III.3. Exkurs: Die ontologische Herkunft von Zeit und Bewegung
Die Zeit ist nicht heute. Die Zeit ist überhaupt
nicht mehr, denn es könnte gestern gewesen sein, lange her
gewesen sein, es kann wieder sein, immerzu sein, es wird einiges
nie gewesen sein. Für die Einheiten dieser Zeit, in die
andere Zeiten einspringen, gibt es kein Maß, und es gibt
kein Maß für die Unzeiten, in die, was niemals in
der Zeit war, hineinspielt.
Ingeborg Bachmann 70
Raum, 71 Zeit und Bewegung sind wesentlich
miteinander verknüpft: Mittels der Bewegung durchdringen
sich Raum und Zeit, der Raum wird zum Feld eines zeitlichen Durchlaufs.
Raum, Zeit und Bewegung bestimmen wesentlich die Phänomenalität
der Dinge, aber sie gehen weder den Phänomenen voraus, noch
sind sie selbst Phänomene.
Im normalen Umgang mit der Zeit gehen wir aus von der linearen
Ordnung der Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Jedes Durchbrechen der Linearität - im Traum oder im plötzlich
gegenwärtigen Aufblitzen von etwas Vergangenem oder Zukünftigem
- stellt uns außerhalb dieser Ordnung und scheint keine
eigentliche Realität zu besitzen. Daß es das lineare
Zeitgefüge sei, das der Realität adäquat ist,
resultiert aus jenem Wissenschaftsverständnis, das vom Kantischen
Apriori der Zeit ausgeht: Wir lernen Zeit nicht im Gange einer
Erfahrung kennen, sondern bewegen uns immer schon in einer Art
eingeborenem Vorverständnis derselben. Das Voraussetzen
der Zeit als apriorischer Kenntnis ist ein binnenweltlicher Ansatz,
in dem die Weltganzheit der möglichen Zeitgefüge ausgeschlossen
ist. Die Zeit, in der wir uns bewegen, ist - entsprechend einem
räumlichen Behälter - etwas Umfassendes, das den Takt
angibt, an dem die Bewegung der erscheinenden Dinge gemessen
wird. Aus diesem Weltverständnis resultiert der Gegensatz
zwischen innerer, erlebter und äußerer, objektiver
Zeit. 72
Das lineare Zeitgefüge geht zurück auf Aristoteles'
ontologische Auslegung der Zeit, die in seinem Begriff des Absoluten
gründet.
Im Zentrum der aristotelischen Ontologie steht der Nous als das
einzig wahrhaft Seiende; mit ihm "legt Aristoteles für
zwei Jahrtausende fest, was das Absolute ist." 73
Der Nous ist der unbewegte Beweger, der als reines Denken nur
sich selbst denkt. Er steht im Gegensatz zu den bewegten Dingen
der Sinnenwelt. Die Bewegungen der endlichen Dinge werden nicht
im Sinne eines Anstosses vom unbewegten Beweger ausgelöst,
vielmehr ist der Nous die Weise, wie das Ziel bewegt. Das Ziel
steht still und übt doch - als causa finalis - einen Zug
aus auf alle Dinge, die ihm zustreben. Alle binnenweltliche Bewegung
ist eine bewegte Bewegung, die erscheinenden Dinge haben nicht
von sich aus die Möglichkeit zur Bewegung. Der Nous, ständig
und unbewegt, unterliegt nicht der Zeit. In der Zeit, die wie
der Raum den Charakter eines Behältnisses hat, stehen aber
alle endlichen bewegten Dinge.
Von der Zeit ist das Vergangene vorbei und das Künftige
ist noch nicht. Das gilt für die Zeit im Ganzen ebenso,
wie für jeden Zeitabschnitt innerhalb der Zeit. Wenn aber
die vergangenen und künftigen Teile der Zeit nicht sind,
so ist die Zeit überhaupt nicht; denn wäre die Zeit
als Ganzes, so wären auch ihre Teile, das Vergangene und
das Künftige. Da Vergangenheit und Zukunft aber nicht sein
können, stellt Aristoteles, um die Existenz der Zeit zu
retten, die These auf, daß das 'Jetzt' kein Teil der Zeit
sei.
Das Jetzt grenzt das Vergangene vom Künftigen ab, und es
ist die Einheit einer Zahl; die Jetzte sind eine Anzahl von zählbaren
Einheiten. Die Zeit ist eine Bewegung, in der Jetzte in immer
neue Jetzte umschlagen. Das Jetzt ist ein Analogon des Punktes
im Raum, Grenze und Band, es scheidet, indem es zusammenhält,
es ist Anfang und Ende zugleich. Das Jetzt wird nicht in seinem
zweifachen Charakter als Anfang und Ende gezählt, sondern
zwischen einem Jetzt als Anfang und einem als Ende liegt die
Weile ausgebreitet. Die Linearität der Zeit liegt in der
Aufzählung der zweifachen Jetztpunkte. Ohne die Auftrennung
in zwei Jetzte würden die Jetztpunkte, indem sie sich berühren,
analog den geometrischen Punkten zusammenfallen. Es gäbe
keine Zeit, in der eine Weile sein könnte.
Die Zeit selbst hat kein Tempo, vielmehr gibt die Zeit als Maßeinheit
den Takt an, an dem das Tempo der Bewegung gemessen wird. Schnelligkeit
und Langsamkeit sind Möglichkeiten der Bewegung. Die Zeit
selbst ist keine Bewegung, weil sie nicht an etwas sie Umfassendes
gemessen werden kann. Die Bewegung, die an der Zeit gemessen
wird, ist zusammenhängend. Deshalb muß es auch die
Zeit sein, da sie Innewerden der Bewegung ist. Die Kontinuität
der Zeit folgt aus der Kontinuität der Bewegung.
Der Vorläufer der ontologischen Zeitauslegung, die von
Platon und Aristoteles ausgebildet wird, ist Zenon.
Der Grundgedanke Zenons lautet, daß das Seiende nicht zugleich
endlich und unendlich sein kann. Dem Seienden spricht er den
Charakter des Unendlichen zu, damit ist es allein wahrhaft. Seiend
und unendlich ist die Zeit, sie umfaßt alle endlichen Dinge
und ist das Behältnis des Vergänglichen. Diese Zeitvorstellung
denkt die Zeit als einen Fluß, der in Intervalle aufgeteilt
werden kann: sie ist die Parallelisierung zu derjenigen Raumvorstellung,
die den Raum als unendlichen Behälter auffasst, in dem nichts
Endliches sein kann.
Damit geraten die endlichen, bewegten Dinge unter die Herrschaft
des Unbewegten. Es kommt jene Verdrehung zustande, die das Ursprüngliche,
die endlichen und beweglichen Dinge der Wahrnehmung, unter die
Herrschaft des - aus mathematischem Denken abgeleiteten - wahrhaft
Seienden stellt. Auf der mathematischen, unendlichen Aufteilbarkeit
der Raumstrecke und des Zeitmoments basieren Zenons Spekulationen,
in denen er mittels der Paradoxien zu beweisen sucht, daß
das Bewegte ruht.
Das mathematische Denken des Unendlichen illustriert Zenon an
der Wegstrecke, die in unendlich viele halbe Wegstrecken unterteilt
werden kann. In all diesen Unterteilungen muß das sich
Bewegende ankommen, bevor es am Ziel ankommen kann. Also gibt
es nur unendlich viele Ruhepunkte. Zwischen den Ruhepunkten sind
keine Zwischenräume und gibt es keinen Übergang. Deshalb
ruht alles sich Bewegende. 74
Parmenides begründet den Scheincharakter des Endlichen
im Gegensatz zum wahrhaft Seienden. Das Seiende des Parmenides
ist in anderer Weise in der Zeit wie die Dinge; es ist nicht
in den zeitlichen Ablauf zwischen Vergangenheit und Zukunft eingebunden,
es ist im Jetzt (im Nyn), und zwar im Ganzen, "es steht
an ihm nichts aus und ist nichts verloren." 75
Das Seiende kann nirgends ein Mehr oder ein Weniger haben, das
zu einer Bewegung führen könnte, es ist unbewegt, und
es muß zu aller Zeit seiend sein. Damit wird ein Maß
aufgestellt, "an dem alle endlichen Dinge zuschanden werden
müssen." 76 Im Gegensatz zum Seienden
sind die endlichen Dinge in einem sich immer wandelnden Jetzt;
immer stehen künftige Jetzte aus und sind vergangene Jetzte
verloren. Wahrhaft seiend ist das, was nicht entstehen und vergehen
kann, demzufolge kann das Vergehende und Entstehende nicht wahrhaft
sein.
"Der geschichtliche Anfang der Ontologie fällt zusammen
mit dem Versuch, Raum und Zeit und Bewegung aus dem Wesen des
Seins auszutreiben." 77 Es ist der Versuch,
den Seinsgedanken von der Bewegung freizuhalten. "Mögen
alle sinnfälligen Dinge uns Bewegung lehren, mögen
die Winde wehen, die Wogen rauschen, die Wolken ziehen, die Lichter
am Himmel wandern, mögen die Menschen blühen und welken
wie Gras, - vor dem unerbittlichen Denken des Denkers, der nur
das Eine denkt, das ist, scheint es keine Bewegung zu geben.
Der Gedanke sagt, daß sie unmöglich ist." 78
Indem das Seiende ist und die Bewegung nicht ist, wird grundsätzlich
das Nichts aus dem Sein ausgeschlossen. Der Gedanke der Scheidung
von Sein und Nichts entstammt nicht dem Augenschein, er nimmt
nicht Maß an den vorhandenen und gegebenen Dingen; vielmehr
sind es gerade die schwindenden Dinge, die nicht mehr als seiend
angesprochen werden können.
Dem Parmenidischen Nihilismus, der das Sein vom Nichts scheidet,
entspringt der abendländische Dualismus und mit ihm beginnt
die Abwertung von Zeit, Raum und Bewegung.
Für den ionischen Naturphilosophen Anaximander gibt es
noch keine strenge Scheidung zwischen Sein und Nichts. Zwar stellt
auch er ein Unendliches den endlichen Dingen gegenüber,
doch sind beide durch die Bewegung miteinander verknüpft.
Das Unendliche ist der Urgrund des Seienden. Die ursprüngliche
Bewegtheit der Dinge ist ihr Hervorkommen und Zurückgehen,
Geburt und Tod sind die eigentliche Bewegung. Die Bewegung ist
nicht eingeschränkt auf die binnenweltliche Bewegtheit der
Dinge, sondern diese ist begriffen aus dem Walten der hervorbringenden
und vernichtenden Welt. "der Wurf, der sie ins Dasein wirft,
er ist auch das eigentlich Treibende, was Steigen, Stoßen,
Wachsen, Blühen, Zunehmen, Entfalten bewegt - und der Griff,
der das endlich Seiende hinabreißt in den Untergang, er
zieht auch schon in allem Fallen, Weichen, Dorren, Abnehmen,
Schrumpfen, Welken." 79
Die endlichen und beweglichen Dinge haben Teil am Walten der
Welt und der Mensch ist darüber hinaus durch sein Bewußtsein
in der Position der Mitwisserschaft mit der hervorbringenden
und vernichtenden Welt: Da er um die Vergänglichkeit weiß,
ist alle Zeugung und Geburt auch schon das Einverständnis
mit allem Tod. 80
Der Gedanke der Teilhabe des Menschen am Walten der Welt wird
in der Existentialphilosophie - Nietzsches Gedanke der ewigen
Wiederkehr - und in der Phänomenologie neu aufgelegt. Die
dualistische Scheidung des 'Sein' vom 'Nichts' samt der damit
verbundenen Folgen für Raum, Zeit und Bewegung wird in Frage
gestellt. Eugen Fink bemerkt: "Gesetzt den Fall, Bewegung
sei ursprünglich das Räumen und Zeitigen ..., dann
müßte offenbar jede Bewegungsinterpretation zu kurz
tragen, welche Raum und Zeit als fertige Stellensysteme ansieht,
in denen sich Bewegungen als Wandlungen des Raum- und Zeitinhalts
begeben." 81 Im ursprünglichen 'Räumen
und Zeitigen' wäre Bewegung statt Raum- und Zeitdurchmessung
Raum- und Zeitbildung. Im Gegensatz zum dualistischen Weltverständnis
konstituierten gerade die endlichen und beweglichen Dinge die
Welt, statt ihr unterworfen zu sein.
Entgegen der mathematischen Festlegung der Zeit 82
und der Bewegung ist Henri Bergson 83 zufolge
das Ergebnis der unmittelbaren Wahrnehmung die absolute Unteilbarkeit
jeder Veränderung und Bewegung. Das sich bewegende Ding
ist niemals an einem Punkt der Bahn, die es durchläuft,
es geht durch den Punkt hindurch. Die Gegenwart kann kein mathematischer
Jetztpunkt sein, da aus der Nulldimension zugehörigen Punkten
keine Zeit zusammengesetzt werden kann (es sei denn, man wendete,
gleich Aristoteles, einen Kunstgriff an).
Die als unteilbar wahrgenommene Zeit ist die Dauer. Die Dauer
ist die Kontinuität der Veränderung und sie kann nicht
in ein Davor oder ein Danach geschieden werden. Diese Zeit ist
die Kontinuität einer Abfolge, die nicht aus Teilen zusammengesetzt
ist. Das Ich, das der Dauer inne wird, besteht nicht aus fixen
Zuständen, aus deren Verschiedenheit sich die Persönlichkeit
zusammensetzte, sondern nur aus einer kontinuierlichen Veränderung,
die nirgendwo beginnt oder endet innerhalb seiner bewußten
Existenz, und "das ist unsere Persönlichkeit."
84 Es gibt Veränderungen, aber keine zugrundeliegenden,
unbewegten Träger. Die Veränderung in ihrer natürlichen
Unteilbarkeit ist die Substanz der Dinge selbst. Die Substanz
ist Bewegung und Veränderung, Bewegung und Veränderung
sind substantiell.
Gehört die Veränderung zum Wesen der Wirklichkeit,
so verändert sich die Bedeutung der Vergangenheit, die gemeinhin
im Verhältnis zur allein existierenden Gegenwart als nicht
seiend aufgefaßt wird. Die Gegenwart Bergsons ist ein Intervall
von Dauer. Die Dauer ist abhängig von der Bewußtseinsspanne,
die sie umfaßt. "Eine Aufmerksamkeit, die beliebig
ausdehnbar wäre, würde in ihrem Blickfeld ... einen
beliebig großen Teil von dem, was wir unsere Vergangenheit
nennen" 85 umspannen. Die Gegenwart hat
gerade soviel Spannweite, wie der Spannweite der Aufmerksamkeit
entspricht. Die Gegenwart versinkt erst dann in die Vergangenheit,
wenn das Bewußtsein aufhört, ihr ein lebendiges Interesse
zuzuwenden. Die vom Bewußtsein umspannte Vergangenheit
bildet ein Ganzes mit der Gegenwart und schafft mit ihr unaufhörlich
etwas absolut Neues. "Eine dem Leben zugewendete Aufmerksamkeit
von genügender Kraft und hinreichend gelöst von jedem
praktischen Interesse 86 würde so in einer
ungeteilten Gegenwart die ganze Geschichte einer bewußten
Persönlichkeit umspannen." 87 Das
Gegenwärtige ist nicht ein Augenblicksdasein aus aneinandergesetzten
Teilen, sondern ein kontinuierliches Gegenwärtiges, das
auch ein kontinuierlich Bewegliches ist. "Es handelt sich
um eine Gegenwart, die dauert." 88
Ebenso wie Bergson begreift auch Maurice Merleau-Ponty die
Zeitlichkeit vom Subjekt aus. Merleau-Ponty beschreibt den Hervorgang
von Gegenwart aus Vergangenheit, oder die Gegenwart, die das
Künftige ins Sein treibt als keine tatsächliche Folge
oder realen Prozeß. Die Folge entspringt vielmehr dem Verhältnis
des Subjekts zu den Dingen.
Der Blick des Subjekts wird zu der Bewegung, in der die Geschehnisse
der Gegenwart "mit dem doppelten Horizont von Vergangenheit
und Zukunft umgeben" 89 sind. Die Bewegung
ist der Wesenszug des Blickens. Der Akt des Blickens ist sowohl
prospektiv - der angeschaute Gegenstand liegt im Zielpunkt der
Fixierungsbewegung - als auch retrospektiv, da das, was der Blick
fixiert, das Motiv des gesamten Prozesses ist. "In jeder
Fixierungsbewegung verschlingt mein Leib eine Gegenwart, eine
Vergangenheit und eine Zukunft" 90 . Der
Blick bedarf einer ständigen Erneuerung, soll er nicht ins
Unbewußtsein zurücksinken. Es gibt keinen objektiven
Blick, denn der Anspruch auf Objektivität den der Wahrnehmungsakt
erhebt, "wird vom folgenden übernommen, wird neuerdings
enttäuscht und abermals erneuert." 91
Dank der Zeit sind vergangene Erfahrungen in die nachkommenden
eingefügt, aber nie ist das Ich im absoluten Besitz des
Ich, da "die Höhlung der Zukunft sich stets aufs neue
mit neuer Gegenwart ausfüllt. ... Jede Synthese ist in eins
gesprengt und erneuert durch die Zeit, die in ein und derselben
Bewegung sie in Frage stellt und bestätigt." 92
Die Synthese der Wahrnehmung ist zugleich eine zeitliche Synthese.
Dadurch entsteht eine wechselseitige Beziehung zwischen konstituierter
Zeit - jener, die der Leib im Akt des Blickens vollbringt - und
konstituierender Zeit - jener, die durch den Andrang der Zukunft
das Konstituierte sprengt. Der Leib ergreift Besitz von der Zeit
und läßt für eine Gegenwart Vergangenheit und
Zukunft dasein; er vollbringt die Zeit, statt ihr zu unterliegen.
93
Die Malerei, die durch ihre Korrespondenzen zur Leiblichkeit
immer im Körperlichen und im Sichtbaren ist, kann niemals
ganz und gar außerhalb der Zeit sein.