IV. I n t e r p r e t a t i o n e n
IV.1. Giorgione: Gott und die Welt
Da kann man weder der Sonne schnelle Glieder
unterscheiden noch die zottige Kraft der Erde noch das Meer.
So liegt in dem festen Verlies der Harmonie der kugelförmige
Sphairos gebannt, der sich der ringsum herrschenden Einsamkeit
freut.
Empedokles 113
In der Renaissance lieferten die humanistischen
Schriftsteller den Künstlern nicht nur literarische Vorbilder,
sondern den gesamten geistigen Stoff, Fundus und Untergrund,
Weltbild des Zeitalters und Assoziationsmittel für ihre
Bilder. 114
Als literarischen Ursprung von Giorgiones 'Schlummernder Venus' führt
Michael W. Alpatow den Roman des Dominikanermönchs Francesco
Colonna 'Hypnerotomachia Poliphile' an, in dem in Form eines
Traumgebildes die Liebe Poliphiles zu Polia als überhöhte
sinnliche Liebesbeziehung ebenso verherrlicht wird wie eine ideal
gedachte, an der Antike orientierte Kunst und Kultur. Colonna
verarbeitete in dem Roman eine Fülle antiker und mittelalterlicher
Reminiszenzen.
In der von Alpatow angeführten Stelle
findet Poliphile, wohl als Schicksalsanspielung, auf einer grünen
Waldwiese ein antikes Relief auf dem "zwischen zwei Säulen
innerhalb eines Quadrats ... eine bezaubernde schlafende Nymphe
in Stein gehauen" 115 war, mit der dazugehörigen
Aufschrift: 'Die Urmutter aller'. Nach dem literarischen Ursprung
verkörperte Giorgiones Schlafende also eher eine Nymphe
denn eine Venus.
Das Motiv der nackten ruhenden Frau taucht in dieser reinen Form
bei Giorgione erstmalig auf. Es ist nicht klassisch. Die ruhende
Gestalt einer Frau befand sich nur manchmal in den Ecken von
bacchischen Sarkophagen. Auch hat der Leib nicht den Rhythmus
des griechischen Ideals, in dem sich Wachstum gleichermaßen
wie Schwerkraft ausdrückt, sondern er ist im musikalischen
Linienklang der Gesamtkomposition von einer schwebenden, organischen
Leichtigkeit. Der Leib der nackten Frau ist in ein perfektes
Liniengefüge eingebunden. Er ist in diesem Sinne nicht individuell.
Die Idealisierung deutet darauf, daß die Erscheinung nicht
dem unmittelbar sinnfälligen Augenblick entspringt. Die
Darstellung des Leibes ist in der 'Knochenlosigkeit', den der
Linienführung untergeordneten anatomischen Gegebenheiten
und der Betonung der geschwungenen Linie ihres vorgewölbten
Leibes dem gotischen Ideal verwandt. 116 Giorgiones
Figur ist keine Venus Naturalis, sie ist noch himmlisch.
Die Geschlossenheit der Linienführung,
durch die der prinzipiell veränderliche Leib in eine in
sich ruhende, ideale Form eingebunden ist, deutet auf seine Überzeitlichkeit.
Zugleich imaginiert der Bogen des Körpers eine Bewegung,
als könne sie "augenblicklich aufspringen ... Diese
potentielle Bewegung widerspricht keineswegs dem Haupteindruck
völliger Ruhe, friedlichen Schlafes, sie verleiht der Gestalt
lediglich eine größere Vielseitigkeit." 117
Der Leib verkörpert keine statische sondern eine bewegte
Zeitlosigkeit. Im Gegensatz zur gestisch dargestellten Bewegung
gehört die innere - durch die in der Zeit ablesbare Linie
hervorgerufene - Bewegung einer dauernden Zeit an. Der Zeit der
Darstellung entspringt die Überzeitlichkeit des Bildes;
indem der Bewegungsfluß der Linie unaufhörlich ist,
ist das Dargestellte nicht in den der linearen Zeit entspringenden
Zeitzusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingebunden.
Es ist in der Zeitsphäre des Ewigen. Das materielle Sein
wird zum Sinnbild eines transzendenten Seins.
Die Idealisierung des Leibes deutet nicht nur
auf die 'Idee' des Ideals, sondern auch - nicht zuletzt durch
die Nacktheit - auf die Verbindung zum Erinnerungsbild, 118
dem das Ideal Baudelaire zufolge ursprünglich entstammt.
"Giorgione erinnert sich an den Körper einer Frau,
die bereits gegangen, bereits fort ist; sie unterliegt schon
der Idealisierung des Gedächtnisses, die sofort beginnt,
wenn man anfängt, sich etwas Vergangenen zu erinnern. ...
Sie ist eine Rekonstruktion. Und so paßt sie sich in die
vorgegebene Form ein. Sie ist zugleich Vorahnung und Erinnerung,
aber keine Realität." 119 Die Verbindung
des Ideals mit dem Erinnerungsbild vermag die Erinnerung des
Betrachters an den materiellen Gegenstand hervorzurufen.
Indem sie schläft, ist die nackte Figur
in einer Dimension, die dem wachen und rationalen Bewußtsein
nicht unmittelbar zugänglich ist. Deshalb interpretiert
Alpatow die Nacktheit bei Giorgione als natürlichen Zustand
des Menschen, der von keinem Bewußtsein gestört wird
und dem jeder 'erotische Beigeschmack' fehlt. Nacktheit entbehrt
aber nie völlig der leiblichen und erotischen Assoziation.
Gefühl, Erinnerungsvermögen und Bewußtsein werden
zumindest vom Betrachter ins Bild eingebracht (so kann Alpatows
Interpretation nur auf den Leib im Bild zutreffen, nicht aber
für das Bildphänomen, das im Akt der Wahrnehmung sich
konstituiert). Auch scheint uns John Berger zufolge der 'natürliche
Zustand' der Nacktheit nur zur Natur zurückzuführen,
denn dieser 'Naturzustand' ließe die Kraft der Erinnerung,
die Formen des Gefühls und des Bewußtseins außer
acht. Vielmehr liegt der Naturzustand des Nackten darin, daß
die Macht der menschlichen Sexualität und die Tatsache,
daß sie zur Leidenschaft werden kann, mit dem Versprechen
eines neuen Anfangs zusammenhängt, das in Verbindung steht
zur schöpferischen, hervorbringenden Kraft der Natur. Durch
die Analogie von menschlicher Sexualität und der Schöpfungskraft
der Natur wird jene nicht als etwas empfunden, das sich auf ein
Einzelschicksal bezieht, sondern gleichermaßen als "kosmisches
Geschick". 120
In der Aktionslosigkeit des Schlafes kann die
Dargestellte keine aktive Beziehung zum Betrachter eingehen.
Die Begegnung zwischen Figur und Betrachter ist nicht aktiv und
nicht momentan; sie gehört dem überzeitlichen Bereich
an. Der Schlaf symbolisiert, wenn auch nicht explizit Überzeitlichkeit,
doch das Außer-der-Zeit-sein der Figur. Im Schlaf, der
in Verbindung steht mit dem Traum wie mit dem Tod, ist sie in
einer in Bezug auf die lineare Zeitabfolge zeitlosen Dimension.
Die Landschaft ist wie der Körper idealisiert. Sie gibt
nicht ein reales Vorbild wieder, sondern zeigt über das
Zusammenfügen von symbolhaften Teilen ein Bild von 'Welt'
als Gesamtheit. Das Gehöft als ein Ort des tätigen
Menschen ist menschenleer und keine Anzeichen menschlicher Tätigkeit
sind sichtbar; d.h. es stellt nicht einen Ausschnitt aus dem
geschäftigen alltäglichen Leben dar, sondern steht
als Symbol für einen dem Menschen zugehörigen Bereich
in der Weite der Landschaft. Im idealen Sein ist das diesseitige
Sein enthalten und geborgen.
Die lineare und farbliche Komposition, in der Landschaft und
Figur dargestellt sind, und die darin liegende Bewegungstendenz
deuten auf die Verbindung zwischen Mensch und Natur. Die Grundbewegung
im Bild ist der Sog zum Horizont, den die Linienführung
der Landschaft auf die Figur und auf den Blick des Betrachters
ausübt. Für den Betrachter wird der illusionistische
Tiefenraum durch die Hinführung des Blicks zum Horizont
zum Bewegungsraum. Der Raum wird dadurch nach Dagobert Frey 121 als subjektiver Bewegungsvorgang erlebt;
indem er in der Zeit abgelesen wird, wird der Blick in die Tiefe
gesaugt. Die Bewegungstendenz des Raumes trägt den Leib
hin zum Horizont. Die räumliche Kreisbewegung des Blicks
122 suggeriert eine schöpferische und
unaufhörliche Vermählung zwischen Mensch und Natur,
zwischen kontinuierlichem und diskontinuierlichem Sein.
Initiiert vom Sog des Horizonts findet der Schöpfungsakt
statt unter Teilnahme des bewußtlos schlafenden Menschen,
der ihn selbst nicht in Gang zu setzen vermag. In der Sphäre
der transzendenten Überzeitlichkeit ist er Ausdruck des
menschlichen Wunsches nach Teilhabe an der Ewigkeit, nach der
Ewigkeit des diskontinuierlichen Menschen.
Laken und Kissen bilden eine Schranke zwischen dem transzendenten
Sein von Figur und Landschaft und der Betrachterwelt. Die Schranke
verweist auf die Überzeitlichkeit des Bildes, indem sie
Bild- und Betrachterraum trennt; zugleich stellt sie die mögliche
Verbindung zwischen der überzeitlichen Sphäre des Bildes
und der Realität des Betrachters her. Das Bild gewährt
über und durch die Schranke einen Einblick in eine Diesseitigem
nicht unmittelbar zugängliche Welt. Das Kissen, das über
seine haptischere Malweise mehr mit der Betrachterwelt verbunden
ist als die idealisierteren Bildelemente, eröffnet einen
Zugang zu eigentlich jenseitigem, kontinuierlichen Sein innerhalb
und durch profanes Sein. Kissen und Laken hätten also zweierlei
Funktion: Sie sind Schranke zwischen der unzugänglichen
Schlafenden und dem Betrachter und zugleich Zugang zu dem, was
sie verkörpert: den empfangenden Menschen.
Folgt man Alpatows Interpretation der Figur als Nymphe, so
ergibt sich aus ihrem Namen eine mögliche Interpretation
ihrer Seinsweise: Das italienische 'ninfe' 123
bezeichnet sowohl die Schamlippen der Frau als auch die Figur
der Nymphe samt ihrer doppelten Bedeutung als Göttin und
Braut; die Figur der Nymphe vereint profanes und metaphysisches
Sein. Das rote Kissen, das durch seine Form die Assoziation an
Schamlippen nahelegte, stünde als Symbol für die Geschlechtlichkeit
des Wesens, auf die es selbst durch die auf die Scham gelegte
Hand deutet.
In diesem Zusammenhang könnte das zweite Zentrum des Bildes,
der Baumstumpf, als Phallussymbol angesehen werden. Die Figur
passiert ihn auf dem Weg zum Horizont. Die beiden Zentren, der
Baumstumpf als Phallussymbol und der Schoß der Figur stehen
dann einerseits für die schöpferische Kraft der befruchtenden
Natur als 'Urmutter' 124 und andererseits
für den empfangenden Menschen.
Daß das Bild nicht so sehr von antiken als vielmehr von
christlichen Inhalten bestimmt wird, lassen Darstellungsform
und Dargestelltes sowie der humanistische Hintergrund vermuten.
125 In der Form des Ideals vereinigt Giorgione
eine heidnische mit einer christlichen Gestalt (der gesetzmäßig
geformte Kopf 126 erinnert an den einer Madonna).
Die Verbindung zum gotischen Ideal und die geschlossene Linienführung
erzeugen eine weder der Antike noch dem 'Selbstbewußtsein'
des Renaissancemenschen gemäße Keuschheit, die durch
eine - christlichem Gedankengut entstammende - jenseitige Belohnung
durch 'ewiges Leben' begründet werden kann. Das überirdische
Sein der Christen ist angesiedelt im Himmel, einem dem Menschen
nicht zugänglichen Bereich, der im Bild durch Form und Farbe
vom anderen Ort der Nymphe kündet. 127 In
der dauernden Kreisbewegung zwischen Horizont und Vordergrund
imaginiert Giorgiones Figur die Unsterblichkeit eines Wesens,
das schon durch seine doppelte Zugehörigkeit zu Göttern
und Menschen im Zwischenreich von Diesseits und Jenseits angesiedelt
ist.
Das Diesseits und das Glück des Augenblicks sind dennoch
nicht als profan verurteilt, sondern das Kissen als visuelles
Gleichnis der Geschlechtlichkeit symbolisiert den diesseitigen
Zugang zu ewigem Glück. Das Bild transportiert also weniger
christliche Glaubensdogmata als die Versöhnung zwischen
Transzendenz und Profanität. Es bleibt aber der Bereich
des Überzeitlichen außerhalb der geschichtlichen Realität
des Menschen. Deshalb die Eintrittsschranke vor dem Bild. Im
Einblick in das transzendente Sein wird der Betrachter über
sich selbst hinausgehoben und hat teil an der Überzeitlichkeit,
die als Absolutes übergeordnet bleibt, ihn umfaßt
und in seiner - wenngleich möglicherweise ewigen - Diskontinuität
beläßt. Die vollkommene Schönheit berührt
zwar das unvollkommene irdische Sein, gehört aber letztlich
einer vollkommeneren, jenseitigen Welt an.