III.2. Der Leib und das Kunstwerk
III.2.1. Zum Verhältnis von Bild und Welt
Das Fleisch hat seinen eigenen Geist.
Heiner Müller 41
Das Prinzip der Einsheit des Seienden liegt im neuzeitlichen Dualismus,
dessen Entstehung Eugen Fink 42 bei Leibniz beschreibt,
in der 'Identität des Ich'. Die 'Identität des Ich', das Subjekt,
ist ständig und objektiv. Das subjektive Ich sieht das Seiende von
Innen; es ist seine Vorstellung. Das Objekt ist das Korrelat zum Subjekt.
Vom Objekt ist das Äußere sichtbar. Es ist das, was das subjektive
Ich sich vorstellt und es hat weder das Vermögen, sich selbst zu äußern,
noch kann es je wahrhaft gesehen werden. Die sinnliche Wahrnehmung hat
in diesem Seinsmodell keinen Wahrheitsgehalt.
Dem Prinzip dieses Modells entspricht das Bild als 'finestra aperta'. 43 Das Bild ist für den Betrachter ein frontales Objekt
und dessen Gehalt ist seine intelligible Vorstellung. Der Betrachter steht
sowohl vor der Bildfläche als auch vor der dargestellten Bildwelt.
Die Tätigkeit des Auges entspricht im Fenstermodell dem Sehstrahl
der Camera Obscura. Das Sehen selbst ist eine passive Tätigkeit vor
dem gerichteten und in sich geschlossenen Hintereinander der festliegenden
Bildordnung, "die im Prinzip meßbar und deshalb auch konstruktiv
zu simulieren ist." 44
Im vorsokratischen Verständnis umfaßt das Prinzip der Einsheit
des Seienden Subjekt und Objekt; beide haben einen allgemein ontologischen
Sinn. Alles Seiende und die Dinge sind wechselseitig füreinander Subjekte
und Objekte. Jedem Seienden liegt das Subjekt (Hypokeimenon) als Unterlage
für alle seine Eigenschaften und Zustände zugrunde. Zugleich
ist jedes Seiende Objekt (Antikeimenon), nicht als Gegenstück zum
Subjekt, sondern als Grundweise, wie Seiendes sich Seiendem darbietet,
als Sichäußerndes für die benachbarten Dinge.
Diesem ontologischen Verständnis folgend entwerfen Bilder nicht eine
frontale Objektwelt, die immer in Distanz bleibt, sie sind keine von außen
gesehenen Objekte sondern sichäußernde. Sie sind selbst das
Tun der Wirklichkeit. Sowohl die dargestellten Phänomene als auch
das Bildphänomen selbst sind Subjekte als Träger ihrer Eigenschaften.
In diesem Seinsmodell steht das Auge nicht wie im Fenstermodell dem Bild
frontal gegenüber. Auge und Bild stehen in einem wechselseitigen Verhältnis.
Motiv und Maler, Bild und Betrachter sind wechselseitig Subjekte und Objekte.
Das Geschaute ist nicht die Vorstellung des Ich, sondern es ist als Äußerung
des anderen wahrhaft.
Nicht zufällig erklärt Merleau-Ponty in seinem Spätwerk
die Kunst zum Organon seines Denkens. Nach eigenen Äußerungen
versucht er die in der 'Phänomenologie der Wahrnehmung' noch bestehende
Trennung zwischen Bewußtsein und Objekt aufzuheben.
Schon Nietzsche spricht der Kunst in der 'Geburt der Tragödie' eine
versöhnlichen Kraft zu, die die Trennung zwischen sinnlicher und intelligibler
Welt im rauschhaften Zustand der Rezeption des Kunstwerks aufzuheben vermag.
Konrad Fiedler versucht die Trennung zwischen isoliertem Subjekt und einer
für sich bestehenden Realität durch die Einheit des Körpers
als einem Substrat von sinnlich-geistigen Zusammenhängen aufzuheben.
Er spricht der künstlerischen Tätigkeit das Vermögen zu,
durch die Kanalisierung der Sinnesdaten im Körper das Wahrgenommene
zur Sichtbarkeit gestalten zu können. Die Ausdruckstätigkeit
des Auges setzt Fiedler dem Kantischen 'Ding an sich' entgegen.
In der 'Phänomenologie der Wahrnehmung' definiert Merleau-Ponty 'Welt'
ausgehend vom Wesen der Wahrnehmung. 'Welt' ist für Merleau-Pontys
phänomenologisches Verständnis 45 im Gegensatz
zu jenem, das das 'Ding an sich' als der Wahrnehmung nicht zugänglich
und die wahrgenommenen Phänomene zum Schein erklärt das, was
wir wahrnehmen. Relevant ist nicht, ob wir eine Welt wirklich wahrnehmen,
sondern die Welt ist eben das, was wir wahrnehmen, kein seienderes Sein
liegt außerhalb dieser Welt. "Dem Wesen der Wahrnehmung nachgehen
heißt davon ausgehen, daß Wahrnehmung nicht nur angeblich oder
vermeintlich wahr, sondern für uns definiert ist als Zugang zur Wahrheit."
46 Es gibt kein objektives Sein außerhalb des subjektiven
Sinneseindrucks, zu dessen Wahrnehmung uns der Weg versperrt wäre.
Das Ich stellt sich die Dinge nicht vor, die Dinge sind das, was das Ich
wahrnimmt. 47 Diese Weise des Zugangs zur Wahrheit kann
nicht auf eine absolute Klarheit des Denkens gegründet werden, da
solches Denken nach dem Grund für die Ermöglichung der Wahrnehmung
fragte, und nicht danach, was sie ist: "wir blieben abermals unserer
Welterfahrung nicht treu." 48
Auf der Zugangsweise zur Welt basieren Merleau-Pontys spätere Auslegungen
49 zum Verhältnis von Körper und Welt. Durch
die Wahrnehmung sind wir offen zur Welt. Die Offenheit zur Welt gründet
im Leib. Der Körper ist sehend und sichtbar zugleich: Er ist die Begegnung
zwischen Sehendem und Sichtbarem. Der Leib kann die Dinge nur deshalb sehen
und berühren, weil er selbst sichtbar und berührbar ist. Der
Körper zählt zu den Dingen, er ist dem Gewebe der Welt verhaftet,
er ist Welt. Das Sehen geschieht also mitten aus den Dingen heraus. Das
Vermögen der Wahrnehmung bezeichnet das Zentrum der Welt, "da,
wo ein Sichtbares sich anschickt zu sehen, zum Sichtbaren für sich
selbst durch das Sehen aller Dinge wird und die ursprüngliche Einheit
des Empfindenden mit dem Empfundenen besteht." 50
Die doppelte Zugehörigkeit zu Sehendem und Sichtbarem führt zur
Revision der dualistischen Ordnung von Objekt und Subjekt - und letztlich
zur Aufhebung der Trennung zwischen sinnlicher und intelligibler Welt.
Im Leib kreuzen sich Blick und Anblick und fügen sich zu einer Einheit;
im Prozeß des Sehens verbinden sich Subjekt- und Objektsein. Der
Leib gehört zur Ordnung der Dinge, die Welt ist universelles 'Fleisch'.
"Die Dichte des Leibes wetteifert nicht mit der Dichte der Welt, sondern
ist im Gegenteil das einzige Mittel, das ich habe, um mitten unter die
Dinge zu gelangen, indem ich mich Welt und sie Fleisch werden lasse."
51 Über das Wesen der Wahrnehmung wird die Einsheit
des Seienden wieder eingeführt.
Um die Zugehörigkeit zur Welt bewegt sich die Tätigkeit des Malers,
"wenn sie die Verschwisterung des Leibes mit der Wirklichkeit zum
Feld der Erkundungen wählt." 52 Das Tun des
Malers ist nicht länger ein Übertragungsakt, in dem Eindrücke
aus dem kognitiven Bewußtsein ins äußere Medium aus Leinwand
und Farbe versetzt werden. Auge und Hand stehen im Verhältnis einer
Bewegung, in der Gesehenes und Sehendes auf ihre stumme Wechselwirkung
hin artikuliert werden. Bilder sind keine Kopien der Dinge. "Sie sind
das Innen des Außen und das Außen des Innen, das die Doppelnatur
des Empfindens möglich macht, ohne die man niemals die Quasi-Gegenwart
... verstehen könnte, die das ganze Problem des Imaginären"
53 ausmacht und in der das Dargestellte nicht nur illusioniert,
sondern quasi inkarniert wird. Dem Leib als Kreuzpunkt der Wirklichkeit
entspricht die Verschränkung von Auge und Realität im Bild. Wie
der Maler selbst ist das Bild durch diese Verschränkung 'Fleisch'.