V. S c h l u ß w o r t
Es gibt so wenig eine Übersteigung der
Geschlechtlichkeit, wie es eine in sich verschlossene Geschlechtlichkeit
gibt. Keiner ist je gerettet, und keiner ist je ganz verloren.
Maurice Merleau-Ponty 178
Wie eingangs bereits angedeutet, bestätigte sich im Verlauf
der Untersuchung, daß keines der Bilder mit der Theorie
in einen derartigen Zusammenhang gebracht werden kann, daß
es sich daraus vollständig erklärte. Wohl aber war
eine Form der Annäherung möglich, die die Ergebnisse
der Anschauung verdeutlichte und in übergreifende Zusammenhänge
stellte. Als Annäherung möge auch der abschließende
Vergleich der Formen von Erotik und Zeit und dem Bezug zwischen
Bild und Betrachter verstanden werden (Die Bezugspunkte lassen
sich nicht völlig getrennt behandeln, da sie miteinander
verknüpft sind. Deshalb die eine oder andere Überschneidung).
Keines der Bilder negiert den Bezug des dargestellten nackten
Leibes zur transzendenten Kraft der Erotik völlig, aber
Gewichtung und Zugehörigkeit der Erotik zu profanem oder
transzendentem Sein sind deutlich verschieden.
Die Reihe der Bilder beginnt mit jener erotischen Kraft, die
in das transzendente Sein der Überzeitlichkeit eingebunden
ist und, darüber gerechtfertigt, von dort Verbindung aufzunehmen
vermag zum profanen Sein des Menschen. In Giorgiones Bild ist
die Erotik in Form eines Symbols versinnbildlicht. Leibliche
Sexualität wird zum Sinnbild des schöpferischen Aktes
der Natur, aus der der Mensch hervorgeht und an der er teilhat
über den ihm möglichen Einblick.
Der erotische Aspekt bei Ingres ist zwar nicht ohne transzendente
Kraft, bleibt aber in das empirische Netz der Dinge eingebunden.
Der an den Betrachter gerichtete erotische Impuls ist einerseits
direkt - über das Motiv und die frontale Zuwendung des Blicks
- andererseits ist er innerhalb einer idealen Welt dargestellt
und steht so außerhalb der geschichtlichen Realität
des Betrachters. Der nostalgische Bezugspunkt rechtfertigt die
leibliche Erotik.
Die Erotik Manets gehört der Positivität, der Erotik
der Körper, allein an und jeder Weg zu transzendentem Sein
ist ihr verschlossen. Für die 'Olympia' existiert nur die
leibliche Erotik, die die Partner getrennt bleiben läßt.
Als Abwesenheit ist die andere Kraft dennoch anwesend in ihrem
Blick, der ihr Inneres schaut.
Die Reihe endet mit jener Erotik, die aus dem profanen Sein und
in der Dauer des Wartens den Sprung tut in das transzendente
Sein, das im leiblichen Sein selbst beheimatet ist. Modigliani
überführt das innere Sein in die äußere
Erscheinung. Die Sehnsucht der Seele nach der Verschmelzung mit
der anderen wird im leiblichen Sein sichtbar und teilt sich mit.
Daß die existentielle Mitteilung des Bildes sich vom Schrei
unterscheidet, bewirkt die individuelle Form, die einfaßt,
ermöglicht und bewahrt.
Der Bezug zwischen Bild und Betrachter ist bei Giorgione der
des Subjekts, das vor einer vollkommenen Bildwelt steht. Der
zweifache Charakter von Kissen und Faltenwurf relativiert die
Trennung von Bild- und Betrachterwelt. Über die doppelte
Zugehörigkeit der Nymphe zu transzendentem und profanem
Sein hat der Betrachter teil am Schöpfungsakt der Natur.
Giorgiones Bild illustriert trotz des literarischen Ursprungs,
trotz des Antikenbezugs und trotz des im Humanismus enthaltenen
Platonismus nicht allein eine sprachlich faßbare Idee oder
einen epischen Sachverhalt, es bleibt in der Welt der Sinnlichkeit.
Durch die in der Komposition angelegte Blickführung setzt
das Bild einen sinnlich gegründeten Erkenntnisprozeß
in Gang, der sich nur im teilnehmenden Auge des Betrachters vollenden
kann.
Ingres bindet den Betrachter über den Bewegungsimpuls der
Figur, der sowohl innerhalb des angedeuteten Bildraums liegt
als auch aus ihm heraus weist, und den direkten Blick in das
Bildgeschehen ein. Über den Blick des Betrachters stehen
Bild und Betrachter in einem wechselseitigen Verhältnis,
in dem sich die geschichtliche Realität des Betrachters
und das ideale Sein des Bildes durchdringen, aber nicht ineinander
eingehen. Ingres 'Odaliske' befindet sich in einem Zwischenreich
zwischen Gegenwartsflucht (durch die Idealisierung und den Aspekt
des Orientalismus) und Gegenwärtigkeit im Bezug auf die
Realität des Betrachters.
Manet stellt - absoluter als Giorgione - eine unzugängliche
Bildwelt vor den Betrachter. Der vermeintlich direkte Zugang
bleibt eine Illusion, indem das Gemalte sich als Gemaltes allein
zeigt. Als zwei in sich verschlossene Subjekte stehen Bild und
Betrachter sich gegenüber, und nur über die Darstellung
ihrer individuellen Geschichte kann der Betrachter von außen
das Sein der ihm fremd bleibenden 'Olympia' betrachten.
Keines der Bilder ist so abhängig vom teilnehmenden Blick
des Betrachters wie Modiglianis. Allererst im langsamen und geduldigen
Abtasten der Haut zeigt sich sein Wesen, das - im Gegensatz zu
Giorgione - über den epischen Gehalt nicht erfaßt
werden kann, sondern banal bliebe. Modigliani verbindet Körper
mit Körper. Indem Material und Realität, Auge und Hand
des Malers in das Bild eingingen, vermag es zu einem Leib zu
werden, der seine Korrespondenz zur Leiblichkeit des Betrachters
mitzuteilen vermag seinem Blick und Leib, in dem Welt und Fleisch
gekreuzt sind.
In einen überzeitlichen kosmischen Zusammenhang ist Giorgiones
Akt eingebunden, an dem der Betrachter von außen teilzunehmen
vermag. Gleich der Figur wird sein Blick vom Liniengefüge
der Komposition geführt zum Horizont. Die Bewegung und die
Zeit sind umfassend, alles Tun geschieht in der Zeit, die immer
schon war. Die Zeit der Darstellung bezeichnet eine transzendente
Unendlichkeit, in der das Dargestellte ist, das in der Form des
Ideals selbst dem überzeitlichen Bereich angehört.
Die Bewegung von Giorgiones Figur war in der Hauptsache passiv.
Nur verhalten schwingt die Drehbewegung des Körpers. Dagegen
ist die Drehung der 'Odaliske' von Frontal- zu Rückenansicht
wesentlich ausgeprägter und aktiv. Die dauernde Bewegung
der 'Odaliske' konstituiert eine Zeit vom Subjekt aus. Der entgegen
steht die Zeit des Netzes der Dinge und des Augenblicks der Begegnung,
der im Zusammentreffen von Bild und Betrachter konstituiert wird,
und die dem in die lineare Zeit eingebundenen Jetzt-Punkt vergleichbar
ist. Äußere, schon konstituierte, und innere, vom
Subjekt konstituierte Zeit treffen aufeinander.
Während die 'Odaliske' sich bewegt, ist die 'Olympia', zur
Unbeweglichkeit verurteilt, in die Umgebung eingefügt. Manets
'Olympia' ist in empirischer Gegenwart befangen, die im Traum
- der Blick - nur überschritten werden kann. Anders die
Zeit der Darstellung: Der festgehaltene Augenblick wird im Kunstwerk
in eine Dauer überführt, die vorspiegelt, der festgehaltene
Augenblick könne den Wandel der Zeit aufhalten.
Modiglianis Akt ist von einer dauernden Präsenz, die selbst
wieder kosmisch wird. Die Zeit ist nicht umfassend, sondern Bild-
und Betrachtersubjekt konstituieren und sind in der Dauer der
Begegnung, die eine unaufhörliche Bewegung ist, die Zeit.
Und dies deshalb, weil die Zeit des Dargestellten mit der Zeit
der Darstellung übereinstimmt, weil sie dasselbe sind. Diese
Einheit der Zeiten nimmt das teilnehmende Auge wahr, das allein
sie in Gang setzen kann.
Die - wenngleich historische - Reihe der Bilder beschreibt
keine lineare Entwicklung von Transzendenz zu Profanität.
Vielmehr zeigt sich eine wechselnde Hin- und Abwendung zur transzendenten
Kraft des Bildwerks. So sind Modigliani und Giorgione verwandter,
als es der historische Abstand vermuten ließe, während
Ingres und Manet trotz der zeitlichen Nähe und unabhängig
von der Verschiedenheit der Ausformung weiter voneinander entfernt
sind. Keines der Bilder kann nur der einen oder anderen Seite
zugeordnet werden; durch die Wahl des Gegenstands und die dadurch
geweckten Assoziationen im Betrachter sind immer beide Kräfte
- wenn auch im Falle Manets nur latent bzw. als Anwesenheit der
Abwesenheit - enthalten.
Bei Giorgione ist das religiöse, transzendente Sein dem
profanen Sein übergeordnet. Das transzendente Sein ist göttlicher
Herkunft und kann nicht vom Menschen erschaffen werden, er vermag
allerhöchst in passiver Form daran teilzunehmen.
Für Ingres ist die Selbstverständlichkeit der übergeordneten
transzendenten Welt verlorengegangen. Jenseits der empirischen
Realität der Dinge versucht er die Kontinuität in der
menschlichen Bewegung wiederzufinden, im Mantel der 'ursprünglichen'
Kultur des Orients. In der Ausformung und Durcharbeitung der
verschiedenen Systeme ist Ingres gleichsam ein 'Postmoderner',
doch mit dem grundlegenden Unterschied des auf Transzendenz gerichteten
Antriebs. Der Widerspruch zur positivistischen Welt treibt ihn
an und nicht die Beliebigkeit der zur Verfügung stehenden
Mittel.
Manets Mensch ist selbständig und in der Welt der Empirie.
Die Abgeschlossenheit der Dinge erinnert an autopoietische Systeme,
in denen die Beteiligten in nur äußerem Kontakt zu
stehen vermögen und die Art und Weise der Begegnung vom
Subjekt bestimmt und nicht überschritten werden kann. Die
Selbständigkeit des Renaissancemenschen wird bei Manet durch
das Fehlen der übergeordneten transzendenten Welt der Religion
absolut.
Kann Giorgiones Erzählhaltung als episch bezeichnet werden,
so ist die Modiglianis poetisch. Der Körper allein erzählt
von seinem Sein, das sich - nicht wie bei Giorgione zuletzt nur
in der überzeitlichen Sphäre des Ewigen - in der vergänglichen
und trotzdem unendlichen Verbindung zum Betrachter erfüllt.
Bei Modigliani geht im größten Gegensatz zu Manet
die Transzendenz aus von der profanen Welt, sie kann sogar nur
daraus entstehen, da ja auch ihm die übergeordnete Transzendenz
verlorenging. Während Manet z.B. Licht malt, wird es von
Modigliani mittels der Malweise erzeugt. In Umkehrung der abendländischen
Tradition ist bei Modigliani der Mensch selbst Schöpfer
des transzendenten Seins. In diesem Sinne ist er ein 'subjektiver
Grieche'.
Mag der Versuch die vollkommenene Einheit von Bild und Betrachter
herzustellen und damit - im Gegensatz zu Giorgione vom Endlichen
und Beweglichen aus - den Schritt in transzendentes Sein zu vollziehen
auch vergeblich sein, so ist der sichtbare und spürbare
Versuch Modiglianis doch Ausdruck des Wunsches des Vergänglichen
nach Unvergänglichkeit, des Wunsches, die Unvergänglichkeit,
wenn wir auch selbst schon immer um unsere Vergänglichkeit
wissen, in unser endliches Sein einzulassen um uns - vielleicht
- mit der Veränderlichkeit und Vergänglichkeit zu versöhnen.