IV.2. Ingres: Das Netz des Augenblicks
Die Kunst lebt von hochstehenden Gedanken
und edlen Leidenschaften. Charakterwärme! Man stirbt nicht
vor Wärme, aber man stirbt vor Kälte.
Ingres 128
Die Odaliske 129 entstammt der arabischen
Welt. Das Gemälde entstand in der Hochzeit des Orientalismus
im 19. Jahrhundert, dessen Zentrum in Paris lag. In der westlichen
Welt galt die orientalische Kultur - entgegen der eigenen, die
zunehmend von der beginnenden Industrialisierung bestimmt wurde
- als 'ursprünglich' und nahm eine nostalgische Funktion
ein. Die Sinnlichkeit, durch die sich die Kultur des Orients
in den Augen des Westens vor der übrigen Welt auszeichnete,
wurde insbesondere von den orientalischen Tänzerinnen verkörpert,
die seit Mitte des 19. Jahrhunderts als besondere Attraktionen
im Westen z.B. auf Weltausstellungen tanzten.
Ingres hat den Orient nie bereist, er bezog seine Kenntnisse
hauptsächlich aus Reisebeschreibungen. Demgemäß
kommen bei ihm eher literarische Einflüsse und auch im Westen
bekannte orientalische Formensprachen zum Tragen als - wie zum
Beispiel bei Delacroix - die selbst gesehene orientalische Atmosphäre.
Ingres stellt in der 'Großen
Odaliske' weniger die sinnfällige Abbildung der äußeren
Erscheinung des Orients dar, als vielmehr den inneren Aufbau
der orientalischen Ursubstanz. Der Orientalismus des Bildes liegt
nicht in den Attributen wie Turban, Fächer und Pfeife, sondern
in der Art des Bildaufbaus: Flächige Farbzonen mit volumenhaften
Andeutungen und arabeskenhafte Formen erinnern an im orientalischen
Bereich verwurzelte Ornamentik.
Als formale motivische Ausgangspunkte der 'Großen Odaliske'
gelten Jaques-Louis Davids 'Mme. Récamier' (Abb.
5) und die antike Gestalt des Hermaphroditen 130
(Abb. 6). Obgleich sie als
klassisch bezeichnet werden können, deuten doch vielfache
unklassische Einflüsse, die in Ingres' 'Großer Odaliske'
zusammentreffen, auf die gewollte Entfernung von jener Wirklichkeit,
die von dem mit der Industrialisierung einhergehenden funktionalistischen
Zug geprägt ist.
Die gelängten Gliedmaßen und die weniger den anatomischen
Gegebenheiten als der Komposition folgende Linienführung,
in die der Leib eingefügt ist, deuten auf den gotisierenden
Zug der französischen Kunst. Die ausgeprägt geschwungenen
Formen der Figur erinnern an die Formsprache indischer Tempelskulpturen.
In der indischen Kunst entstanden diese Formen aus den Bewegungen
des rituellen Tanzes. Die Verwendung dieser Formensprache deutet
auf den Bewegungsimpuls in der Figur.
Die enthaltenen Formen des Ideals, der Ort, an dem die Figur
sich befindet und nicht zuletzt das mit dem frontalen Blick gekoppelte
Rückenmotiv - der erotische Reiz der in der kokettierenden
Abwendung liegt - weisen auf die an den Betrachter gerichtete
sinnliche Intention der Darstellung. Aber Ingres hat die Erotik
aus dem Bereich des alltäglichen Lebens verbannt und in
einem Zwischenreich zwischen idealem und profanem Sein angesiedelt.
"Die (Odaliske ist ein Werk) von tiefer Wollust. Aber all
dieses erscheint uns nur in einer fast erschreckenden Helle;
denn dies ist weder die goldene Atmosphäre, die die Gefilde
des Ideals umgibt, noch das sanfte, gemäßigte Licht
der irdischen Bereiche." 131
Die geschwungenen Formen und die räumlichen Staffelungen
der Kontur 132 bilden ein bewegliches Formgefüge,
in dem jeder Schwung gebrochen und von einem anderen fortgeführt
wird in eine je neue Richtung. Mit linearen Mitteln erreicht
Ingres einen beweglichen Eindruck, der sich von der starren Form
des Klassizismus entfernt.
Durch die in ihr verbundenen Ansichten suggeriert die Figur Allansichtigkeit
und Bewegung. Grundsätzlich scheidet Dagobert Frey zufolge
die Richtungsbestimmtheit die Profilfigur von der Frontalfigur.
Die Frontalfigur scheint im Bildraum festgebannt, sie könnte
sich nur bewegen, wenn sie aus ihm herausträte. Die Profilfigur
dagegen kann sich in der Raumschicht des Bildes verschieben.
Sie hat ein Vorne und ein Hinten, das auch als Vorher und Nachher
gedeutet werden kann. "Die Profilfigur vermag aber auch
eine Doppelbewegung zu zeigen: Dem Vorwärtsschreiten kann
ein sich-zurück-Wenden entsprechen, womit sich die Funktion
eines Verknüpfens ergibt." 133 Die
Verknüpfung der Ansichten ist zugleich eine zeitliche Verknüpfung.
Das Zusammenfügen von Frontal- und Profilansicht verknüpft
Statik und Bewegung und konstituiert damit die zweifache Zeit
der Darstellung, einerseits den frontalen, statischen Augenblick,
andererseits die Dauer der unaufhörlichen Bewegung.
Körperhaltung, Staffelung der Kontur und die Unschärfe
des Fleisches erzeugen Bewegungen in verschiedene Richtungen:
zum einen aus der Bildfläche heraus und zum anderen, innerhalb
des angedeutet volumenhaften Bildraums, hin zum Dunkel des Hintergrunds.
Über die Beweglichkeit des Fleisches wird der Betrachter
in den Bildraum hineingezogen, über die Frontalität
vor ihren Blick gelenkt und gehalten.
Direkt trifft der Blick ihrer Augen den Betrachter und geht
nicht an ihm vorbei oder durch ihn hindurch. Dies deshalb, weil
ihren Augen durch die Malweise eine - vom Fleisch verschiedene
- fast greifbare Dinglichkeit verliehen ist. Die Bewegung des
Blicks tritt aus der Bildfläche in den Raum zwischen Bild
und Betrachter ein. Der Blick ist im Jetzt-Punkt, der nicht dauert,
sondern der nur in immer neue Jetzt-Punkte umschlägt. Der
harte polierte Glanz der Oberfläche reflektiert und spiegelt
die Blickstrahlen des Betrachters, jene, die am beweglichen Fleisch
keinen Halt finden. Die Zeit der Begegnung ist der Augenblick,
in dem sich die Blicke treffen und er ist - im beweglichen Fleisch
beheimatet - die Verbindung zur dauernden Bewegung.
Der Lichteinfall geht von dem Ort aus, den der Betrachter von
ihrem frontalen Blick gelenkt einnimmt. Die Blickstrahlen des
Betrachters erzeugen das Bild; der Blick der Figur und der des
Betrachters erzeugen sich gegenseitig. Dergestalt verbindet der
Lichteinfall den Augenblick mit der Dauer, zeitlich determiniertes
mit überzeitlichem Sein.
Der Blick korrespondiert mit dem Netz 134
der Details, das sich über das ganze Bild zieht. Die Dinge
bilden quasi Fixpunkte, die den Bewegungen entgegenstehen. In
diesem System nimmt jedes Accessoire, jedes Detail eine für
das Ganze notwendige Funktion ein. Die Konstruktion des Netzes
erzeugt eine geschlossene Komposition. Wie die Zeit des Blicks
ist die Zeit der Darstellung des Netzes der festgesetzte Jetztpunkt,
in dem die objektiv seienden und erkennbaren Dinge sind.
Durch das starre Netz der Dinge wird die Bewegung der Figur gehalten
und beinah negiert. Daß die Figur ihre Beweglichkeit behält,
zeugt davon, daß nicht die die Bildfläche konstituierenden
Systeme allein gültig sind, daß nicht das Dargestellte
der Darstellung unterworfen ist.
"Das ist keine Klassik, sondern Romantik", 135
ist Barnett Newmans abschließendes Urteil über Ingres'
Liniengefüge. In der 'Großen Odaliske' sind mehrere
Systeme der Darstellung enthalten. Die Kontur dient weniger der
Übersetzung des gegenständlichen plastischen Bestands
in die zweidimensionale Fläche, denn der Flächenaufteilung
des Bildes selbst. Ingres "hatte den Gedanken, das Bild
wie eine ebene Fläche zu benutzen. Er blickt häufiger
auf die Leinwand, als auf das Modell. ... Er beschäftigt
sich damit, einzelne Zonen auszufüllen; ... Nirgends gibt
es Tiefen-Perspektiven: Die Bilder sind flach, einfach gestaffelt."
136 Schon Baudelaire beschreibt die allgemeine
Einschätzung Ingres' dahingehend, daß er "zwar
ein großer, jedoch ungeschickter Zeichner sei, der sich
nicht auf die Luftperspektive verstehe, und daß seine Malerei
so flach sei wie ein chinesisches Mosaik." 137
Cézanne verschärft diese Kritik: "Auch Ingres,
potztausend, hat kein Blut. Er zeichnet. Die Primitiven zeichneten.
... das, was man Malerei nennt, entsteht erst bei den Venezianern.
... Oh! Ingres, Raffael und die ganze Gesellschaft, das ist sehr
schön. ... Aber es gibt da eine Klippe. ... Ingres [hat]
nur die Linie, und das genügt nicht. ... Das ist rein, das
ist zart, das ist lieblich, aber das ist platonisch. Das ist
ein Bilderbogen, das hat keinen Luftraum. ... Es ist des Systems
wegen. Und System ist falsch" 138 .
Ingres' Farbgebung beschreibt, wie Cézanne ganz richtig
bemerkt, keinen atmosphärischen Luftraum, sondern dient
der Vernetzung der Bildfläche. Die Verzahnung der Raumebenen
in der Fläche erreicht Ingres mit der Farbe ebenso wie mit
der Linie; die Farbe ist der Linie nicht untergeordnet. "Es
gilt ein für allemal ausgemacht, daß Ingres' Malerei
grau sei. - So öffne doch deine Augen, du Volk von Einfaltspinseln,
und sage, ob du je eine kräftigere, leuchtendere Malerei
gesehen hast, und sogar eine größere Sorgfalt in der
Abstufung der Töne!" 139 Die Farbabstufungen,
die farbigen Abschattungen und Konturen entstammen dem Sinneseindruck
und sind mit dem übergreifenden Farbsystem 140
verbunden. Ingres' exakter Ausführung des Systems entspricht
sein sehr genauer Blick auf das Gegebene.
Ingres verbindet die volumenhaften und tiefenräumlichen
Andeutungen mit der linearen Flächeneinteilung, den flächigen
Einsatz der Farbe mit der beweglichen Linie und eine Malweise,
mittels der die plastische Greifbarkeit der Dinge hervortritt
mit einer, die dem Beweglichen, dem Fleisch, eine dem Veränderlichen
gemäße Unschärfe beläßt. All dies
geschieht ohne Vehemenz, nicht im Aufeinanderprall der Verschiedenheiten,
sondern das Nebeneinander von Unzusammengehörigem erzeugt
jene vibrierende Spannung, die das Bild letztlich in einer 'romantischen'
Uneindeutigkeit beläßt. Gerade daraus entsteht seine
Intensität. "Ingres' Werke, die das Ergebnis einer
übermäßigen Aufmerksamkeit sind, erfordern eine
gleiche Aufmerksamkeit zu ihrem Verständnis. Kinder des
Schmerzes, erzeugen sie Schmerz. Und dies deshalb ... weil seine
Methode nicht einheitlich und einfach ist, sondern in der Anwendung
mehrerer Methoden nacheinander besteht." 141
Die Uneindeutigkeit der Zugehörigkeit zu idealem oder profanem
Sein folgt aus dem Aufeinandertreffen der Systeme im Bild. Mehrfach
wie die Systeme der Darstellung ist die Zeitlichkeit: Sie umfaßt
den augenblicklichen und absoluten Jetzt-Punkt, die in der Veränderung
und der Bewegung liegende Dauer, die sich der transzendenten
Überzeitlichkeit von der Seite der unaufhörlichen Bewegung
nähert und auf die Zeit des dargestellten Motivs trifft,
dem über seinen nostalgischen Gehalt eine verlorene, magische
Überzeitlichkeit innewohnt.
Der endliche Körper ist zugleich im Jetzt-Punkt des Augenblicks
und in einer Sphäre überzeitlicher Transzendenz, zwischen
profaner und heiliger Welt. Die Magie des überzeitlichen
Ideals - das nostalgisch ist, da jene Überzeitlichkeit,
in der das wahrhaft Seiende ist, der Leere des aufkommenden Nihilismus
142 wich - stellt sich der drohenden Vergänglichkeit
und der unerbittlichen Abfolge der Jetztpunkte entgegen. Inmitten
des konstruierten Netzes der objektiv seienden Dinge, in das
der bewegliche Mensch eingebunden ist, bedarf er des schützenden
Ideals, das ihn mit dem überzeitlichen Sein verbindet. Denn
jenseits des objektivierenden Bewußtseins und jenseits
des vergänglichen Fleisches liegt nicht die Ewigkeit der
Kontinuität sondern das leere Nichts, indem die Realität
von der Positivität regiert wird, die mit aller Metaphysik
auch die Überzeitlichkeit negiert.
Die Dauer der Begegnung zwischen Bild und Betrachter liegt im
unaufhörlichen Gegeneinander der verschiedenen Zeitsysteme.
Es ist eine gebrochene Dauer, die zwischen den Zeiten springt
und die nicht wie bei Giorgione in einer fließenden Bewegung
liegt.
Im Gegensatz zu Giorgione, bei dem die profane Welt mit der übergeordneten
transzendenten versöhnt wird, hält bei Ingres die transzendente
Welt Einzug in die allein existierende profane. Im Treffen der
Blicke zwischen Bildfläche und Betrachter liegt die Hoffnung
auf das Überwinden des Augenblicks und den möglichen
Einblick in die geschwundene Transzendenz. Es ist der Blick des
Betrachters (bzw. des Malers, was dasselbe ist), der ihren Blick
für die Zeit der Begegnung vor dem Nichts des leeren Raums
bewahrt, der dennoch ist. "Den heimtückischen Wandel
der Zeiten aufhalten, dahin geht das Bemühen Ingres'. Er
will das reiche, profane Element mit dem Zaun höheren Glanzes
umgeben. Er will ausbreiten und einfassen. Nicht darüber
hinausgehen. Die Schranke nicht überschreiten. Dem Irdischen
den Glanz des Göttlichen verleihen." 143