III. G r u n d l a g e n d e r
I n t e r p r e t a t i o n
III.1. Der nackte Leib als Motiv
III.1.1. Von der Erotik
Vollkommenheit schließt
jede Tür.
Kenneth Clark 12
Der nackte Körper in der Malerei vermag aufgrund der
transzendenten Kraft der Erotik die Existenz zu symbolisieren.
Seine Erscheinung spiegelt diese Kraft. Der grundsätzlichen
Unbestimmtheit der menschlichen Existenz wegen ist der nackte
Leib weder nur Abbild einer Idee, noch nur Objekt sexueller Begierde.
Abhängig von der ihm gegebenen Form in der Malerei bekommt
diese oder jene Seite mehr Gewicht, ohne die andere je ganz zu
verlieren.
Der Wunsch, einen anderen menschlichen Leib zu ergreifen und
mit ihm eins zu werden, ist ein so grundlegender Wesenszug der
menschlichen Natur, daß jedes Urteil über die 'reine
Form' davon unweigerlich beeinflußt wird. Der nackte Körper
weckt lebendige Assoziationen, die durch die Umsetzung in Kunst
nicht vollständig verlorengehen. Die Aktdarstellung vermag
eine Mischung aus Erinnerung und Sinnesempfindung zu wecken,
die geeignet ist, auf den dargestellten materiellen Gegenstand
hinzulenken. 13
Die Erscheinung des nackten Körpers ist eine Form der
Öffnung auf den Betrachter hin. "Nacktheit ist das
Gegenteil eines abgeschlossenen Zustandes, das heißt der
diskontinuierlichen Existenz. Sie ist ein Zustand der Kommunikation,
der die Suche nach einer möglichen Kontinuität des
Seins und den Wunsch offenbart, von der Ichbezogenheit loszukommen."
14 Die Kraft der Erotik ist darauf gerichtet,
die Struktur der Individuation zu überwinden und uns mit
dem allgemeinen Sein zu verbinden, das nach Bataille die Qualität
der Kontinuität im Gegensatz zur Diskontinuität des
vereinzelten und endlichen Individuums hat; die Individuation
trennt uns von der Kontinuität des Seins. In der erotischen
Handlung vermögen wir das Gefühl des Befangenseins
in unserer diskontinuierlichen Existenz durch ein Gefühl
tiefer Kontinuität zu ersetzen. Die Verschmelzung mit dem
anderen führt bis an die Grenze - nicht darüber, da
jenseits der Grenze der Tod des Individuums liegt - der Auflösung
der Individuen. "Im Übergang zwischen der Diskontinuität
zur Kontinuität steht ... das elementare Sein als Ganzes
auf dem Spiel." 15 "Es handelt sich
darum, in eine auf Diskontinuität gegründete Welt so
viel Kontinuität einzulassen, wie diese Welt ertragen kann."
16 Die sexuelle Erfahrung zeugt von der allgemeinen
Erfahrung des Menschseins: von Freiheit und Abhängigkeit.
Sie zeugt von der Möglichkeit, den abgeschlossenen Zustand
der Ordnung durchbrechen zu können und vom Befangensein
in demselben Zustand, da er das individuelle Sein begründet.
In der Aktdarstellung ist es die Form, die die Diskontinuität
bewahrt und das Erscheinen der Kontinuität ermöglicht:
sie liegt im Erscheinen des Materials und in der Verbindung zwischen
Bild und Betrachter. Das ambivalente Verhältnis zwischen
Ordnung und der Auflösung der Individuation im Einblick
in die Kontinuität spiegelt sich in den Formen des Ideals.
Sinnliche Anschauung, Erinnerung und Formvorstellungen fließen
in die spezifische Ausformung des Ideals ein, und das Auftreten
der Form hängt mit dem jeweiligen - kultischen bis profanen
- Impuls, der ihr zugrunde liegt, zusammen.
Das vollkommene Ideal ist, wie Charles Baudelaire 17
bemerkt, gleich dem vollkommenen Kreis eine Torheit. Das ausschließliche
Streben nach dem Einfachen führt zur Nachahmung des ewig
gleichen Typus und läßt das individuelle Sein außer
acht. "Die Künstler und die ganze menschliche Rasse
wären sehr unglücklich, wenn das Ideal ... gefunden
wäre. Was würde dann ein jeder mit seinem armseligen
Ich anfangen - mit seiner gebrochenen Linie?" 18
Die Schönheit des Aktes rührt aus der Abweichung vom
vollkommenen Schema - vom absoluten System - des Ideals, wie
gering sie auch sein mag.
Die Anwendung des absoluten Schemas entspräche der lückenlosen
Abbildung der Photographie, 19 in dem Sinne,
daß auch sie eine - allerdings technische - Vollkommenheit
suggeriert, die dem menschlichen Gedächtnis fremd ist. Im
Gedächtnisbild sind zeitliche und räumliche Sprünge,
da es mehr der Bedeutung der Gehalte folgt als der totalen Erscheinung
des Sichtbaren. Das Kunstwerk nähert sich dem Gedächtnisbild
an, indem es im Gegensatz zur Photographie den bloßen Oberflächenzusammenhang
zerstört, indem es Anschauung, Erinnerung und Formgebung
gleichermaßen entspringt. Sowohl eine zu verallgemeinernde
als auch eine zu exakte Nachahmung sind der Erinnerung - die
Baudelaire als das große Kriterium der Kunst bezeichnet
- hinderlich.
Ein grundlegender Impuls der Aktdarstellung ist, die ihrer
Natur nach ordnungslose Erotik mittels Formgebung dem Bewußtsein
zugänglich zu machen. Die sexuelle Anziehung ist wie Geburt
und Tod eine Konstante im Bewußtsein, die mit den unabwendbaren,
beständigen und zeitlosen menschlichen Existenzbedingungen
verbunden ist. Beruht auch die vernunftbestimmte Zivilisation
auf der Fürsorge um die Mittel, die das Leben sichern, so
kann doch zivilisiertes Leben nicht auf die Mittel reduziert
werden, die es möglich machen. "Über diese berechneten
Mittel hinaus suchen wir den Zweck ... dieser Mittel. ... Das
Verlangen nach Erotik zu stillen ... ist ... ein Zweck."
20
Die Erotik ist eine Bewegung, die der Bewegung der Existenz selbst
folgt. 21 Körper und Bewußtsein
stehen in einem unmittelbaren Verhältnis gegenseitiger Durchdringung.
Merleau-Ponty beschreibt Bezüge und Verhaltungen, die sowohl
im Bereich der Geschlechtlichkeit als auch im Bereich des Bewußtseins
zu finden sind. Jede körperliche Funktion, auch die geschlechtliche
Erregung, ist immer in die Ganzheit des Menschen integriert.
22 Das Wesen der Sinne erzeugt die Wechselwirkung
des Körpers mit der gesamten Existenz des Menschen. Die
Sinne haben nicht die Funktion von Werkzeugen, ihr Sein wird
vielmehr von der gesamten Existenz übernommen und angeeignet.
Die leibliche Existenz ermöglicht die Sinne und durch sie
können wir erst in ein Leben menschlicher Verhältnisse
eintreten. Durch die Geschlechtlichkeit können wir uns den
Leib - und damit der Möglichkeit nach die gesamte Existenz
- eines anderen Menschen erschließen. Weder Geschlechtlichkeit
noch Existenz können als Original des Menschseins gelten,
da sie einander wechselseitig voraussetzen. "Der Leib vermag
die Existenz zu symbolisieren, weil er sie selbst erst realisiert
und ihre aktuelle Wirklichkeit ist." 23
Der Leib ist der Spiegel des Seins, weil er ein 'natürliches
Ich' ist, und wir nie wissen, ob die uns tragenden Kräfte
die seinen oder die unseren sind; im Gegenteil sind sie nie gänzlich
die seinen oder die unseren. Die menschliche Existenz ist wesentlich
zweideutig. "Geschlechtlichkeit und Existenz durchdringen
einander, die Existenz strahlt in die Geschlechtlichkeit, die
Sexualität in die Existenz aus, so daß die Feststellung
des Anteils sexueller Motivation und desjenigen andersartiger
Motivationen für einen bestimmten Entschluß oder eine
gegebene Handlung unmöglich ist, unmöglich, einen solchen
Entschluß oder eine solche Handlung als 'sexuell bedingt'
oder als 'nicht sexuell bedingt' zu charakterisieren. ... Die
Existenz ist in sich unbestimmt auf Grund ihrer fundamentalen
Struktur, insofern sie selbst der Vollzug ist, durch den, was
keinen Sinn hatte, einen Sinn gewinnt, was nur einen sexuellen
Sinn hatte, eine umfassendere Bedeutung annimmt. ... Diese Bewegung,
in der die Existenz eine faktische Situation sich zu eigen macht
und verwandelt, nennen wir die Transzendenz." 24
Begierde und Liebe haben metaphysische Bedeutung.
Bataille beschreibt die der Sexualität innewohnende transzendente
Kraft auf direktere Weise: Zwar ist die Sehnsucht nach der Verschmelzung
mit dem anderen Wesen im Grunde das Streben nach etwas Unmöglichem,
da das Ende der Individuation zugleich den Tod des diskontinuierlichen
Wesens bedeutete. Dennoch ist nichts Illusorisches in der Wahrheit
der Liebe. Über das geliebte Wesen verschwindet die Vielfalt
der Welt für den Liebenden und wird der Grund und die Einfachheit
des Seins erfaßt. Das geliebte Wesen kommt für den
Liebenden der Wahrheit des Seins gleich, es bedeutet die Transparenz
der Welt, da wir durch es Einblick erlangen in die Kontinuität
des Seins.
Die Erotik entsteht erst in dem Moment, da sich der Mensch seiner
Vergänglichkeit bewußt wird. Das volle Bewußtsein
der tiefen Vereinigung muß immer zugleich von der Möglichkeit
der Trennung vom kontinuierlichen Sein der Vereinigung und von
der grundsätzlichen Trennung des Wesens von seinem diskontinuierlichen
Sein, dem Tod, Kenntnis nehmen. Trotz der Möglichkeit der
Trennung und des damit verbundenen Schmerzes scheint das kontinuierliche
Sein für uns - und unser Bewußtsein - als Urgrund,
der jeder Individuation zugrunde liegt, eine höhere Wahrheit
zu haben als das vereinzelte Sein allein.
Die anschauliche Erscheinung des Körpers spiegelt die
transzendente Kraft der Erotik; in ihr sind Abgeschlossenheit
und Öffnung verbunden. Die Haut verbindet Außen und
Innen des Körpers. 25 Sie ist ein sowohl
abschließendes als auch durchlässiges Gewebe, im biologischen
wie im visuellen Sinne. Sie vermag Stoffe sowohl abzusondern
als auch aufzunehmen. Ihre Oberfläche ist transparent, lichtdurchlässig
und zugleich reflektierend. Im Inkarnat sind die Primärfarben
Rot, Gelb und Blau enthalten, aber es kann nicht als eine bestimmte
Farbe definiert werden. "Jene besondere Substanz mit ihrer
weder weißen noch rosigen Farbe, mit ihrer weichen, doch
wechselnden Beschaffenheit, die das Licht aufsaugt und es auch
zurückwirft, die zart und doch gespannt, strahlend und matt,
zugleich schön und jämmerlich ist, bietet sicherlich
das schwierigste Problem, das jemals einem Maler mit Hilfe von
dickflüssigen Pigmenten und mit klebendem Pinsel zu lösen
auferlegt wurde." 26