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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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III.4. Das Bild als Zeit und Bewegung

 

Es bedarf einer langen Arbeit, um das Denken heimisch zu machen im Wind der Zeit, daß es des Ewigen vergißt, und im Labyrinth des Raumes die Erfahrung macht, daß es nirgends anzukommen hat.

Eugen Fink 94

 

Die Frage nach Zeit und Bewegung des Bildes erscheint zunächst selbst fragwürdig, da Bilder sich doch gerade durch Statik, Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit auszuzeichnen scheinen. Diese Charakterisierung des Bildes bezieht sich aber erstens auf den als statisch angesehenen Bildträger; die Definition des statischen Bildträgers beruht zweitens auf jener ontologischen Interpretation, die von der Statik und Unveränderlichkeit des Seienden, das den endlichen und beweglichen Dingen zugrundeliegt, ausgeht. Das Bildphänomen wird dem in diesem Modell statischen Material gleichgesetzt.
Wenn die Kunstgeschichte also das Problem der Zeit in den Blick bekommt, bezieht sie sich zumeist auf die Statik des Materials und nicht auf die des Mediums. So definiert Dagobert Frey 95 das Wesen der Bildkunst als unveränderlich und von Dauer, da es in allen seinen Teilen gleichzeitig gegenwärtig sei. John Berger 96 begründet die Statik des Bildes damit, daß das Gemalte sich nicht verändere. Dagegen stellt Gottfried Boehm 97 die These auf, Zeit sei eine wesentliche Grundkategorie der Malerei. Sein zentraler Begriff, die 'Zeit der Darstellung', beschreibt die Bildkonstitution im Akt der Wahrnehmung, der, wie schon bei Merleau-Ponty 98 zu sehen war, eben nicht statisch ist.

Dagobert Frey beschreibt als den entwicklungsgeschichtlich entscheidenden Antrieb zur bildkünstlerischen Gestaltung die auf seiner Statik beruhende Überzeitlichkeit des Bildes. Dank dieser ihm wesentlichen Überzeitlichkeit - die ontologisch dem Seienden angehört - vermag das Bild religiöse und soziale Funktionen zu erfüllen. "In dem Bildwerk tritt kraft seiner Überzeitlichkeit die Gottheit in ihrer Zeitlosigkeit zur Erscheinung, durch das Bildwerk wird dem dargestellten Menschen die Dauer der Existenz verliehen und gewährleistet." 99 Das Bildwerk wird damit dem Urerlebnis des Menschen - der Vergänglichkeit und dem Sterben allen Lebens in der Zeit - entgegengestellt. Die Überzeitlichkeit des Bildes versinnbildlicht die Zeitlosigkeit, die alles Lebendige umgibt. In Bezug auf die Darstellung wird der unveränderliche apriorische Raum von der Bewegung im Raum geschieden; die Bilder werden in ihrem Realitäts- und Zeitcharakter aufgespalten in das zeitlos Umfassende als wahrhaft Seiendes und in die binnenweltlichen, endlichen und beweglichen Dinge, die Erscheinungen.
In der Geschichte der abendländischen Ontologie ist die Zeitlosigkeit ein Bereich der Zuflucht und der Anziehung zugleich. Die Zeitlosigkeit gehört jenem transzendenten Bereich an, der außerhalb der geschichtlichen Realität des Menschen steht. "Die Sprache der bildenden Kunst wurde, eben weil sie statisch war, zur Sprache dieser Zeitlosigkeit." 100 Aufgrund der ihr eigenen sinnlichen Vermittlungsweise vermag die Kunst den Bereich des Sinnlichen mit dem Bereich des Zeitlosen zu verbinden: darauf beruht ihre ikonische Macht.
Im Laufe der Säkularisierung der Kunst wird das Vergängliche zur einzigen Zeit-Kategorie und ihre ikonische Macht tritt in den Hintergrund. Seit der allgemeinen Akzeptanz der Darwinschen Evolutionslehre leben die Menschen in einer Zeit, "die alles enthält und alles wegfegt und für die es keinen Bereich der Zeitlosigkeit gibt." 101 Die Vermittlung zwischen dem Zeitlosen und dem Vergänglichen wird problematischer, je mehr dem Vergänglichen die Verbindung zum Bereich der Überzeitlichkeit abgesprochen wird. Die Zeitlosigkeit wird dem Bereich des Irrationalen zugeordnet, so beispielsweise in der Traum-Zeit der Surrealisten. Der Traum tritt an die Stelle der Zeitlosigkeit, die zuvor als - allerdings wahrhaftige - transzendente Kraft außerhalb des linearen Zeitflusses stand.
Die Form bestimmt die Überzeitlichkeit oder Zeitlichkeit des Bildgegenstands. Insofern er typisiert und idealisiert wird, erscheint er als überzeitlich und das dynamische, lebendige Modell wird zum Symbol der Zeitlosigkeit. Insofern er als einmalig und einzigartig, als individuell aufgefaßt wird, kann er zeitlich determiniert und einem bestimmten Zeitpunkt zugeordnet werden. "Das bedeutet also, daß alle realistischen Stilphasen in der Kunst zu einer Betonung der Zeitlichkeit, alle idealistisch-klassischen zur Überzeitlichkeit tendieren." 102
Entscheidend für das Erleben der Zeitlichkeit oder Überzeitlichkeit des Bildes ist die Art seines Verhältnisses zum Betrachter. "Je entschiedener die Realitätssphären des Bildwerkes und des Betrachters getrennt sind, um so stärker wird auch die Überzeitlichkeit des Bildwerks hervortreten ... Je mehr dagegen das Bildwerk auf den Betrachter bezogen erscheint und in seinen Lebensraum eintritt, um so mehr wird die Überzeitlichkeit des Bildes in Frage gestellt. Es wird verzeitlicht, woraus sich eine gewisse Profanierung wie eine innigere und tiefe Vermenschlichung ergeben kann. Das zeitlich Distanzierte wird vergegenwärtigt, indem der Betrachter in seiner subjektiven Gegenwärtigkeit an ihm teilnimmt." 103 Betrachter und Bild stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Einerseits wird das Bild in den zeitlichen Lebensablauf des Betrachters aufgenommen und die Art und Weise der Rezeption wird von dessen Zeitlichkeit bestimmt; andererseits wird der Betrachter in die überzeitliche oder zeitliche determinierte Realitätssphäre des Bildwerks hineingezogen und aus der eigenen Zeitlichkeit herausgehoben.

Die Darstellung zum Beispiel eines epischen Zeitablaufs bezieht sich auf die lineare Zeit, indem er eine einseitige, nicht umkehrbare Richtung hat. In der Abfolge der Betrachtung zeigt sich das zeitliche Nacheinander des erzählten Vorgangs. Die Zeit wird - in der Weise einer Illustration - als ein Bildgegenstand bestimmt. Die Zeit des Bildes aber ist nicht ein Gegenstand, sondern eine Form der Erfahrung, die der Wahrnehmungsakt konstituiert.
Die der Kunst des Sehens innewohnende Logik ist die Zeit. Die anschauliche Erfassung des Bildes beruht nicht auf einer logischen Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem, sondern der anschauliche Bezug zwischen Teil und Ganzem begründet laut Gottfried Boehm die Zeitlichkeit des Bildes, den vom verbalen Sprachcharakter unabhängigen Sprachcharakter des Bildmediums und damit sein ihm eigenes System der Sinndarstellung und der Möglichkeit von Erkenntnis.
Die Zeit der Darstellung - die Boehm von der Zeit des Dargestellten scheidet - zu erkennen erfordert eine Sehweise, die das Bild im Wechselspiel zwischen "Sukzession und Simultaneität" 104 betrachtet. Die temporale Bilderfahrung wird von bestimmten Eigenschaften des Bildes selbst begründet. Das Bild ist seinem Ursprung nach ein Kontrastphänomen, das sich in der Unterscheidbarkeit von Fläche und Binnenelement zeigt; die Relation der Elemente, die auf der Fläche figurieren, bestimmt das Bild. "Wenn wir die Zeitlichkeit der Bilder wahrnehmen wollen, so müssen wir den Blick auf das Ganze im Blick auf das Einzelne festhalten und umgekehrt, im Blick auf das Einzelne den Horizont des Ganzen kopräsent halten." 105 Die Betrachtung der Binnenfelder allein läßt die Form der Einheit außer acht.
Der Übergang von Sukzession zu Simultaneität ist nur möglich, wenn das bezeichenbare Einzelelement an Unausdrückliches grenzt. Das Unausdrückliche, die 'Nicht-Figur', gestattet den Aufbau der Simultaneität. "Die Zeitlichkeit des Bildes ist ... nur um den Preis der Sukzession zu haben, d.h. der Vereinzelung der Elemente, zugleich aber auch nur unter der Bedingung eines Potentials der Simultaneität. Dauer haben nicht die wiedererkennbaren Figuren, Dinge, Elemente. Dauer hat vielmehr das inverse Verhältnis von Simultaneität und Sukzession, wie es im jeweiligen Bild angelegt ist." 106
Durch die Linien, die in der Zeit abgelesen werden, kann eine gegenständliche Deutung suggeriert werden, die sich jedoch niemals befestigt und eindeutig wird. Damit befinden sich sowohl das Bilderlebnis als auch das Bildphänomen selbst in ständiger Veränderung. "Die umfassende Form der Simultaneität bietet das Ganze dar, damit Dauer und Überblick, zugleich aber auch Momente virtueller Veränderung, welche dieses Ganze einem Prozeß unterwerfen, worin sich Dauer nicht rein bestätigt. Das Bild beruhigt sich niemals in der Dauer als Ruhe. Es temporalisiert sich und verräumlicht sich unabsehbar." 107
Die unveränderlichen abstrakten Formen der Binnenelemente können Bewegung suggerieren. "Die gegenständliche Bewegung im Bild kann ... getragen und erlebnismäßig bestimmt werden von dem Bewegungsstrom des Bildornaments ...," 108 von der vorgegenständlichen Bilderscheinung. Die Malerei schafft eine Bewegung ohne Ortsveränderung, durch Vibration oder Ausstrahlung. Daraus ergibt sich eine Umdeutung des Zeitproblems. Indem seine wesenhafte überzeitliche Unveränderlichkeit in eine überzeitliche gleichbleibende Bewegung umgedeutet wird, liegen das Unveränderliche und die Dauer nun nicht länger in der Statik, sondern in der Dynamik des Bildes.
Im Unterschied zum linearen sprachlichen Logos ist der stumme Logos des Bildes eine prozeßhafte Bewegung, die von allen Seiten zugleich in Gang kommt. Die Zeitlichkeit des Bildes hängt wesentlich mit dem nicht linearen Erschließungsweg des Auges zusammen. Er beschreibt die Richtung vom Detail zum Gesamtbild, vom Simultanbild zum Einzelelement. "Erforderlich ist ein Hin und Her des Blickes. Räumliche Bestimmungen in der Wahrnehmung ergeben sich aus einem zeitbestimmten Prozeß: Der Bildraum 'zeitigt' sich." 109 Entscheidend ist, daß das teilnehmende Auge das Bild als eine Beziehungsform betrachtet und nicht als Einzelnes oder als Summe von Einzelteilen. Die Bewegung des Auges findet nicht zwischen linear aneinandergereihten Fixpunkten statt. Das 'Zwischen', der Übergang, ist vielmehr das Wesen der Bewegung. Das Fixieren selbst ist eine bewegte Schwingung, deren Wesen die Gleichzeitigkeit ist und die nicht an einem bestimmten Punkt beginnt oder endet. Das Sehen lehrt die Gleichzeitigkeit. Das visuelle Beschaffensein der Dinge ist die Konkretisierung einer universellen Sichtbarkeit, eines einzigen Raumes, der trennt und vereinigt, der allen Zusammenhang trägt, auch den von Vergangenheit und Zukunft. In der Fixierungsbewegung liegt die Dauer des Blicks. Das Bild, das sich im Akt der Wahrnehmung - in der Bewegung des Blicks und seiner Dauer - konstituiert, ist Bewegung und es ist Zeit.
Dagobert Frey beschreibt das Spannungsvolle der Dauer im Bild entweder als Ausbleiben der Veränderung oder als gleichmäßige rhythmische Wiederholung. 110 Die Dauer kann dergestalt 'Ruhe und Stille', oder 'Warten und Harren' meinen. Die in der Dauer enthaltene Ruhe ist dabei eine Grenzform der Bewegung, sie umfaßt potentiell die Bewegung, die aus ihr hervorzugehen vermag. Die Dauer kann dergestalt auch von der Darstellung des Bildgegenstands selbst hervorgerufen werden, indem eine Ortsveränderung dadurch suggeriert wird, daß der dargestellte Körper eine Haltung einnimmt, die er nie in einem einzigen Augenblick wirklich eingenommen haben kann. Das Zusammentreffen von - der linearen Zeitabfolge nach - Unzusammengehörigem auf der Leinwand kann den Übergang und die Dauer hervorbringen. "Es ist der Künstler, der die Wahrheit spricht und das Foto, welches lügt, denn in der Wirklichkeit steht die Zeit nicht still." 111 Das Gemälde bewahrt nicht wie die Photographie einen angehaltenen Augenblick davor, vom nachfolgenden verdrängt zu werden. Die Malerei macht die ineinandergreifende Bewegung der Zeit sichtbar, die das Foto zerstört. Die Fülle der Dauer vermag einen organischen Zeitablauf als Einheit zum Ausdruck bringen. "Das Gefühl der Dauer ist in der Erlebniseinheit, in der Simultaneität des Erlebens gelegen, indem die Dehnung der Zeit, ihr Gerichtetsein als Ganzheit erfaßt wird." 112
Durch seine wesensmäßige Zeitlichkeit, die sich in der oben genannten Dauer des Blicks und den der Möglichkeit nach unaufhörlichen Wechsel zwischen Simultaneität und Sukzession zeigt, vermag das Bild eine potentiell unendliche Dauer sinnlich erfahrbar zu machen. In dieser Dauer nähert sich die Bilderfahrung, von der ganz anderen Seite des bewegten Erlebens aus, wieder der transzendenten Überzeitlichkeit.
Im realen Bildphänomen sind, zumindest soweit es sich um gegenständliche Darstellungen handelt, beide Formen der Zeit - die der Darstellung und die des Dargestellten - vereinigt. Beide Formen können sich, abhängig von der speziellen Ausformung, zu einer Sinneinheit ergänzen oder in einem unauflösbaren Widerspruch bleiben, aus dem sich nicht eine der sprachlichen Logik folgende feststehende Bedeutung ergibt, sondern in dem sich - in der veränderlichen Simultaneität, der Gleichzeitigkeit und dem Übergang - die dem Bild eigene Möglichkeit von Erkenntnis zeigt.

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In der Erlebnisform der Dauer erscheint die transzendente Kraft der Überzeitlichkeit, die das individuelle, abgeschlossene und einsame Sein überschreitet, die nicht angesiedelt ist jenseits des Endlichen und Veränderlichen in einem unzugänglichen absoluten Sein, sondern in der das Absolute gerade ins Endliche einzieht, die hervorgeht aus dem Wesen der auf der sinnlichen Wahrnehmung basierenden Kommunikation, in der die Welt und der Urgrund des Seins gegenwärtig zu sein vermögen, im Verschmelzen mit einem anderen durch den Blick, der Körper ist und durch den Körper, der Blick ist, ein Einblick gewährt wird in die Kontinuität des Seins, immer an der Grenze des Schmerzes, da die Dauer so ewig wie augenblicklich vergänglich ist, da sie nur ist, solange der Blick dauert, der des Modells, der des Malers und der des Bildes, solange es Anstoß ist für den Blick des Betrachters.


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94 Fink, 1957, S. 11.

95 Vgl. Frey, 1955, S. 213.

96 Vgl. Berger, 1992, Zeit und Malerei, S. 75 f.

97 Vgl. Boehm, 1987.

98 Siehe Kap. III.3. dieser Arbeit.

99 Frey, 1955, S. 213.

100 Berger, 1992, S. 80.

101 Berger, 1992, S. 79.

102 Frey, 1955, S. 232.

103 Frey, 1955, S. 214 f.

104 Boehm, 1987, S. 11.

105 Boehm, 1987, S. 20.

106 Boehm, 1987, S. 22.

107 Boehm, 1987, S. 23.

108 Frey, 1955, S. 230.

109 Boehm, 1987, S. 12.

110 Dagobert Frey beschreibt, Bergson folgend, die Dauer als jene besondere Erlebnisform der Zeit, in der das Ich nicht die Scheidung zwischen den gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen vollzieht, und die sich sowohl von der linearen Abfolge der Zeiteinheiten wie auch von jener Überzeitlichkeit unterscheidet, die den Zeitablauf umgibt und die eine jenseitige Absolutheit bezeichnet.

111 Rodin, zitiert nach: Merleau-Ponty, 1984a, S. 39.

112 Frey, 1955, S. 221.


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