III.4. Das Bild als Zeit und Bewegung
Es bedarf einer langen Arbeit, um das Denken
heimisch zu machen im Wind der Zeit, daß es des Ewigen
vergißt, und im Labyrinth des Raumes die Erfahrung macht,
daß es nirgends anzukommen hat.
Eugen Fink 94
Die Frage nach Zeit und Bewegung des Bildes erscheint zunächst
selbst fragwürdig, da Bilder sich doch gerade durch Statik,
Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit auszuzeichnen scheinen.
Diese Charakterisierung des Bildes bezieht sich aber erstens
auf den als statisch angesehenen Bildträger; die Definition
des statischen Bildträgers beruht zweitens auf jener ontologischen
Interpretation, die von der Statik und Unveränderlichkeit
des Seienden, das den endlichen und beweglichen Dingen zugrundeliegt,
ausgeht. Das Bildphänomen wird dem in diesem Modell statischen
Material gleichgesetzt.
Wenn die Kunstgeschichte also das Problem der Zeit in den Blick
bekommt, bezieht sie sich zumeist auf die Statik des Materials
und nicht auf die des Mediums. So definiert Dagobert Frey 95 das Wesen der Bildkunst als unveränderlich
und von Dauer, da es in allen seinen Teilen gleichzeitig gegenwärtig
sei. John Berger 96 begründet die Statik
des Bildes damit, daß das Gemalte sich nicht verändere.
Dagegen stellt Gottfried Boehm 97 die These
auf, Zeit sei eine wesentliche Grundkategorie der Malerei. Sein
zentraler Begriff, die 'Zeit der Darstellung', beschreibt die
Bildkonstitution im Akt der Wahrnehmung, der, wie schon bei Merleau-Ponty
98 zu sehen war, eben nicht statisch ist.
Dagobert Frey beschreibt als den entwicklungsgeschichtlich
entscheidenden Antrieb zur bildkünstlerischen Gestaltung
die auf seiner Statik beruhende Überzeitlichkeit des Bildes.
Dank dieser ihm wesentlichen Überzeitlichkeit - die ontologisch
dem Seienden angehört - vermag das Bild religiöse und
soziale Funktionen zu erfüllen. "In dem Bildwerk tritt
kraft seiner Überzeitlichkeit die Gottheit in ihrer Zeitlosigkeit
zur Erscheinung, durch das Bildwerk wird dem dargestellten Menschen
die Dauer der Existenz verliehen und gewährleistet."
99 Das Bildwerk wird damit dem Urerlebnis des
Menschen - der Vergänglichkeit und dem Sterben allen Lebens
in der Zeit - entgegengestellt. Die Überzeitlichkeit des
Bildes versinnbildlicht die Zeitlosigkeit, die alles Lebendige
umgibt. In Bezug auf die Darstellung wird der unveränderliche
apriorische Raum von der Bewegung im Raum geschieden; die Bilder
werden in ihrem Realitäts- und Zeitcharakter aufgespalten
in das zeitlos Umfassende als wahrhaft Seiendes und in die binnenweltlichen,
endlichen und beweglichen Dinge, die Erscheinungen.
In der Geschichte der abendländischen Ontologie ist die
Zeitlosigkeit ein Bereich der Zuflucht und der Anziehung zugleich.
Die Zeitlosigkeit gehört jenem transzendenten Bereich an,
der außerhalb der geschichtlichen Realität des Menschen
steht. "Die Sprache der bildenden Kunst wurde, eben weil
sie statisch war, zur Sprache dieser Zeitlosigkeit." 100 Aufgrund der ihr eigenen sinnlichen Vermittlungsweise
vermag die Kunst den Bereich des Sinnlichen mit dem Bereich des
Zeitlosen zu verbinden: darauf beruht ihre ikonische Macht.
Im Laufe der Säkularisierung der Kunst wird das Vergängliche
zur einzigen Zeit-Kategorie und ihre ikonische Macht tritt in
den Hintergrund. Seit der allgemeinen Akzeptanz der Darwinschen
Evolutionslehre leben die Menschen in einer Zeit, "die alles
enthält und alles wegfegt und für die es keinen Bereich
der Zeitlosigkeit gibt." 101 Die Vermittlung
zwischen dem Zeitlosen und dem Vergänglichen wird problematischer,
je mehr dem Vergänglichen die Verbindung zum Bereich der
Überzeitlichkeit abgesprochen wird. Die Zeitlosigkeit wird
dem Bereich des Irrationalen zugeordnet, so beispielsweise in
der Traum-Zeit der Surrealisten. Der Traum tritt an die Stelle
der Zeitlosigkeit, die zuvor als - allerdings wahrhaftige - transzendente
Kraft außerhalb des linearen Zeitflusses stand.
Die Form bestimmt die Überzeitlichkeit oder Zeitlichkeit
des Bildgegenstands. Insofern er typisiert und idealisiert wird,
erscheint er als überzeitlich und das dynamische, lebendige
Modell wird zum Symbol der Zeitlosigkeit. Insofern er als einmalig
und einzigartig, als individuell aufgefaßt wird, kann er
zeitlich determiniert und einem bestimmten Zeitpunkt zugeordnet
werden. "Das bedeutet also, daß alle realistischen
Stilphasen in der Kunst zu einer Betonung der Zeitlichkeit, alle
idealistisch-klassischen zur Überzeitlichkeit tendieren."
102
Entscheidend für das Erleben der Zeitlichkeit oder Überzeitlichkeit
des Bildes ist die Art seines Verhältnisses zum Betrachter.
"Je entschiedener die Realitätssphären des Bildwerkes
und des Betrachters getrennt sind, um so stärker wird auch
die Überzeitlichkeit des Bildwerks hervortreten ... Je mehr
dagegen das Bildwerk auf den Betrachter bezogen erscheint und
in seinen Lebensraum eintritt, um so mehr wird die Überzeitlichkeit
des Bildes in Frage gestellt. Es wird verzeitlicht, woraus sich
eine gewisse Profanierung wie eine innigere und tiefe Vermenschlichung
ergeben kann. Das zeitlich Distanzierte wird vergegenwärtigt,
indem der Betrachter in seiner subjektiven Gegenwärtigkeit
an ihm teilnimmt." 103 Betrachter und
Bild stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Einerseits
wird das Bild in den zeitlichen Lebensablauf des Betrachters
aufgenommen und die Art und Weise der Rezeption wird von dessen
Zeitlichkeit bestimmt; andererseits wird der Betrachter in die
überzeitliche oder zeitliche determinierte Realitätssphäre
des Bildwerks hineingezogen und aus der eigenen Zeitlichkeit
herausgehoben.
Die Darstellung zum Beispiel eines epischen Zeitablaufs bezieht
sich auf die lineare Zeit, indem er eine einseitige, nicht umkehrbare
Richtung hat. In der Abfolge der Betrachtung zeigt sich das zeitliche
Nacheinander des erzählten Vorgangs. Die Zeit wird - in
der Weise einer Illustration - als ein Bildgegenstand bestimmt.
Die Zeit des Bildes aber ist nicht ein Gegenstand, sondern eine
Form der Erfahrung, die der Wahrnehmungsakt konstituiert.
Die der Kunst des Sehens innewohnende Logik ist die Zeit. Die
anschauliche Erfassung des Bildes beruht nicht auf einer logischen
Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem, sondern der
anschauliche Bezug zwischen Teil und Ganzem begründet laut
Gottfried Boehm die Zeitlichkeit des Bildes, den vom verbalen
Sprachcharakter unabhängigen Sprachcharakter des Bildmediums
und damit sein ihm eigenes System der Sinndarstellung und der
Möglichkeit von Erkenntnis.
Die Zeit der Darstellung - die Boehm von der Zeit des Dargestellten
scheidet - zu erkennen erfordert eine Sehweise, die das Bild
im Wechselspiel zwischen "Sukzession und Simultaneität"
104 betrachtet. Die temporale Bilderfahrung
wird von bestimmten Eigenschaften des Bildes selbst begründet.
Das Bild ist seinem Ursprung nach ein Kontrastphänomen,
das sich in der Unterscheidbarkeit von Fläche und Binnenelement
zeigt; die Relation der Elemente, die auf der Fläche figurieren,
bestimmt das Bild. "Wenn wir die Zeitlichkeit der Bilder
wahrnehmen wollen, so müssen wir den Blick auf das Ganze
im Blick auf das Einzelne festhalten und umgekehrt, im Blick
auf das Einzelne den Horizont des Ganzen kopräsent halten."
105 Die Betrachtung der Binnenfelder allein
läßt die Form der Einheit außer acht.
Der Übergang von Sukzession zu Simultaneität ist nur
möglich, wenn das bezeichenbare Einzelelement an Unausdrückliches
grenzt. Das Unausdrückliche, die 'Nicht-Figur', gestattet
den Aufbau der Simultaneität. "Die Zeitlichkeit des
Bildes ist ... nur um den Preis der Sukzession zu haben, d.h.
der Vereinzelung der Elemente, zugleich aber auch nur unter der
Bedingung eines Potentials der Simultaneität. Dauer haben
nicht die wiedererkennbaren Figuren, Dinge, Elemente. Dauer hat
vielmehr das inverse Verhältnis von Simultaneität und
Sukzession, wie es im jeweiligen Bild angelegt ist." 106
Durch die Linien, die in der Zeit abgelesen werden, kann eine
gegenständliche Deutung suggeriert werden, die sich jedoch
niemals befestigt und eindeutig wird. Damit befinden sich sowohl
das Bilderlebnis als auch das Bildphänomen selbst in ständiger
Veränderung. "Die umfassende Form der Simultaneität
bietet das Ganze dar, damit Dauer und Überblick, zugleich
aber auch Momente virtueller Veränderung, welche dieses
Ganze einem Prozeß unterwerfen, worin sich Dauer nicht
rein bestätigt. Das Bild beruhigt sich niemals in der Dauer
als Ruhe. Es temporalisiert sich und verräumlicht sich unabsehbar."
107
Die unveränderlichen abstrakten Formen der Binnenelemente
können Bewegung suggerieren. "Die gegenständliche
Bewegung im Bild kann ... getragen und erlebnismäßig
bestimmt werden von dem Bewegungsstrom des Bildornaments ...,"
108 von der vorgegenständlichen Bilderscheinung.
Die Malerei schafft eine Bewegung ohne Ortsveränderung,
durch Vibration oder Ausstrahlung. Daraus ergibt sich eine Umdeutung
des Zeitproblems. Indem seine wesenhafte überzeitliche Unveränderlichkeit
in eine überzeitliche gleichbleibende Bewegung umgedeutet
wird, liegen das Unveränderliche und die Dauer nun nicht
länger in der Statik, sondern in der Dynamik des Bildes.
Im Unterschied zum linearen sprachlichen Logos ist der stumme
Logos des Bildes eine prozeßhafte Bewegung, die von allen
Seiten zugleich in Gang kommt. Die Zeitlichkeit des Bildes hängt
wesentlich mit dem nicht linearen Erschließungsweg des
Auges zusammen. Er beschreibt die Richtung vom Detail zum Gesamtbild,
vom Simultanbild zum Einzelelement. "Erforderlich ist ein
Hin und Her des Blickes. Räumliche Bestimmungen in der Wahrnehmung
ergeben sich aus einem zeitbestimmten Prozeß: Der Bildraum
'zeitigt' sich." 109 Entscheidend ist,
daß das teilnehmende Auge das Bild als eine Beziehungsform
betrachtet und nicht als Einzelnes oder als Summe von Einzelteilen.
Die Bewegung des Auges findet nicht zwischen linear aneinandergereihten
Fixpunkten statt. Das 'Zwischen', der Übergang, ist vielmehr
das Wesen der Bewegung. Das Fixieren selbst ist eine bewegte
Schwingung, deren Wesen die Gleichzeitigkeit ist und die nicht
an einem bestimmten Punkt beginnt oder endet. Das Sehen lehrt
die Gleichzeitigkeit. Das visuelle Beschaffensein der Dinge ist
die Konkretisierung einer universellen Sichtbarkeit, eines einzigen
Raumes, der trennt und vereinigt, der allen Zusammenhang trägt,
auch den von Vergangenheit und Zukunft. In der Fixierungsbewegung
liegt die Dauer des Blicks. Das Bild, das sich im Akt der Wahrnehmung
- in der Bewegung des Blicks und seiner Dauer - konstituiert,
ist Bewegung und es ist Zeit.
Dagobert Frey beschreibt das Spannungsvolle der Dauer im Bild
entweder als Ausbleiben der Veränderung oder als gleichmäßige
rhythmische Wiederholung. 110 Die Dauer kann
dergestalt 'Ruhe und Stille', oder 'Warten und Harren' meinen.
Die in der Dauer enthaltene Ruhe ist dabei eine Grenzform der
Bewegung, sie umfaßt potentiell die Bewegung, die aus ihr
hervorzugehen vermag. Die Dauer kann dergestalt auch von der
Darstellung des Bildgegenstands selbst hervorgerufen werden,
indem eine Ortsveränderung dadurch suggeriert wird, daß
der dargestellte Körper eine Haltung einnimmt, die er nie
in einem einzigen Augenblick wirklich eingenommen haben kann.
Das Zusammentreffen von - der linearen Zeitabfolge nach - Unzusammengehörigem
auf der Leinwand kann den Übergang und die Dauer hervorbringen.
"Es ist der Künstler, der die Wahrheit spricht und
das Foto, welches lügt, denn in der Wirklichkeit steht die
Zeit nicht still." 111 Das Gemälde
bewahrt nicht wie die Photographie einen angehaltenen Augenblick
davor, vom nachfolgenden verdrängt zu werden. Die Malerei
macht die ineinandergreifende Bewegung der Zeit sichtbar, die
das Foto zerstört. Die Fülle der Dauer vermag einen
organischen Zeitablauf als Einheit zum Ausdruck bringen. "Das
Gefühl der Dauer ist in der Erlebniseinheit, in der Simultaneität
des Erlebens gelegen, indem die Dehnung der Zeit, ihr Gerichtetsein
als Ganzheit erfaßt wird." 112
Durch seine wesensmäßige Zeitlichkeit, die sich in
der oben genannten Dauer des Blicks und den der Möglichkeit
nach unaufhörlichen Wechsel zwischen Simultaneität
und Sukzession zeigt, vermag das Bild eine potentiell unendliche
Dauer sinnlich erfahrbar zu machen. In dieser Dauer nähert
sich die Bilderfahrung, von der ganz anderen Seite des bewegten
Erlebens aus, wieder der transzendenten Überzeitlichkeit.
Im realen Bildphänomen sind, zumindest soweit es sich um
gegenständliche Darstellungen handelt, beide Formen der
Zeit - die der Darstellung und die des Dargestellten - vereinigt.
Beide Formen können sich, abhängig von der speziellen
Ausformung, zu einer Sinneinheit ergänzen oder in einem
unauflösbaren Widerspruch bleiben, aus dem sich nicht eine
der sprachlichen Logik folgende feststehende Bedeutung ergibt,
sondern in dem sich - in der veränderlichen Simultaneität,
der Gleichzeitigkeit und dem Übergang - die dem Bild eigene
Möglichkeit von Erkenntnis zeigt.
_________
In der Erlebnisform der Dauer erscheint die transzendente
Kraft der Überzeitlichkeit, die das individuelle, abgeschlossene
und einsame Sein überschreitet, die nicht angesiedelt ist
jenseits des Endlichen und Veränderlichen in einem unzugänglichen
absoluten Sein, sondern in der das Absolute gerade ins Endliche
einzieht, die hervorgeht aus dem Wesen der auf der sinnlichen
Wahrnehmung basierenden Kommunikation, in der die Welt und der
Urgrund des Seins gegenwärtig zu sein vermögen, im
Verschmelzen mit einem anderen durch den Blick, der Körper
ist und durch den Körper, der Blick ist, ein Einblick gewährt
wird in die Kontinuität des Seins, immer an der Grenze des
Schmerzes, da die Dauer so ewig wie augenblicklich vergänglich
ist, da sie nur ist, solange der Blick dauert, der des Modells,
der des Malers und der des Bildes, solange es Anstoß ist
für den Blick des Betrachters.