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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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III.1.2. Vom Ideal

 

Sinnliche Anschauung, eine Vorstellung von harmonischen Formen und ein philosophischer Impuls bestimmen das Ideal des griechischen Akts, er ist ein Ausgleich zwischen idealem Schema und den funktionellen Gegebenheiten des Körpers. In dieser Verbindung liegt Kenneth Clark zufolge die Funktion des griechischen Aktes: daß er die Furcht vor dem Unbekannten - der Vergänglichkeit und dem Tod - zu nehmen vermag. Seine Erscheinung suggeriert, daß die Götter den Menschen gleich seien und mehr um ihrer lebenspendenden Schönheit als um ihrer tod-drohenden Macht verehrt werden können.
Den Zusammenhang zwischen griechischem Ideal und Philosophie beschreibt Aristoteles: Die Kunst vermag zu vervollständigen, was die Natur nicht zu Ende bringen kann. Das unverwirklichte Ziel der Natur ist die ideale Form, deren mehr oder weniger verzerrte Erscheinung die realen Phänomene sind. Der nackte Körper kann seiner Unvollkommenheit wegen nicht durch einfache Umsetzung zur Kunst gestaltet werden. Er verlangt nach dem Schema des Ideals.
Die griechische Entdeckung, daß der Akt eine ihnen adäquate Kunstform sei, hängt einerseits mit ihrem Glauben an die Harmonie von Zahlenverhältnissen zusammen, 27 andererseits mit der Wertschätzung des nackten Körpers, die sich im Kult der Nacktheit bei den olympischen Spielen und der häufig praktizierten Knabenliebe zeigt. In der Erkenntnis der Bedeutsamkeit körperlicher Schönheit drückt sich "ihr Gefühl für die Ganzheit des Menschen aus." 28 Das Gefühl der Einheit von Körper und Geist befähigt die Hellenen, "abstrakten Ideen eine sinnlich greifbare und zumeist menschliche Form zu geben." 29 Der höchste rationelle Begriff der mathematischen Regel wird mit dem vorhandenen Körper und dem Glauben an die menschliche Gestalt der Götter vereinigt. Der rohe Trieb der von dionysischer Maßlosigkeit bestimmten Erotik wird durch das Zusammenfügen von idealer Form und sinnlicher Anschauung dem Bewußtsein zugänglich.
Entscheidend für die Formensprache des weiblichen griechischen Akts - der sich aus der ursprünglich männlichen Form entwickelte - ist die Standbein-Spielbein Stellung. Durch die Art der Gewichtsverteilung entsteht ein Gegensatz zwischen dem hochgeschwungenen Hüftbogen und der "weichen Wellenlinie der entspannten Seite" 30 , die zusammen die Ausgewogenheit der Formen ergeben. Im Hüftschwung vereinen sich sinnliche und geometrische Anschauung: die geometrische Kurve wird zum lebendigen Symbol der Sinnlichkeit. Durch die Ausgewogenheit zwischen Spannung und Entspannung drückt sich ein Ideal des Gleichgewichts aus. Leibliche Leidenschaft ist mit Ruhe und Natürlichkeit in der Aktdarstellung verbunden, "so daß ihr Anblick in allen das Empfinden wachrief, sie teilten die Instinkte, die sie mit den Tieren teilten, auch mit den Göttern." 31

Schon Platon unterscheidet - ich vermute aufgrund ihrer doppelten Herkunft aus idealem Maß und Anschauung - zwischen der himmlischen (Venus Coelestis) und der irdischen Venus (Venus Naturalis). Diese Unterscheidung Platons wurde im Mittelalter und in der Renaissance zur Rechtfertigung der Aktdarstellung benutzt. Indem die Venus aufhörte irdisch zu sein, konnte sie zu einem Läuterungsmittel der leiblichen Begierde werden.
Der mittelalterlichen Aktdarstellung liegt ein mystisches Zahlenverhältnis göttlicher Herkunft zugrunde. Entgegen der griechischen, geometrischen Auffassung ist das mittelalterliche Zahlenverhältnis weder anschaulich noch durfte die Darstellung des menschlichen Körpers mit sinnlicher Anschauung überhaupt in Verbindung gebracht werden.
Demzufolge findet zwischen dem klassischen griechischen und dem gotischen Ideal eine Proportionsverschiebung statt. Kennzeichnend für das Ideal des gotischen Aktes sind die Längung des Körpers und der vorgewölbte Leib. Er unterscheidet sich vom hellenistischen Ideal durch das breitere Becken, die engere Brust und die höhere Gürtellinie. Während beim griechischen Akt die Rundung der Hüfte den entscheidenden Rhythmus angibt, liegt er beim gotischen Akt in der Wölbung des Leibes. Der Schwung der griechischen Hüfte erzeugt einen Druck nach oben und ist Ausdruck der Spannkraft. Die Rundung des Leibes dagegen wird durch Schwerkraft und Entspannung bewirkt. Der gotische Leib gewinnt seine "Form nicht durch den Willen, sondern aus dem unbewußten biologischen Vorgang, durch den alle ... Organismen geformt werden." 32 Der Leib wird durch keine Andeutung von Muskeln oder Knochen aufgeteilt und er ist so weit als möglich vom animalischen Vorbild entfernt.
Die Entfernung des gotischen Ideals vom animalischen Vorbild erinnert an die Beschreibung weiblicher Schönheit durch Georges Bataille: "Der erotische Wert der weiblichen Formen ist ... an das Zurücktreten jener natürlichen Schwerfälligkeit gebunden, die an den materiellen Gebrauch der Glieder und die Notwendigkeit eines Knochengerüsts erinnert: Je unwirklicher die Formen sind, je weniger deutlich sie der tierischen Wirklichkeit des Menschen angepaßt sind, desto besser entsprechen sie dem ziemlich allgemein verbreiteten Bild einer begehrenswerten Frau." 33 Dennoch könnte dieses Bild kein Begehren provozieren, wenn es nicht zugleich einen verborgenen animalischen Aspekt offenbarte, der viel suggestiver wirkt. Die Schönheit der begehrenswerten Frau weist auf ihre Schamteile hin: gerade die behaarten, die animalischen Partien.
Obgleich das gotische Ideal nicht unmittelbar der sinnlichen Wahrnehmung entspringt, ist es doch mittels der Erinnerung und dem Gedächtnisbild mit der leiblichen Erscheinung verbunden. Die animalische Schönheit ist - wenn auch verborgen - im gotischen Akt ebenso enthalten wie im klassischen, auch er verkörpert einen erotischen Aspekt - obgleich der der Erotik zugewiesene Ort in der Malerei zumeist die Hölle ist. Im Vergleich zum ewigen Glück gilt das Glück des Augenblicks als sündige Angelegenheit, die zu Schuldgefühlen verpflichtet. Indem das christliche Paradies in erster Linie der Lohn einer Anstrengung ist, verzögert die erotische Handlung den höchsten Lohn für irdisches Bemühen.
Entstanden aus Demut und Schamgefühl wird das gotische Ideal unter dem Einfluß der beginnenden Renaissance in der Dürerzeit zum Ausdrucksmittel aufreizender Erotik.

In der Kunst der Renaissance treffen christliche und heidnisch-antike Einflüsse zusammen. Die Renaissance verbindet die Venus Coelestis mit der Venus Naturalis. 34 Sie wendet sich vom Mystizismus der mittelalterlichen Formenlehre ab und der antiken Überlieferung und ihren Maßvorstellungen zu. Die grundlegenden Haltungen und Stellungen gehen auf die Formenüberlieferung der Antike zurück. Die Theoretiker und Maler der Renaissance waren davon besessen, die Schönheit des Aktes auf eindeutige Maßverhältnisse zurückführen zu können und die Schönheit erklärbar zu machen. Alle Erklärungsversuche waren jedoch letztlich nicht befriedigend, weshalb auch die fanatischsten Verfechter des meßbaren Ideals - Leonardo und Dürer - sich letztlich von ihren selbst gesetzten Schemata wieder abwandten.
Der Rückbezug auf die klassischen griechischen Proportionen ist nicht von Dauer, er kann es nicht sein, da der grundsätzliche inhaltliche Impuls in den vom Christentum geprägten Zeitaltern ein anderer ist, da Diesseits und Jenseits in anderer Weise getrennt bzw. verbunden sind als in der griechischen Mythologie.

So rückt der Manierismus abermals vom natürlichen Rhythmus des menschlichen Körpers ab. Die übernatürliche Gliederlänge hängt mit gotischer Formensprache und deren Intentionen zusammen. Vor allem in Frankreich entsteht eine starke Längung der Figur. Die Gliedmaßen entbehren jeder Funktionalität. In ihrer Darstellung wird alles abgelehnt, was mit Natur zusammenhängt. "Genau genommen sollten die ... Damen von Fontainebleau nicht als Venus Naturalis bezeichnet werden. Auch sind sie nicht himmlisch im engeren Sinne, denn trotz ihrer Entrücktheit von gemeiner Erfahrung, vom alltäglichen Erlebnis, sind sie dafür berechnet, Wünsche zu wecken, und anscheinend weckt tatsächlich gerade diese Besonderheit der Proportionen erotische Wunschträume". 35

Auch im 19. Jahrhundert tauchen neben klassischen Formen erneut gotische, manieristische und orientalisierende Idealformen auf. 36 Die Übernahme dieser Formensprachen deutet auf eine Furcht vor dem Körper, die nicht wie im frühen Christentum auf dem Einfluß der Religion basiert, sondern laut Clark eher notwendiger Bestandteil der Fassade ist, hinter der sich die soziale Revolution des 19. Jahrhundert abspielt. Ihre Funktion ist die planmäßige Ausschaltung der Wirklichkeit, die sich in der Hinkehr zu Formen des Ideals zeigt, die nicht dem Zeitalter selbst entspringen.
Obgleich die klassische griechische Kunst bewundert wurde, wurde doch der Impuls verdammt, der sie ins Leben rief. Die Erotik wird beherrscht vom berechnenden Bewußtsein und die Abgründe dionysischer Zügellosigkeit sind aus dem Bereich des zivilisierten Lebens verdammt. Dies mag die übermäßige Abkühlung der Akte des 19. Jahrhundert erklären. "Es wäre leichter, eine Alraunwurzel zu befruchten, als die marmornen Venusgestalten der Victorianer für begehrenswert zu halten" 37 : Wir "müssen uns dessen bewußt sein, was wir durch das Bewußtsein verlieren: mit zunehmender Einsicht verbindet sich eine zunehmende Abkühlung. Das Mensch-Sein nimmt uns gefangen, und gebunden an unser Bewußtsein beginnen wir den unvermeidlichen Verlust zu überschauen ... [... im Text] deshalb gilt nicht weniger, daß erst das Bewußte menschlich ist." 38 Da die Akte des nützlichkeitsbeflissenen 19. Jahrhundert des griechischen Impulses der menschlichen Notwendigkeiten entbehren, werden sie gerade durch die Übernahme des Ideals leblos, und die Form degeneriert zur vordergründigen Hülle.

Die grundsätzliche Tendenz der Erotik, sich von der dionysischen Zügellosigkeit zu entfernen, setzt sich in der Moderne des 19. und 20. Jahrhundert fort. Das Zeitalter ist wesentlich bestimmt von der 'Unmenschlichkeit der Disziplin.' "Die Welt ergibt sich endlich der Vernunft. Und mit der Vernunft erhebt sie ... die Arbeit zu ihrem obersten Gesetz." 39 Die Malerei als Spiegel dieser Orientierung an der Vernunft entwickelt sich hauptsächlich entgegen dem Idealismus. Manet vollzieht einen radikalen Bruch mit der konventionellen Malerei, indem er nur noch das darstellt, was er sieht und nicht, was er hätte sehen sollen. "Die Brüskheit der Manetschen Akte mildert weder der Schleier der Gewohnheit - der deprimiert - noch der der Konvention - der kaschiert." 40 Aus der Orientierung an der Vernunft resultiert eine Sehweise, die einerseits die Dinge funktionalisiert und von jeder Idealisierung Abstand nimmt, die aber andererseits die bloße visuelle Erscheinung erstmals ins Zentrum der Darstellung rückt.

Doch ist die Orientierung an der Vernunft kein Endpunkt. Vielleicht ist es möglich, im Durchgang durch das Bewußtsein und über den Einsatz der Mittel hinaus, dem grundsätzlichen Impuls, durch den die Erotik mit den menschlichen Existenzbedingungen verbunden ist (dem, was Bataille 'Zweck' nennt), wieder nahezukommen. Die Erscheinung des Körpers zeigt die leibliche und spiegelt die transzendente Kraft der Erotik, und die Malerei, da sie eine Sprache jenseits des reinen Logos ist, vermag mittels ihrer kommunikativen Kraft etwas davon sichtbar zu machen.


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27 Pythagoras gab den harmonischen Zahlenverhältnissen die Form der Geometrie. Vitruv fand als Grundlage aller harmonischen Proportionierung den menschlichen Körper, da er mit ausgestreckten Armen in die beiden vollkommenen geometrischen Formen des Quadrats und des Kreises passe. Zwar resultierten daraus keine strengen mathematischen Regeln - zumindest sind meines Wissens keine bekannt - nach denen ein schöner Akt gebaut werden kann, doch liegen grundsätzlich geometrische Maßbegriffe seinem Aufbau zugrunde.

28 Clark, 1958, S. 25.

29 Clark, 1958, S. 25.

30 Clark, 1958, S. 82.

31 Clark, 1958, S. 85.

32 Clark, 1958, S. 320.

33 Bataille, 1963, S. 140 f.

34 Botticelli fügt den sehnsüchtigen Kopf einer Madonna mit der Sinnlichkeit des nackten Körpers zusammen. "Daß das Haupt unserer christlichen Gottheit mit all ihrer zärtlichen Anteilnahme und ihrem pflichtbewußten Innenleben sich ohne den Schatten eines Mißklangs auf einen nackten Körper fügen läßt, ist der höchste Triumph der himmlischen Venus" (Clark, 1958, S. 107).

35 Clark, 1958, S. 141.

36 Der unklassische gotisierende und orientalisierende Zug ist auch in Ingres' 'Großer Odaliske' enthalten. Siehe Kap. IV.2. dieser Arbeit.

37 Clark, 1958, S. 161.

38 Bataille, 1965, S. 91.

39 Bataille, 1965, S. 77.

40 Bataille, 1965, S. 82.


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