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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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V. S c h l u ß w o r t

 

Es gibt so wenig eine Übersteigung der Geschlechtlichkeit, wie es eine in sich verschlossene Geschlechtlichkeit gibt. Keiner ist je gerettet, und keiner ist je ganz verloren.

Maurice Merleau-Ponty 178

 

Wie eingangs bereits angedeutet, bestätigte sich im Verlauf der Untersuchung, daß keines der Bilder mit der Theorie in einen derartigen Zusammenhang gebracht werden kann, daß es sich daraus vollständig erklärte. Wohl aber war eine Form der Annäherung möglich, die die Ergebnisse der Anschauung verdeutlichte und in übergreifende Zusammenhänge stellte. Als Annäherung möge auch der abschließende Vergleich der Formen von Erotik und Zeit und dem Bezug zwischen Bild und Betrachter verstanden werden (Die Bezugspunkte lassen sich nicht völlig getrennt behandeln, da sie miteinander verknüpft sind. Deshalb die eine oder andere Überschneidung).

Keines der Bilder negiert den Bezug des dargestellten nackten Leibes zur transzendenten Kraft der Erotik völlig, aber Gewichtung und Zugehörigkeit der Erotik zu profanem oder transzendentem Sein sind deutlich verschieden.
Die Reihe der Bilder beginnt mit jener erotischen Kraft, die in das transzendente Sein der Überzeitlichkeit eingebunden ist und, darüber gerechtfertigt, von dort Verbindung aufzunehmen vermag zum profanen Sein des Menschen. In Giorgiones Bild ist die Erotik in Form eines Symbols versinnbildlicht. Leibliche Sexualität wird zum Sinnbild des schöpferischen Aktes der Natur, aus der der Mensch hervorgeht und an der er teilhat über den ihm möglichen Einblick.
Der erotische Aspekt bei Ingres ist zwar nicht ohne transzendente Kraft, bleibt aber in das empirische Netz der Dinge eingebunden. Der an den Betrachter gerichtete erotische Impuls ist einerseits direkt - über das Motiv und die frontale Zuwendung des Blicks - andererseits ist er innerhalb einer idealen Welt dargestellt und steht so außerhalb der geschichtlichen Realität des Betrachters. Der nostalgische Bezugspunkt rechtfertigt die leibliche Erotik.
Die Erotik Manets gehört der Positivität, der Erotik der Körper, allein an und jeder Weg zu transzendentem Sein ist ihr verschlossen. Für die 'Olympia' existiert nur die leibliche Erotik, die die Partner getrennt bleiben läßt. Als Abwesenheit ist die andere Kraft dennoch anwesend in ihrem Blick, der ihr Inneres schaut.
Die Reihe endet mit jener Erotik, die aus dem profanen Sein und in der Dauer des Wartens den Sprung tut in das transzendente Sein, das im leiblichen Sein selbst beheimatet ist. Modigliani überführt das innere Sein in die äußere Erscheinung. Die Sehnsucht der Seele nach der Verschmelzung mit der anderen wird im leiblichen Sein sichtbar und teilt sich mit. Daß die existentielle Mitteilung des Bildes sich vom Schrei unterscheidet, bewirkt die individuelle Form, die einfaßt, ermöglicht und bewahrt.

Der Bezug zwischen Bild und Betrachter ist bei Giorgione der des Subjekts, das vor einer vollkommenen Bildwelt steht. Der zweifache Charakter von Kissen und Faltenwurf relativiert die Trennung von Bild- und Betrachterwelt. Über die doppelte Zugehörigkeit der Nymphe zu transzendentem und profanem Sein hat der Betrachter teil am Schöpfungsakt der Natur. Giorgiones Bild illustriert trotz des literarischen Ursprungs, trotz des Antikenbezugs und trotz des im Humanismus enthaltenen Platonismus nicht allein eine sprachlich faßbare Idee oder einen epischen Sachverhalt, es bleibt in der Welt der Sinnlichkeit. Durch die in der Komposition angelegte Blickführung setzt das Bild einen sinnlich gegründeten Erkenntnisprozeß in Gang, der sich nur im teilnehmenden Auge des Betrachters vollenden kann.
Ingres bindet den Betrachter über den Bewegungsimpuls der Figur, der sowohl innerhalb des angedeuteten Bildraums liegt als auch aus ihm heraus weist, und den direkten Blick in das Bildgeschehen ein. Über den Blick des Betrachters stehen Bild und Betrachter in einem wechselseitigen Verhältnis, in dem sich die geschichtliche Realität des Betrachters und das ideale Sein des Bildes durchdringen, aber nicht ineinander eingehen. Ingres 'Odaliske' befindet sich in einem Zwischenreich zwischen Gegenwartsflucht (durch die Idealisierung und den Aspekt des Orientalismus) und Gegenwärtigkeit im Bezug auf die Realität des Betrachters.
Manet stellt - absoluter als Giorgione - eine unzugängliche Bildwelt vor den Betrachter. Der vermeintlich direkte Zugang bleibt eine Illusion, indem das Gemalte sich als Gemaltes allein zeigt. Als zwei in sich verschlossene Subjekte stehen Bild und Betrachter sich gegenüber, und nur über die Darstellung ihrer individuellen Geschichte kann der Betrachter von außen das Sein der ihm fremd bleibenden 'Olympia' betrachten.
Keines der Bilder ist so abhängig vom teilnehmenden Blick des Betrachters wie Modiglianis. Allererst im langsamen und geduldigen Abtasten der Haut zeigt sich sein Wesen, das - im Gegensatz zu Giorgione - über den epischen Gehalt nicht erfaßt werden kann, sondern banal bliebe. Modigliani verbindet Körper mit Körper. Indem Material und Realität, Auge und Hand des Malers in das Bild eingingen, vermag es zu einem Leib zu werden, der seine Korrespondenz zur Leiblichkeit des Betrachters mitzuteilen vermag seinem Blick und Leib, in dem Welt und Fleisch gekreuzt sind.

In einen überzeitlichen kosmischen Zusammenhang ist Giorgiones Akt eingebunden, an dem der Betrachter von außen teilzunehmen vermag. Gleich der Figur wird sein Blick vom Liniengefüge der Komposition geführt zum Horizont. Die Bewegung und die Zeit sind umfassend, alles Tun geschieht in der Zeit, die immer schon war. Die Zeit der Darstellung bezeichnet eine transzendente Unendlichkeit, in der das Dargestellte ist, das in der Form des Ideals selbst dem überzeitlichen Bereich angehört.
Die Bewegung von Giorgiones Figur war in der Hauptsache passiv. Nur verhalten schwingt die Drehbewegung des Körpers. Dagegen ist die Drehung der 'Odaliske' von Frontal- zu Rückenansicht wesentlich ausgeprägter und aktiv. Die dauernde Bewegung der 'Odaliske' konstituiert eine Zeit vom Subjekt aus. Der entgegen steht die Zeit des Netzes der Dinge und des Augenblicks der Begegnung, der im Zusammentreffen von Bild und Betrachter konstituiert wird, und die dem in die lineare Zeit eingebundenen Jetzt-Punkt vergleichbar ist. Äußere, schon konstituierte, und innere, vom Subjekt konstituierte Zeit treffen aufeinander.
Während die 'Odaliske' sich bewegt, ist die 'Olympia', zur Unbeweglichkeit verurteilt, in die Umgebung eingefügt. Manets 'Olympia' ist in empirischer Gegenwart befangen, die im Traum - der Blick - nur überschritten werden kann. Anders die Zeit der Darstellung: Der festgehaltene Augenblick wird im Kunstwerk in eine Dauer überführt, die vorspiegelt, der festgehaltene Augenblick könne den Wandel der Zeit aufhalten.
Modiglianis Akt ist von einer dauernden Präsenz, die selbst wieder kosmisch wird. Die Zeit ist nicht umfassend, sondern Bild- und Betrachtersubjekt konstituieren und sind in der Dauer der Begegnung, die eine unaufhörliche Bewegung ist, die Zeit. Und dies deshalb, weil die Zeit des Dargestellten mit der Zeit der Darstellung übereinstimmt, weil sie dasselbe sind. Diese Einheit der Zeiten nimmt das teilnehmende Auge wahr, das allein sie in Gang setzen kann.

Die - wenngleich historische - Reihe der Bilder beschreibt keine lineare Entwicklung von Transzendenz zu Profanität. Vielmehr zeigt sich eine wechselnde Hin- und Abwendung zur transzendenten Kraft des Bildwerks. So sind Modigliani und Giorgione verwandter, als es der historische Abstand vermuten ließe, während Ingres und Manet trotz der zeitlichen Nähe und unabhängig von der Verschiedenheit der Ausformung weiter voneinander entfernt sind. Keines der Bilder kann nur der einen oder anderen Seite zugeordnet werden; durch die Wahl des Gegenstands und die dadurch geweckten Assoziationen im Betrachter sind immer beide Kräfte - wenn auch im Falle Manets nur latent bzw. als Anwesenheit der Abwesenheit - enthalten.
Bei Giorgione ist das religiöse, transzendente Sein dem profanen Sein übergeordnet. Das transzendente Sein ist göttlicher Herkunft und kann nicht vom Menschen erschaffen werden, er vermag allerhöchst in passiver Form daran teilzunehmen.
Für Ingres ist die Selbstverständlichkeit der übergeordneten transzendenten Welt verlorengegangen. Jenseits der empirischen Realität der Dinge versucht er die Kontinuität in der menschlichen Bewegung wiederzufinden, im Mantel der 'ursprünglichen' Kultur des Orients. In der Ausformung und Durcharbeitung der verschiedenen Systeme ist Ingres gleichsam ein 'Postmoderner', doch mit dem grundlegenden Unterschied des auf Transzendenz gerichteten Antriebs. Der Widerspruch zur positivistischen Welt treibt ihn an und nicht die Beliebigkeit der zur Verfügung stehenden Mittel.
Manets Mensch ist selbständig und in der Welt der Empirie. Die Abgeschlossenheit der Dinge erinnert an autopoietische Systeme, in denen die Beteiligten in nur äußerem Kontakt zu stehen vermögen und die Art und Weise der Begegnung vom Subjekt bestimmt und nicht überschritten werden kann. Die Selbständigkeit des Renaissancemenschen wird bei Manet durch das Fehlen der übergeordneten transzendenten Welt der Religion absolut.
Kann Giorgiones Erzählhaltung als episch bezeichnet werden, so ist die Modiglianis poetisch. Der Körper allein erzählt von seinem Sein, das sich - nicht wie bei Giorgione zuletzt nur in der überzeitlichen Sphäre des Ewigen - in der vergänglichen und trotzdem unendlichen Verbindung zum Betrachter erfüllt. Bei Modigliani geht im größten Gegensatz zu Manet die Transzendenz aus von der profanen Welt, sie kann sogar nur daraus entstehen, da ja auch ihm die übergeordnete Transzendenz verlorenging. Während Manet z.B. Licht malt, wird es von Modigliani mittels der Malweise erzeugt. In Umkehrung der abendländischen Tradition ist bei Modigliani der Mensch selbst Schöpfer des transzendenten Seins. In diesem Sinne ist er ein 'subjektiver Grieche'.
Mag der Versuch die vollkommenene Einheit von Bild und Betrachter herzustellen und damit - im Gegensatz zu Giorgione vom Endlichen und Beweglichen aus - den Schritt in transzendentes Sein zu vollziehen auch vergeblich sein, so ist der sichtbare und spürbare Versuch Modiglianis doch Ausdruck des Wunsches des Vergänglichen nach Unvergänglichkeit, des Wunsches, die Unvergänglichkeit, wenn wir auch selbst schon immer um unsere Vergänglichkeit wissen, in unser endliches Sein einzulassen um uns - vielleicht - mit der Veränderlichkeit und Vergänglichkeit zu versöhnen.


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178 Merleau-Ponty, 1966, S. 204.


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