III.1.2. Vom Ideal
Sinnliche Anschauung, eine Vorstellung von harmonischen Formen
und ein philosophischer Impuls bestimmen das Ideal des griechischen
Akts, er ist ein Ausgleich zwischen idealem Schema und den funktionellen
Gegebenheiten des Körpers. In dieser Verbindung liegt Kenneth
Clark zufolge die Funktion des griechischen Aktes: daß
er die Furcht vor dem Unbekannten - der Vergänglichkeit
und dem Tod - zu nehmen vermag. Seine Erscheinung suggeriert,
daß die Götter den Menschen gleich seien und mehr
um ihrer lebenspendenden Schönheit als um ihrer tod-drohenden
Macht verehrt werden können.
Den Zusammenhang zwischen griechischem Ideal und Philosophie
beschreibt Aristoteles: Die Kunst vermag zu vervollständigen,
was die Natur nicht zu Ende bringen kann. Das unverwirklichte
Ziel der Natur ist die ideale Form, deren mehr oder weniger verzerrte
Erscheinung die realen Phänomene sind. Der nackte Körper
kann seiner Unvollkommenheit wegen nicht durch einfache Umsetzung
zur Kunst gestaltet werden. Er verlangt nach dem Schema des Ideals.
Die griechische Entdeckung, daß der Akt eine ihnen adäquate
Kunstform sei, hängt einerseits mit ihrem Glauben an die
Harmonie von Zahlenverhältnissen zusammen, 27
andererseits mit der Wertschätzung des nackten Körpers,
die sich im Kult der Nacktheit bei den olympischen Spielen und
der häufig praktizierten Knabenliebe zeigt. In der Erkenntnis
der Bedeutsamkeit körperlicher Schönheit drückt
sich "ihr Gefühl für die Ganzheit des Menschen
aus." 28 Das Gefühl der Einheit von
Körper und Geist befähigt die Hellenen, "abstrakten
Ideen eine sinnlich greifbare und zumeist menschliche Form zu
geben." 29 Der höchste rationelle
Begriff der mathematischen Regel wird mit dem vorhandenen Körper
und dem Glauben an die menschliche Gestalt der Götter vereinigt.
Der rohe Trieb der von dionysischer Maßlosigkeit bestimmten
Erotik wird durch das Zusammenfügen von idealer Form und
sinnlicher Anschauung dem Bewußtsein zugänglich.
Entscheidend für die Formensprache des weiblichen griechischen
Akts - der sich aus der ursprünglich männlichen Form
entwickelte - ist die Standbein-Spielbein Stellung. Durch die
Art der Gewichtsverteilung entsteht ein Gegensatz zwischen dem
hochgeschwungenen Hüftbogen und der "weichen Wellenlinie
der entspannten Seite" 30 , die zusammen
die Ausgewogenheit der Formen ergeben. Im Hüftschwung vereinen
sich sinnliche und geometrische Anschauung: die geometrische
Kurve wird zum lebendigen Symbol der Sinnlichkeit. Durch die
Ausgewogenheit zwischen Spannung und Entspannung drückt
sich ein Ideal des Gleichgewichts aus. Leibliche Leidenschaft
ist mit Ruhe und Natürlichkeit in der Aktdarstellung verbunden,
"so daß ihr Anblick in allen das Empfinden wachrief,
sie teilten die Instinkte, die sie mit den Tieren teilten, auch
mit den Göttern." 31
Schon Platon unterscheidet - ich vermute aufgrund ihrer doppelten
Herkunft aus idealem Maß und Anschauung - zwischen der
himmlischen (Venus Coelestis) und der irdischen Venus (Venus
Naturalis). Diese Unterscheidung Platons wurde im Mittelalter
und in der Renaissance zur Rechtfertigung der Aktdarstellung
benutzt. Indem die Venus aufhörte irdisch zu sein, konnte
sie zu einem Läuterungsmittel der leiblichen Begierde werden.
Der mittelalterlichen Aktdarstellung liegt ein mystisches Zahlenverhältnis
göttlicher Herkunft zugrunde. Entgegen der griechischen,
geometrischen Auffassung ist das mittelalterliche Zahlenverhältnis
weder anschaulich noch durfte die Darstellung des menschlichen
Körpers mit sinnlicher Anschauung überhaupt in Verbindung
gebracht werden.
Demzufolge findet zwischen dem klassischen griechischen und dem
gotischen Ideal eine Proportionsverschiebung statt. Kennzeichnend
für das Ideal des gotischen Aktes sind die Längung
des Körpers und der vorgewölbte Leib. Er unterscheidet
sich vom hellenistischen Ideal durch das breitere Becken, die
engere Brust und die höhere Gürtellinie. Während
beim griechischen Akt die Rundung der Hüfte den entscheidenden
Rhythmus angibt, liegt er beim gotischen Akt in der Wölbung
des Leibes. Der Schwung der griechischen Hüfte erzeugt einen
Druck nach oben und ist Ausdruck der Spannkraft. Die Rundung
des Leibes dagegen wird durch Schwerkraft und Entspannung bewirkt.
Der gotische Leib gewinnt seine "Form nicht durch den Willen,
sondern aus dem unbewußten biologischen Vorgang, durch
den alle ... Organismen geformt werden." 32
Der Leib wird durch keine Andeutung von Muskeln oder Knochen
aufgeteilt und er ist so weit als möglich vom animalischen
Vorbild entfernt.
Die Entfernung des gotischen Ideals vom animalischen Vorbild
erinnert an die Beschreibung weiblicher Schönheit durch
Georges Bataille: "Der erotische Wert der weiblichen Formen
ist ... an das Zurücktreten jener natürlichen Schwerfälligkeit
gebunden, die an den materiellen Gebrauch der Glieder und die
Notwendigkeit eines Knochengerüsts erinnert: Je unwirklicher
die Formen sind, je weniger deutlich sie der tierischen Wirklichkeit
des Menschen angepaßt sind, desto besser entsprechen sie
dem ziemlich allgemein verbreiteten Bild einer begehrenswerten
Frau." 33 Dennoch könnte dieses Bild
kein Begehren provozieren, wenn es nicht zugleich einen verborgenen
animalischen Aspekt offenbarte, der viel suggestiver wirkt. Die
Schönheit der begehrenswerten Frau weist auf ihre Schamteile
hin: gerade die behaarten, die animalischen Partien.
Obgleich das gotische Ideal nicht unmittelbar der sinnlichen
Wahrnehmung entspringt, ist es doch mittels der Erinnerung und
dem Gedächtnisbild mit der leiblichen Erscheinung verbunden.
Die animalische Schönheit ist - wenn auch verborgen - im
gotischen Akt ebenso enthalten wie im klassischen, auch er verkörpert
einen erotischen Aspekt - obgleich der der Erotik zugewiesene
Ort in der Malerei zumeist die Hölle ist. Im Vergleich zum
ewigen Glück gilt das Glück des Augenblicks als sündige
Angelegenheit, die zu Schuldgefühlen verpflichtet. Indem
das christliche Paradies in erster Linie der Lohn einer Anstrengung
ist, verzögert die erotische Handlung den höchsten
Lohn für irdisches Bemühen.
Entstanden aus Demut und Schamgefühl wird das gotische Ideal
unter dem Einfluß der beginnenden Renaissance in der Dürerzeit
zum Ausdrucksmittel aufreizender Erotik.
In der Kunst der Renaissance treffen christliche und heidnisch-antike
Einflüsse zusammen. Die Renaissance verbindet die Venus
Coelestis mit der Venus Naturalis. 34 Sie wendet
sich vom Mystizismus der mittelalterlichen Formenlehre ab und
der antiken Überlieferung und ihren Maßvorstellungen
zu. Die grundlegenden Haltungen und Stellungen gehen auf die
Formenüberlieferung der Antike zurück. Die Theoretiker
und Maler der Renaissance waren davon besessen, die Schönheit
des Aktes auf eindeutige Maßverhältnisse zurückführen
zu können und die Schönheit erklärbar zu machen.
Alle Erklärungsversuche waren jedoch letztlich nicht befriedigend,
weshalb auch die fanatischsten Verfechter des meßbaren
Ideals - Leonardo und Dürer - sich letztlich von ihren selbst
gesetzten Schemata wieder abwandten.
Der Rückbezug auf die klassischen griechischen Proportionen
ist nicht von Dauer, er kann es nicht sein, da der grundsätzliche
inhaltliche Impuls in den vom Christentum geprägten Zeitaltern
ein anderer ist, da Diesseits und Jenseits in anderer Weise getrennt
bzw. verbunden sind als in der griechischen Mythologie.
So rückt der Manierismus abermals vom natürlichen
Rhythmus des menschlichen Körpers ab. Die übernatürliche
Gliederlänge hängt mit gotischer Formensprache und
deren Intentionen zusammen. Vor allem in Frankreich entsteht
eine starke Längung der Figur. Die Gliedmaßen entbehren
jeder Funktionalität. In ihrer Darstellung wird alles abgelehnt,
was mit Natur zusammenhängt. "Genau genommen sollten
die ... Damen von Fontainebleau nicht als Venus Naturalis bezeichnet
werden. Auch sind sie nicht himmlisch im engeren Sinne, denn
trotz ihrer Entrücktheit von gemeiner Erfahrung, vom alltäglichen
Erlebnis, sind sie dafür berechnet, Wünsche zu wecken,
und anscheinend weckt tatsächlich gerade diese Besonderheit
der Proportionen erotische Wunschträume". 35
Auch im 19. Jahrhundert tauchen neben klassischen Formen erneut
gotische, manieristische und orientalisierende Idealformen auf.
36 Die Übernahme dieser Formensprachen
deutet auf eine Furcht vor dem Körper, die nicht wie im
frühen Christentum auf dem Einfluß der Religion basiert,
sondern laut Clark eher notwendiger Bestandteil der Fassade ist,
hinter der sich die soziale Revolution des 19. Jahrhundert abspielt.
Ihre Funktion ist die planmäßige Ausschaltung der
Wirklichkeit, die sich in der Hinkehr zu Formen des Ideals zeigt,
die nicht dem Zeitalter selbst entspringen.
Obgleich die klassische griechische Kunst bewundert wurde, wurde
doch der Impuls verdammt, der sie ins Leben rief. Die Erotik
wird beherrscht vom berechnenden Bewußtsein und die Abgründe
dionysischer Zügellosigkeit sind aus dem Bereich des zivilisierten
Lebens verdammt. Dies mag die übermäßige Abkühlung
der Akte des 19. Jahrhundert erklären. "Es wäre
leichter, eine Alraunwurzel zu befruchten, als die marmornen
Venusgestalten der Victorianer für begehrenswert zu halten"
37 : Wir "müssen uns dessen bewußt
sein, was wir durch das Bewußtsein verlieren: mit zunehmender
Einsicht verbindet sich eine zunehmende Abkühlung. Das Mensch-Sein
nimmt uns gefangen, und gebunden an unser Bewußtsein beginnen
wir den unvermeidlichen Verlust zu überschauen ... [...
im Text] deshalb gilt nicht weniger, daß erst das Bewußte
menschlich ist." 38 Da die Akte des nützlichkeitsbeflissenen
19. Jahrhundert des griechischen Impulses der menschlichen Notwendigkeiten
entbehren, werden sie gerade durch die Übernahme des Ideals
leblos, und die Form degeneriert zur vordergründigen Hülle.
Die grundsätzliche Tendenz der Erotik, sich von der dionysischen
Zügellosigkeit zu entfernen, setzt sich in der Moderne des
19. und 20. Jahrhundert fort. Das Zeitalter ist wesentlich bestimmt
von der 'Unmenschlichkeit der Disziplin.' "Die Welt ergibt
sich endlich der Vernunft. Und mit der Vernunft erhebt sie ...
die Arbeit zu ihrem obersten Gesetz." 39
Die Malerei als Spiegel dieser Orientierung an der Vernunft entwickelt
sich hauptsächlich entgegen dem Idealismus. Manet vollzieht
einen radikalen Bruch mit der konventionellen Malerei, indem
er nur noch das darstellt, was er sieht und nicht, was er hätte
sehen sollen. "Die Brüskheit der Manetschen Akte mildert
weder der Schleier der Gewohnheit - der deprimiert - noch der
der Konvention - der kaschiert." 40 Aus
der Orientierung an der Vernunft resultiert eine Sehweise, die
einerseits die Dinge funktionalisiert und von jeder Idealisierung
Abstand nimmt, die aber andererseits die bloße visuelle
Erscheinung erstmals ins Zentrum der Darstellung rückt.
Doch ist die Orientierung an der Vernunft kein Endpunkt. Vielleicht
ist es möglich, im Durchgang durch das Bewußtsein
und über den Einsatz der Mittel hinaus, dem grundsätzlichen
Impuls, durch den die Erotik mit den menschlichen Existenzbedingungen
verbunden ist (dem, was Bataille 'Zweck' nennt), wieder nahezukommen.
Die Erscheinung des Körpers zeigt die leibliche und spiegelt
die transzendente Kraft der Erotik, und die Malerei, da sie eine
Sprache jenseits des reinen Logos ist, vermag mittels ihrer kommunikativen
Kraft etwas davon sichtbar zu machen.