IV.3. Manet: Die solitäre Schönheit
Ich weiß nicht, ich weiß nicht,
was das alles heißen soll, der Tag und die Nacht, die Erde
und der Himmel, die Rufe und die Beschwörungen. Und ich
kann sie ersehnen? Wer sagt denn, daß ich sie ersehne,
die Stimme sagt es, und daß es unmöglich sei, daß
ich etwas ersehne, das scheint sich zu widersprechen, ich für
mein Teil habe keine Meinung.
Samuel Beckett 144
Manets Geisteshaltung ist geprägt vom aus der Aufklärung
des 18. Jahrhunderts stammenden Rationalismus und dem Subjektivismus
des 19. Jahrhunderts. Daraus resultiert seine Selbstbeschränkung
auf die rein optischen Phänomene, auf den farbigen Schein
der Dinge, deren visuelles Sein keine ihnen auferlegte Bedeutung
übersteigt und die die 'Dinge an sich' sich selbst überläßt.
"Inbezug auf Lehren und Theorien glaubte der skeptische
und sehr freigeistige Pariser Manet nur an die schöne Malerei."
145 Das Sein der dargestellten Dinge beschränkt
sich auf ihre für die Komposition notwendige Trägerfunktion
146 für Farben, Flächen und Linien.
Manet knüpft mit der 'Olympia'
an die Tradition der Aktdarstellung unter den veränderten
Wahrnehmungsbedingungen des von der Industrialisierung geprägten
positivistischen 19. Jahrhunderts an. Das zunehmend vom Zeittakt
festgelegte Tempo des modernen Großstadtmenschen bestimmt
das Dasein und erzeugt ein neues Zeitverständnis in der
Kunst. Die Malweise Manets beruht auf diesem veränderten
Geist, der in der tradierten Malweise nicht mehr ausgedrückt
werden kann. Manet übernimmt aus der Tradition das Motiv
der Aktdarstellung, nicht aber jenen inhaltlichen Impuls, der
- in welcher Form auch immer - dem Wunsch nach idealisierender
Verewigung weiblicher Schönheit entsprang. Manets "Rebellion
gegenüber der Akademie war eine Rebellion der Form, und
nicht eine thematische. Er fand es notwendig, die Linie mehr
als Trennung denn als Umriß zu betrachten, das Helldunkel
auf das Allernotwendigste zu beschränken, den dreidimensionalen
Raum zu vernachlässigen." 147
Manet bejaht im Gegensatz zu den Impressionisten die fest
umrissene Figur. Die Linie grenzt die Dinge und Körper voneinander
ab und setzt sie als isolierte Elemente in einen flächigen
Behälter. Die Kontur ist zwar eine Übersetzung der
gegebenen Dinge in eine zweidimensionale Form und keine photographische
Wiedergabe, aber weder folgt sie einer idealen Vorgabe noch beschreibt
sie deren Räumlichkeit, sondern sie läßt sie
zum flächigen Farbträger werden, zur Oberfläche
des Bildes und nicht zu seiner Haut.
Die Oberfläche ist virtuell, indem die Farbe nicht zur Inkarnation
des Gegenstands im Bild wird, sondern indem sie nichts ist als
farbiger Schein, indem sie illusioniert. Die allein sichtbare
Oberfläche der Dinge ist die Grenze, hinter die kein Blick
zu fallen vermag. Das Innenleben der Dinge bleibt verborgen,
mehr noch, es ist dem Blick nicht zugänglich und also für
eine solipsistische Wahrnehmungsweise nicht existent. Jeder Einblick
bedeutete Einblick in jene metaphysische Kontinuität, die
Manets Geisteshaltung, die sich in seiner Malweise spiegelt,
negiert.
Die Oberfläche der Dinge zeigt ihr individuelles Sein.
Die 'Olympia' 148 ist das Porträt eines
Individuums, einer wirklichen Frau, deren Körper sich genau
dort befindet, wo man ihn zu finden erwartet. Die Nacktheit der
'Olympia' wird zur Entblößung, weil sie mit keiner
überindividuellen Bedeutung verhaftet ist. Sie steht für
sich selbst, in keinem Dienst als in dem ihres zur Schau gestellten
Körpers und der schönen Farbe. Die 'Olympia' verkörpert
eine rein physische Erotik; es ist die der Körper, die die
individuelle Diskontinuität bewahrt und dies, mit Bataille,
immer ein wenig im Sinne eines zynischen Egoismus.
Versinnbildlicht wird die Trennung des Individuums von der Ganzheit
des Seins durch das schmale schwarze Band um ihren Hals. "Ihr
Kopf ist leer: ein samtenes schwarzes Band trennt ihn vom Hauptteil
seines Wesens," 149 beschreibt Valéry
die Trennung von Körper und Seele. Zugleich trägt das
Halsband zu ihrer zeitlichen Determination bei. Die ihr beigegebenen
Accessoires - die große rosa Schleife im Haar, die Ohrclips,
das Armband und die Pantinen - weisen die 'Olympia' als Geschöpf
ihrer Zeit aus und bewahren sie davor, zu einer mythologischen
Venusgestalt zu werden.
Wenn überhaupt Manet an seinem Modell interessiert ist außerhalb
seiner Trägerfunktion für Formen und Farben, so an
seiner ausgeschnittenen Individualität und nicht an der
Bühne, auf der es agiert, nicht am umfassenden, die menschliche
Individualität übersteigenden, transzendenten Sein,
sondern am entsakralisierten Menschenleben und seiner Geschichte.
Der epische Aspekt Manets umfaßt die Alltagswirklichkeit,
jenen Aspekt, "der uns anhaftet, ohne daß wir bewußt
etwas dazu tun, und der ein Teil ist jener condition humaine,
in der wir leben und uns bewegen. Wir meinen damit unsere Größe
als kleine Menschen, die mit den tausend Nöten und Schwierigkeiten
unseres Daseins im Streite liegen; unsere Schwächen, unsere
Armseligkeiten und auch unsere vielfachen Feigheiten (in denen
doch auch etwas) Heroisches (steckt). Dieses Heldentum ist aber
weit entfernt von jedem rhetorischen Getue; es ist einfach ein
gelebtes, demütiges und müdes Heldentum, ... das wir
bis in die Lichtreflexe und Schatten ... hinein erkennen können."
150 In der Hinwendung zur Individualität
liegt der Bezug zum individuellen Sein des Betrachters. Schutzlos
wie er selbst liegt die Olympia vor ihm, getrennt vom dem sie
Umgebenden und gebunden an ihr diskontinuierliches Sein, ohne
den Trost des Glaubens an eine überindividuelle Transzendenz.
Zugleich bewahrt die Präsenz ihrer einzigartigen äußeren
Erscheinung die 'Olympia' vor dem zudringlichen, nach verborgenen
Bedeutungen heischenden Blick des Betrachters. Er wird eingefangen
von der blendenden Helligkeit, der Leuchtkraft der Farbe, der
Sinnlichkeit des Pinselstrichs, den klaren Formen, über
die sein Blick gleitet und nicht eindringt und mit deren alleiniger
Abbildung der Maler etwas wie ein Bilderverbot ausspricht.
Die Schönheit ist nicht die Victorine Meurents, die Figur
ist schön nur als Trägerin der leuchtenden Farbe, die
letztlich der einzige Gegenstand des Bildes ist. Es ist eine
plötzliche Schönheit und nicht eine dauernde, ein Aufblitzen,
gleich der unvermuteten Schönheit des Alltäglichsten,
durch die es gleichwohl für Augenblicke eine Präsenz
erhält, die das alltägliche Sein der Dinge übersteigt,
indem sie sichtbar wird allein im Gemälde. "Eine Präsenz,
die nicht die jener Unbekannten ist, die Olympia auch weiterhin
bleibt, auch nicht die von Victorine Meurent und nicht einmal
die des berühmten Edouard Manet, sondern - viel seltsamer
- die einer Figur, die, bevor sie aus nicht ganz einsichtigen
Gründen Olympia getauft wurde, von Edouard Manet nach dem
Modell der Victorine Meurent gemalt worden war, deren Reize einen
... Spiegel gefunden haben auf jener Leinwand, auf der etwas
erscheint, was nirgendwo sonst Gestalt angenommen hätte."
151 Wie das Dargestellte ist die Darstellung
selbst einzigartig und individuell. Die Malweise negiert die
Bildern mögliche überzeitliche ikonische Kraft. Als
Spiegel, Oberfläche und Illusion markiert das Gemalte eine
Grenze der Erkenntnis, alle mögliche Erkenntnis bewegt sich
an der Oberfläche der Dinge, die schön sein kann wie
die Farbe in Manets Bild.
Ist auch der gegenständliche Bestand nicht idealisiert,
so fügt doch die Komposition die Momentaneität des
wiedergegebenen Eindrucks in ein System von Linien und Winkeln,
das nicht dem Augenschein entstammt, sondern das die ausgewogene
und in sich geschlossene Bildkomposition trägt. Über
das System der Komposition trifft die betonte Zeitbedingtheit
des Dargestellten und der Malweise mit den "'olympischen'
Regionen des Dauernden" 152 zusammen.
Indem das Flüchtigste, der Augenblick, zum Bleibenden transformiert
wird, wird die Kunst in den Händen Manets zur sicheren und
einzigen "Waffe zur Überwindung des Todes." 153 Zur solitären Ikone des 'Jetzt'.
Leiris beschreibt die 'Olympia' als ein Geschöpf, das sich
"als bloße Automate herausstellt, welche von dem Physiker,
der ihr das zerbrechliche Leben einhauchte, mit höchster
Täuschungskraft begabt worden war." 154
Was 'Olympia' uns in der flüchtigen Vorspiegelung ihrer
Erscheinung glauben machen möchte, ist, daß es der
in der bleibenden Form festgehaltene Augenblick sei, der "das
unheilvolle Rieseln der Zeit entschärfen kann." 155 Es ist aber der isolierte Jetzt-Punkt - gleich
einem filmischen Standbild geschieden von Vergangenheit und Zukunft
- ohne jene Dauer, die in der Erinnerung Vergangenheit und im
vorausweisenden Impuls zur Bewegung Zukunft zu umfassen vermag;
bewußtlos, da das Bewußtsein eben einer ausgedehnten
Zeitspanne bedarf. Es sind jene unwiederbringlich in die Vergangenheit
versinkenden Jetzt-Punkte, die an der kontinuierlichen, seienden
Zeit nicht teilhaben, aber auf die Geschichte des individuellen
Wesens weisen. "Nicht mit den 4 Jahreszeiten - diesem Eichhörnchenrad,
an dem die Ereignisse sich nicht festbeißen - soll die
nackte Olympia mich versöhnen. Es ist nur allzu bekannt,
daß dieser nichtmenschliche Schauplatz eines ständigen
Neubeginns, die Natur, das Umfeld ist, in dem ich nach den Gesetzen
der Biologie aufzugehen bestimmt bin, ob ich mich nun damit abfinden
kann oder nicht. Woran eine solche Gestalt ... mich ... eher
erinnert, ist dies, daß ... die Dinge ihren Gang gehen
- nicht in einem unveränderlichen Kreislauf, sondern in
der Linie ohne Wiederkehr von vorher, während und nachher
- und daß es in unmittelbarem Bezug zu uns selbst und insofern
als bedeutsamen Faktor, obwohl ihre Dimension im, außermenschlichen,
Maßstab der kosmischen Unendlichkeit mikroskopisch ist,
eine Geschichte gibt ..." 156
Das Fleisch ist in der Präsenz des Augenblicks, in der
jede, über die Information der Oberflächenbeschaffenheit
jenes Wesens hinausreichende, Kommunikationsmöglichkeit
mit dem Betrachter negiert wird, auch, und nicht zuletzt, der
der Erotik. Das Sein ihres Fleisches ist solitär, einsam
und allein diskontinuierlich. Es ist, als sei jede mögliche
Bewegung angehalten für die Zeit des Posierens, und die
ist im Liniengefüge der Komposition wieder unendlich. Vor
dem Bild und für den Betrachter ist der Lauf der Zeit angehalten
für ein immerwährendes Jetzt, das ihn an sein eigenes
flüchtiges Jetzt und seine Geschichte gemahnt, die sich
dennoch - denn indem er sich zu erinnern vermag, berührt
sein Bewußtsein eine andere, dauernde Zeit - nicht im Augenblicksdasein
zu erfüllen vermag.
Alles kulminiert in ihrem Blick, der nach innen gerichtet ist
trotz des ausgestellten Körpers. Der Blick trifft nicht
den des Betrachters, er geht teilnahmslos durch ihn hindurch,
er verlangt nichts, was der Betrachter zu erfüllen vermöchte,
er gibt nichts von ihr preis und er ist in seiner penetranten
Abwesenheit beinah abweisend. Er ist in einer anderen Zeit als
im festgehaltenen Augenblick des ihn umgebenden unbeweglichen
Fleisches und weiß um die Abwesenheit der anderen Zeit.
Nach innen gerichtet ist er getrennt vom Augenblick der Jetzt-Zeit;
er schaut in jenen Bereich der unzugänglich bleibt für
die 'Olympia' selbst wie den anderen, in dem sie einsam ist und
um ihre Einsamkeit weiß, er führt "hinweg in
jene unbestimmten Fernen, wo nicht mehr die plumpen Begierden
regieren, sondern nur noch die Sehnsüchte einer träumenden
Schwermut." 157