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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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III.2. Der Leib und das Kunstwerk

III.2.1. Zum Verhältnis von Bild und Welt

 

Das Fleisch hat seinen eigenen Geist.
Heiner Müller 41

 

Das Prinzip der Einsheit des Seienden liegt im neuzeitlichen Dualismus, dessen Entstehung Eugen Fink 42 bei Leibniz beschreibt, in der 'Identität des Ich'. Die 'Identität des Ich', das Subjekt, ist ständig und objektiv. Das subjektive Ich sieht das Seiende von Innen; es ist seine Vorstellung. Das Objekt ist das Korrelat zum Subjekt. Vom Objekt ist das Äußere sichtbar. Es ist das, was das subjektive Ich sich vorstellt und es hat weder das Vermögen, sich selbst zu äußern, noch kann es je wahrhaft gesehen werden. Die sinnliche Wahrnehmung hat in diesem Seinsmodell keinen Wahrheitsgehalt.
Dem Prinzip dieses Modells entspricht das Bild als 'finestra aperta'. 43 Das Bild ist für den Betrachter ein frontales Objekt und dessen Gehalt ist seine intelligible Vorstellung. Der Betrachter steht sowohl vor der Bildfläche als auch vor der dargestellten Bildwelt. Die Tätigkeit des Auges entspricht im Fenstermodell dem Sehstrahl der Camera Obscura. Das Sehen selbst ist eine passive Tätigkeit vor dem gerichteten und in sich geschlossenen Hintereinander der festliegenden Bildordnung, "die im Prinzip meßbar und deshalb auch konstruktiv zu simulieren ist." 44

Im vorsokratischen Verständnis umfaßt das Prinzip der Einsheit des Seienden Subjekt und Objekt; beide haben einen allgemein ontologischen Sinn. Alles Seiende und die Dinge sind wechselseitig füreinander Subjekte und Objekte. Jedem Seienden liegt das Subjekt (Hypokeimenon) als Unterlage für alle seine Eigenschaften und Zustände zugrunde. Zugleich ist jedes Seiende Objekt (Antikeimenon), nicht als Gegenstück zum Subjekt, sondern als Grundweise, wie Seiendes sich Seiendem darbietet, als Sichäußerndes für die benachbarten Dinge.
Diesem ontologischen Verständnis folgend entwerfen Bilder nicht eine frontale Objektwelt, die immer in Distanz bleibt, sie sind keine von außen gesehenen Objekte sondern sichäußernde. Sie sind selbst das Tun der Wirklichkeit. Sowohl die dargestellten Phänomene als auch das Bildphänomen selbst sind Subjekte als Träger ihrer Eigenschaften. In diesem Seinsmodell steht das Auge nicht wie im Fenstermodell dem Bild frontal gegenüber. Auge und Bild stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Motiv und Maler, Bild und Betrachter sind wechselseitig Subjekte und Objekte. Das Geschaute ist nicht die Vorstellung des Ich, sondern es ist als Äußerung des anderen wahrhaft.

Nicht zufällig erklärt Merleau-Ponty in seinem Spätwerk die Kunst zum Organon seines Denkens. Nach eigenen Äußerungen versucht er die in der 'Phänomenologie der Wahrnehmung' noch bestehende Trennung zwischen Bewußtsein und Objekt aufzuheben.
Schon Nietzsche spricht der Kunst in der 'Geburt der Tragödie' eine versöhnlichen Kraft zu, die die Trennung zwischen sinnlicher und intelligibler Welt im rauschhaften Zustand der Rezeption des Kunstwerks aufzuheben vermag. Konrad Fiedler versucht die Trennung zwischen isoliertem Subjekt und einer für sich bestehenden Realität durch die Einheit des Körpers als einem Substrat von sinnlich-geistigen Zusammenhängen aufzuheben. Er spricht der künstlerischen Tätigkeit das Vermögen zu, durch die Kanalisierung der Sinnesdaten im Körper das Wahrgenommene zur Sichtbarkeit gestalten zu können. Die Ausdruckstätigkeit des Auges setzt Fiedler dem Kantischen 'Ding an sich' entgegen.
In der 'Phänomenologie der Wahrnehmung' definiert Merleau-Ponty 'Welt' ausgehend vom Wesen der Wahrnehmung. 'Welt' ist für Merleau-Pontys phänomenologisches Verständnis 45 im Gegensatz zu jenem, das das 'Ding an sich' als der Wahrnehmung nicht zugänglich und die wahrgenommenen Phänomene zum Schein erklärt das, was wir wahrnehmen. Relevant ist nicht, ob wir eine Welt wirklich wahrnehmen, sondern die Welt ist eben das, was wir wahrnehmen, kein seienderes Sein liegt außerhalb dieser Welt. "Dem Wesen der Wahrnehmung nachgehen heißt davon ausgehen, daß Wahrnehmung nicht nur angeblich oder vermeintlich wahr, sondern für uns definiert ist als Zugang zur Wahrheit." 46 Es gibt kein objektives Sein außerhalb des subjektiven Sinneseindrucks, zu dessen Wahrnehmung uns der Weg versperrt wäre. Das Ich stellt sich die Dinge nicht vor, die Dinge sind das, was das Ich wahrnimmt. 47 Diese Weise des Zugangs zur Wahrheit kann nicht auf eine absolute Klarheit des Denkens gegründet werden, da solches Denken nach dem Grund für die Ermöglichung der Wahrnehmung fragte, und nicht danach, was sie ist: "wir blieben abermals unserer Welterfahrung nicht treu." 48
Auf der Zugangsweise zur Welt basieren Merleau-Pontys spätere Auslegungen 49 zum Verhältnis von Körper und Welt. Durch die Wahrnehmung sind wir offen zur Welt. Die Offenheit zur Welt gründet im Leib. Der Körper ist sehend und sichtbar zugleich: Er ist die Begegnung zwischen Sehendem und Sichtbarem. Der Leib kann die Dinge nur deshalb sehen und berühren, weil er selbst sichtbar und berührbar ist. Der Körper zählt zu den Dingen, er ist dem Gewebe der Welt verhaftet, er ist Welt. Das Sehen geschieht also mitten aus den Dingen heraus. Das Vermögen der Wahrnehmung bezeichnet das Zentrum der Welt, "da, wo ein Sichtbares sich anschickt zu sehen, zum Sichtbaren für sich selbst durch das Sehen aller Dinge wird und die ursprüngliche Einheit des Empfindenden mit dem Empfundenen besteht." 50 Die doppelte Zugehörigkeit zu Sehendem und Sichtbarem führt zur Revision der dualistischen Ordnung von Objekt und Subjekt - und letztlich zur Aufhebung der Trennung zwischen sinnlicher und intelligibler Welt. Im Leib kreuzen sich Blick und Anblick und fügen sich zu einer Einheit; im Prozeß des Sehens verbinden sich Subjekt- und Objektsein. Der Leib gehört zur Ordnung der Dinge, die Welt ist universelles 'Fleisch'. "Die Dichte des Leibes wetteifert nicht mit der Dichte der Welt, sondern ist im Gegenteil das einzige Mittel, das ich habe, um mitten unter die Dinge zu gelangen, indem ich mich Welt und sie Fleisch werden lasse." 51 Über das Wesen der Wahrnehmung wird die Einsheit des Seienden wieder eingeführt.
Um die Zugehörigkeit zur Welt bewegt sich die Tätigkeit des Malers, "wenn sie die Verschwisterung des Leibes mit der Wirklichkeit zum Feld der Erkundungen wählt." 52 Das Tun des Malers ist nicht länger ein Übertragungsakt, in dem Eindrücke aus dem kognitiven Bewußtsein ins äußere Medium aus Leinwand und Farbe versetzt werden. Auge und Hand stehen im Verhältnis einer Bewegung, in der Gesehenes und Sehendes auf ihre stumme Wechselwirkung hin artikuliert werden. Bilder sind keine Kopien der Dinge. "Sie sind das Innen des Außen und das Außen des Innen, das die Doppelnatur des Empfindens möglich macht, ohne die man niemals die Quasi-Gegenwart ... verstehen könnte, die das ganze Problem des Imaginären" 53 ausmacht und in der das Dargestellte nicht nur illusioniert, sondern quasi inkarniert wird. Dem Leib als Kreuzpunkt der Wirklichkeit entspricht die Verschränkung von Auge und Realität im Bild. Wie der Maler selbst ist das Bild durch diese Verschränkung 'Fleisch'.


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41 Heiner Müller, Quartett. In: Herzstück. Berlin, 1987, S. 79.

42 Fink, 1957, S. 33 f.

43 Leon Battista Alberti, 1436, zitiert nach: Boehm, 1986, S. 292.

44 Boehm, 1986, S. 292.

45 In der Definition Husserls ist die Phänomenologie nicht eine Lehre von den Wesen selbst, sondern von der Wesensschau. Die wichtigste Beschaffenheit ist die Intentionalität: Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas, die Realität hat keine Selbständigkeit. Das von allen Setzungen entlastete Bewußtsein wird zur schlichten Gerichtetheit auf das, was gegeben ist.

46 Merleau-Ponty, 1966, S. 13.

47 Daß das Ich trotzdem nicht in einem geschlossenen System gleich den autopoietischen Systemen Varelas und Maturanas (Maturana, 1987, S. 95 ff.) verbleibt und letztlich doch wieder zu einem 'vorstellenden Ich' wird, zeigt das Wesen der Kommunikation. Siehe Kap. III.2.2. dieser Arbeit.

48 Merleau-Ponty, 1966, S. 14.

49 Merleau-Ponty, 1984a.

50 Boehm, 1986, S. 297.

51 Merleau-Ponty, zitiert nach: Boehm, 1986, S. 297.

52 Boehm, 1986, S. 297 f.

53 Merleau-Ponty, 1984a, S. 18.


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