärtiger als die unmittelbar Anwesenden."
173
Sie wartet in der ihr eigenen Gegenwärtigkeit, mit Kracauers
Wort in einem "zögernden Geöffnetsein" 174 - sichtbar in der Textur der Haut, die sowohl
Oberfläche wie Öffnung ist - auf das Erscheinen jener
Gegenwärtigkeit, die in ihr angelegt ist und die sich im
Eindringen in die Gegenwärtigkeit des anderen, in seinen
Blick und sein Bewußtsein, vollendet. Wenn der gegenwärtige
visuelle Eindruck mit dem leiblichen Erinnerungsvermögen
des Betrachters und seinem Bewußtsein zu einer Einheit
sich fügen, greift jene Dauer, die in einer Spanne Gegenwärtiges
wie Vergangenes umfaßt und zu unerwartet Zukünftigem
formt. Die Spannweite der Dauer ist angelegt in der Dauer des
Blicks, der des Malers, die in das Bild einging auf der einen
und der des Betrachters während seiner lebendigen Zuwendung
auf der anderen Seite.
Worauf sie wartet, ist die Beziehung zum Absoluten zu erlangen,
auf den Eintritt in das transzendente Sein der Kontinuität.
Der Einbruch des Absoluten kann erst dann erfolgen, wenn das
Gesamtwesen - Auge, Leib und Bewußtsein - die Beziehung
eingeht. Dies alles ist nicht ein linearer Weg. "Muß
noch hinzugefügt werden, daß das Sichbereiten nur
Vorbereitung des Nicht-erzwingbaren: der Wandlung und der Hingabe
ist? An welchem Punkte die Wandlung nun eintritt und ob sie überhaupt
eintritt, das steht nicht in Frage und darf auch die Sich-Mühenden
nicht kümmern." 175 Das geöffnete
Warten ist kein passives Ausharren, es ist die Vorbereitung für
das mögliche Eindringen des Betrachters, die in der Bewegung
auf den Betrachter zu und der Öffnung für seinen Blick
liegt.
Ans Ende stelle ich die Interpretation John Bergers: Auf dem
Spiel steht die uralte Begegnung des Endlichen mit dem Unendlichen,
die nur im menschlichen Herzen und Bewußtsein stattfindet.
"Ein geliebter Mensch ist endlich. Die ausgelösten
Gefühle werden als unendlich empfunden. Dem Gesetz der Entropie
läßt sich nur der Glaube an die Liebe entgegensetzen."
176 Ein geliebter Mensch ist als Individuum
einzigartig, klar umrissen, für sich. "Die endliche
Kontur ist der Beweis für ihr Gegenteil, die Unendlichkeit
des Gefühls, hervorgerufen durch das, was die Kontur umschließt.
... Das Unendliche in Modiglianis Malerei läßt ...
den Raum hinter sich und tritt in den Bereich der Zeit ein, um
sie zu überwinden." 177