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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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IV.3. Manet: Die solitäre Schönheit

 

Ich weiß nicht, ich weiß nicht, was das alles heißen soll, der Tag und die Nacht, die Erde und der Himmel, die Rufe und die Beschwörungen. Und ich kann sie ersehnen? Wer sagt denn, daß ich sie ersehne, die Stimme sagt es, und daß es unmöglich sei, daß ich etwas ersehne, das scheint sich zu widersprechen, ich für mein Teil habe keine Meinung.

Samuel Beckett 144

 

Manets Geisteshaltung ist geprägt vom aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts stammenden Rationalismus und dem Subjektivismus des 19. Jahrhunderts. Daraus resultiert seine Selbstbeschränkung auf die rein optischen Phänomene, auf den farbigen Schein der Dinge, deren visuelles Sein keine ihnen auferlegte Bedeutung übersteigt und die die 'Dinge an sich' sich selbst überläßt. "Inbezug auf Lehren und Theorien glaubte der skeptische und sehr freigeistige Pariser Manet nur an die schöne Malerei." 145 Das Sein der dargestellten Dinge beschränkt sich auf ihre für die Komposition notwendige Trägerfunktion 146 für Farben, Flächen und Linien.
Manet knüpft mit der 'Olympia' an die Tradition der Aktdarstellung unter den veränderten Wahrnehmungsbedingungen des von der Industrialisierung geprägten positivistischen 19. Jahrhunderts an. Das zunehmend vom Zeittakt festgelegte Tempo des modernen Großstadtmenschen bestimmt das Dasein und erzeugt ein neues Zeitverständnis in der Kunst. Die Malweise Manets beruht auf diesem veränderten Geist, der in der tradierten Malweise nicht mehr ausgedrückt werden kann. Manet übernimmt aus der Tradition das Motiv der Aktdarstellung, nicht aber jenen inhaltlichen Impuls, der - in welcher Form auch immer - dem Wunsch nach idealisierender Verewigung weiblicher Schönheit entsprang. Manets "Rebellion gegenüber der Akademie war eine Rebellion der Form, und nicht eine thematische. Er fand es notwendig, die Linie mehr als Trennung denn als Umriß zu betrachten, das Helldunkel auf das Allernotwendigste zu beschränken, den dreidimensionalen Raum zu vernachlässigen." 147

Manet bejaht im Gegensatz zu den Impressionisten die fest umrissene Figur. Die Linie grenzt die Dinge und Körper voneinander ab und setzt sie als isolierte Elemente in einen flächigen Behälter. Die Kontur ist zwar eine Übersetzung der gegebenen Dinge in eine zweidimensionale Form und keine photographische Wiedergabe, aber weder folgt sie einer idealen Vorgabe noch beschreibt sie deren Räumlichkeit, sondern sie läßt sie zum flächigen Farbträger werden, zur Oberfläche des Bildes und nicht zu seiner Haut.
Die Oberfläche ist virtuell, indem die Farbe nicht zur Inkarnation des Gegenstands im Bild wird, sondern indem sie nichts ist als farbiger Schein, indem sie illusioniert. Die allein sichtbare Oberfläche der Dinge ist die Grenze, hinter die kein Blick zu fallen vermag. Das Innenleben der Dinge bleibt verborgen, mehr noch, es ist dem Blick nicht zugänglich und also für eine solipsistische Wahrnehmungsweise nicht existent. Jeder Einblick bedeutete Einblick in jene metaphysische Kontinuität, die Manets Geisteshaltung, die sich in seiner Malweise spiegelt, negiert.

Die Oberfläche der Dinge zeigt ihr individuelles Sein. Die 'Olympia' 148 ist das Porträt eines Individuums, einer wirklichen Frau, deren Körper sich genau dort befindet, wo man ihn zu finden erwartet. Die Nacktheit der 'Olympia' wird zur Entblößung, weil sie mit keiner überindividuellen Bedeutung verhaftet ist. Sie steht für sich selbst, in keinem Dienst als in dem ihres zur Schau gestellten Körpers und der schönen Farbe. Die 'Olympia' verkörpert eine rein physische Erotik; es ist die der Körper, die die individuelle Diskontinuität bewahrt und dies, mit Bataille, immer ein wenig im Sinne eines zynischen Egoismus.
Versinnbildlicht wird die Trennung des Individuums von der Ganzheit des Seins durch das schmale schwarze Band um ihren Hals. "Ihr Kopf ist leer: ein samtenes schwarzes Band trennt ihn vom Hauptteil seines Wesens," 149 beschreibt Valéry die Trennung von Körper und Seele. Zugleich trägt das Halsband zu ihrer zeitlichen Determination bei. Die ihr beigegebenen Accessoires - die große rosa Schleife im Haar, die Ohrclips, das Armband und die Pantinen - weisen die 'Olympia' als Geschöpf ihrer Zeit aus und bewahren sie davor, zu einer mythologischen Venusgestalt zu werden.
Wenn überhaupt Manet an seinem Modell interessiert ist außerhalb seiner Trägerfunktion für Formen und Farben, so an seiner ausgeschnittenen Individualität und nicht an der Bühne, auf der es agiert, nicht am umfassenden, die menschliche Individualität übersteigenden, transzendenten Sein, sondern am entsakralisierten Menschenleben und seiner Geschichte. Der epische Aspekt Manets umfaßt die Alltagswirklichkeit, jenen Aspekt, "der uns anhaftet, ohne daß wir bewußt etwas dazu tun, und der ein Teil ist jener condition humaine, in der wir leben und uns bewegen. Wir meinen damit unsere Größe als kleine Menschen, die mit den tausend Nöten und Schwierigkeiten unseres Daseins im Streite liegen; unsere Schwächen, unsere Armseligkeiten und auch unsere vielfachen Feigheiten (in denen doch auch etwas) Heroisches (steckt). Dieses Heldentum ist aber weit entfernt von jedem rhetorischen Getue; es ist einfach ein gelebtes, demütiges und müdes Heldentum, ... das wir bis in die Lichtreflexe und Schatten ... hinein erkennen können." 150 In der Hinwendung zur Individualität liegt der Bezug zum individuellen Sein des Betrachters. Schutzlos wie er selbst liegt die Olympia vor ihm, getrennt vom dem sie Umgebenden und gebunden an ihr diskontinuierliches Sein, ohne den Trost des Glaubens an eine überindividuelle Transzendenz. Zugleich bewahrt die Präsenz ihrer einzigartigen äußeren Erscheinung die 'Olympia' vor dem zudringlichen, nach verborgenen Bedeutungen heischenden Blick des Betrachters. Er wird eingefangen von der blendenden Helligkeit, der Leuchtkraft der Farbe, der Sinnlichkeit des Pinselstrichs, den klaren Formen, über die sein Blick gleitet und nicht eindringt und mit deren alleiniger Abbildung der Maler etwas wie ein Bilderverbot ausspricht.

Die Schönheit ist nicht die Victorine Meurents, die Figur ist schön nur als Trägerin der leuchtenden Farbe, die letztlich der einzige Gegenstand des Bildes ist. Es ist eine plötzliche Schönheit und nicht eine dauernde, ein Aufblitzen, gleich der unvermuteten Schönheit des Alltäglichsten, durch die es gleichwohl für Augenblicke eine Präsenz erhält, die das alltägliche Sein der Dinge übersteigt, indem sie sichtbar wird allein im Gemälde. "Eine Präsenz, die nicht die jener Unbekannten ist, die Olympia auch weiterhin bleibt, auch nicht die von Victorine Meurent und nicht einmal die des berühmten Edouard Manet, sondern - viel seltsamer - die einer Figur, die, bevor sie aus nicht ganz einsichtigen Gründen Olympia getauft wurde, von Edouard Manet nach dem Modell der Victorine Meurent gemalt worden war, deren Reize einen ... Spiegel gefunden haben auf jener Leinwand, auf der etwas erscheint, was nirgendwo sonst Gestalt angenommen hätte." 151 Wie das Dargestellte ist die Darstellung selbst einzigartig und individuell. Die Malweise negiert die Bildern mögliche überzeitliche ikonische Kraft. Als Spiegel, Oberfläche und Illusion markiert das Gemalte eine Grenze der Erkenntnis, alle mögliche Erkenntnis bewegt sich an der Oberfläche der Dinge, die schön sein kann wie die Farbe in Manets Bild.

Ist auch der gegenständliche Bestand nicht idealisiert, so fügt doch die Komposition die Momentaneität des wiedergegebenen Eindrucks in ein System von Linien und Winkeln, das nicht dem Augenschein entstammt, sondern das die ausgewogene und in sich geschlossene Bildkomposition trägt. Über das System der Komposition trifft die betonte Zeitbedingtheit des Dargestellten und der Malweise mit den "'olympischen' Regionen des Dauernden" 152 zusammen. Indem das Flüchtigste, der Augenblick, zum Bleibenden transformiert wird, wird die Kunst in den Händen Manets zur sicheren und einzigen "Waffe zur Überwindung des Todes." 153 Zur solitären Ikone des 'Jetzt'.
Leiris beschreibt die 'Olympia' als ein Geschöpf, das sich "als bloße Automate herausstellt, welche von dem Physiker, der ihr das zerbrechliche Leben einhauchte, mit höchster Täuschungskraft begabt worden war." 154 Was 'Olympia' uns in der flüchtigen Vorspiegelung ihrer Erscheinung glauben machen möchte, ist, daß es der in der bleibenden Form festgehaltene Augenblick sei, der "das unheilvolle Rieseln der Zeit entschärfen kann." 155 Es ist aber der isolierte Jetzt-Punkt - gleich einem filmischen Standbild geschieden von Vergangenheit und Zukunft - ohne jene Dauer, die in der Erinnerung Vergangenheit und im vorausweisenden Impuls zur Bewegung Zukunft zu umfassen vermag; bewußtlos, da das Bewußtsein eben einer ausgedehnten Zeitspanne bedarf. Es sind jene unwiederbringlich in die Vergangenheit versinkenden Jetzt-Punkte, die an der kontinuierlichen, seienden Zeit nicht teilhaben, aber auf die Geschichte des individuellen Wesens weisen. "Nicht mit den 4 Jahreszeiten - diesem Eichhörnchenrad, an dem die Ereignisse sich nicht festbeißen - soll die nackte Olympia mich versöhnen. Es ist nur allzu bekannt, daß dieser nichtmenschliche Schauplatz eines ständigen Neubeginns, die Natur, das Umfeld ist, in dem ich nach den Gesetzen der Biologie aufzugehen bestimmt bin, ob ich mich nun damit abfinden kann oder nicht. Woran eine solche Gestalt ... mich ... eher erinnert, ist dies, daß ... die Dinge ihren Gang gehen - nicht in einem unveränderlichen Kreislauf, sondern in der Linie ohne Wiederkehr von vorher, während und nachher - und daß es in unmittelbarem Bezug zu uns selbst und insofern als bedeutsamen Faktor, obwohl ihre Dimension im, außermenschlichen, Maßstab der kosmischen Unendlichkeit mikroskopisch ist, eine Geschichte gibt ..." 156

Das Fleisch ist in der Präsenz des Augenblicks, in der jede, über die Information der Oberflächenbeschaffenheit jenes Wesens hinausreichende, Kommunikationsmöglichkeit mit dem Betrachter negiert wird, auch, und nicht zuletzt, der der Erotik. Das Sein ihres Fleisches ist solitär, einsam und allein diskontinuierlich. Es ist, als sei jede mögliche Bewegung angehalten für die Zeit des Posierens, und die ist im Liniengefüge der Komposition wieder unendlich. Vor dem Bild und für den Betrachter ist der Lauf der Zeit angehalten für ein immerwährendes Jetzt, das ihn an sein eigenes flüchtiges Jetzt und seine Geschichte gemahnt, die sich dennoch - denn indem er sich zu erinnern vermag, berührt sein Bewußtsein eine andere, dauernde Zeit - nicht im Augenblicksdasein zu erfüllen vermag.
Alles kulminiert in ihrem Blick, der nach innen gerichtet ist trotz des ausgestellten Körpers. Der Blick trifft nicht den des Betrachters, er geht teilnahmslos durch ihn hindurch, er verlangt nichts, was der Betrachter zu erfüllen vermöchte, er gibt nichts von ihr preis und er ist in seiner penetranten Abwesenheit beinah abweisend. Er ist in einer anderen Zeit als im festgehaltenen Augenblick des ihn umgebenden unbeweglichen Fleisches und weiß um die Abwesenheit der anderen Zeit. Nach innen gerichtet ist er getrennt vom Augenblick der Jetzt-Zeit; er schaut in jenen Bereich der unzugänglich bleibt für die 'Olympia' selbst wie den anderen, in dem sie einsam ist und um ihre Einsamkeit weiß, er führt "hinweg in jene unbestimmten Fernen, wo nicht mehr die plumpen Begierden regieren, sondern nur noch die Sehnsüchte einer träumenden Schwermut." 157


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144 Samuel Beckett, Texte um Nichts. Werke, Frankfurt am Main, 1976, Bd. 10, S. 152.

145 Paul Valéry, zitiert nach: Venturi, 1967, S. 11.

146 Negerin und Katze sind laut Henry Schumann ein Einfall Baudelaires (Schumann in: Baudelaire, 1990, S. 428).

147 Venturi, 1967, S. 14.

148 Zum Titel des Bildes siehe Kap. VI.2. dieser Arbeit.

149 Paul Valéry, zitiert nach: Venturi, 1967, S. 11.

150 Venturi, 1967, S. 6.

151 Leiris, 1983, S. 313.

152 Bruhns, 1955, Bd. VI, S. 162.

153 P. Jamot, zitiert nach: Venturi, 1967, S. 12.

154 Leiris, 1983, S. 72.

155 Leiris, 1983, S. 15.

156 Leiris, 1983, S. 154.

157 Bruhns, 1955, Bd. VI, S. 166.


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