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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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III.2.2. Sprache und Welt

 

Zumindest in jenem flüchtigen Augenblick war ich du.
Jean Paulhan 54

 

Eine frühe ontologische Begründung für den Scheincharakter der Sprache beschreibt Eugen Fink 55 bei Parmenides. Die gesprochene Sprache arbeitet mit Zeichen, mit denen die wahrhaft seienden Dinge nicht angesprochen werden können. In der Sprache, nicht im Geist des Menschen oder im Seienden selbst, vollzieht sich die ordnende Durchgliederung der Welt, aus der die endlich seienden Dinge hervorgehen. Das Wesen der Doxa, des Wahns, im Gegensatz zur Aletheia, der Wahrheit, liegt im sprechenden Benennen des Seienden. Das Seiende selbst ist unsäglich und namenlos. Das mit einem Namen versehene ist abgesondert aus dem Ganzen des Seienden. Die bezeichnete Welt gehört dem Schein an, das Sein selbst kann nur in Zeichen (Semata) angedacht werden. Ins Herz des Seins vermögen nur die Götter zu schauen.
Daß der Mensch im Schein befangen ist, wird ihm dadurch allererst bewußt, daß er durch das Sprechen der Zeichen das Seiende andenken kann, ohne selbst je daran teilhaben zu können. Der grundsätzliche Dualismus des abendländischen Denkens beruht auf dem bleibenden Befangensein im Schein, aus dem heraus der Blick auf das wahrhaft Seiende möglich ist. Darauf beruht der Gegensatz von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Vergänglichem und Ewigem. Das Sagen des Unendlichen selbst verweist zurück auf die Endlichkeit und Begrenztheit.
Der Sprache - auch als Mittel der Kommunikation - wird in diesem Modell der Scheincharakter des Zeichens zugesprochen, in die das Seiende unmittelbar nicht eingehen kann. Jede Kommunikation kann nur eine auf der Ebene der Zeichen sein, die Gesamtheit des Seins bleibt jenseits des Mitteilbaren.

Merleau-Ponty wertet den Seinscharakter der Sprache grundsätzlich um. Die Bedeutungen der gesprochenen Sprache gründen im Leib, damit in der wahrnehmbaren Welt und damit im Seienden selbst. Im Dialog und mittels der Sprache kann das Seiende erneuert und erweitert werden. Die Wahrhaftigkeit der Sprache gründet im Wesen der kommunikativen Situation des Dialogs. Die gesprochene Sprache hat sich durch die Welt in der Welt eingerichtet. Durch den gemeinsamen Sprachgebrauch vermögen sich im Dialog Bedeutungen zu treffen, schon angelegte Bedeutungen werden im 'Tun' des Dialogs überschritten, auf einen Sinn hin, der zuvor nicht existierte. Dieser Sinn entsteht durch die Bewegung des Dialogs, in der das Hören der Worte des anderen in das eigene Gesagte eingeht und das eigene Gesagte in das Hören und wiederum in das Sprechen des anderen. Neue Bedeutungen entstehen durch die Verschiedenheit der aufeinandertreffenden Bedeutungen, die ihrer Herkunft aus derselben Welt wegen nie vollkommen verschiedenartig sind. Durch die Verknüpfung mit den schon in uns vorhandenen Bedeutungen vermögen wir uns bislang unbekannte Bedeutungen anzueignen. 56
Die Möglichkeit der Aneignung neuer Bedeutungen gilt für die gesprochene Sprache ebenso wie für jede andere sinnliche Kommunikationsweise. Indem das gemalte Bild grundsätzlich dem Wahrnehmungsvermögen des Malers entspringt, gehören Maler und Betrachter derselben Welt an. Im Bild treten die vom Maler stumm angelegten Bedeutungen in einen Dialog mit jenen, die der Betrachter in sich trägt. Daraus entsteht eine neue Bedeutungsverknüpfung, die das ganze Sein zu umfassen vermag: "unsere Bewegungen verleiben sich einer neuen motorischen Seinsweise ein, unsere ersten Sichtgegebenheiten einer neuen sinnlichen Seinsgestalt, unsere natürlichen Vermögen erlangen plötzlich eine umfassendere Bedeutung, die zuvor in unserem perzeptiven und praktischen Feld lediglich angedeutet war, sich in unserer Erfahrung nur meldete in Gestalt eines unbestimmten Mangels, deren Zutagetreten nunmehr aber plötzlich unser Sein in ein neues Gleichgewicht bringt, eine blinde Erwartung erfüllend." 57

Die Möglichkeit des Dialogs gründet in der Wahrnehmung der Welt. Alles, was als Seiendes gelten kann, kann dies nur, sofern es direkt oder indirekt zum Gesichtsfeld Zugang hat. Insofern sie Sinnesorgane trägt, ist die leibliche Existenz grundsätzlich auf die umgebende Welt und auf ankommende Augenblicke gerichtet. Dabei kann sich der Leib der Welt sowohl verschließen als auch öffnen: Das Subjekt vermag sich ebenso auf sein personales Ich zurückzuziehen wie es sich öffnen kann für eine Bewegung auf den anderen hin. Dies wie jenes geschieht nicht durch ein abstraktes Gebot des Willens, sondern durch eine Wendung, in der der ganze Leib sich sammelt. Umgekehrt ist die sichtbare und wiederum wahrnehmbare Körperhaltung Ausdruck der zugrundeliegenden Intention des gesamten Leibes. Darin liegt die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen den Leibern.
Daß der andere und Ich derselben Wahrnehmungs- und Empfindungswelt angehören, ermöglicht, daß ein zweiter Betrachter der Welt aus mir entstehen kann. Der Leib des anderen hat teil an meinen Gegenständen, und als Teil von ihnen figuriert er meine Welt. Wenn er etwas wahrnimmt, dann ist das meine Welt, da ja auch er aus ihr hervorgeht. Der andere ist durch die Analogien mit der eigenen Wahrnehmungs- und Seinsweise ein Doppel des Ich, doch nicht das Ich selbst, vielmehr ist er gestaltet nach dem eigenen Bild. Indem das Ich eine Totalität ist, die bis an den Rand der Welt reicht, ist die äußere Sicht auf mich nur möglich, wenn ein anderer mir erscheint. Indem ich empfinde, daß ein anderer mich empfindend empfindet, setzt das andere Ich mich von meiner zentralen Position ab - die allein mich ein vorstellendes Ich sein ließe.
Der andere ist nicht in seinem Leib, nicht in den Dingen, er ist nicht ich. Platz für den anderen gibt es nur in meinem Wahrnehmungsfeld. Die Erfahrung aus meinem Zugriff auf die Welt befähigt mich, eine andere Erfahrung dieser Art anzuerkennen, ein anderes Ich-selbst wahrzunehmen und daraus zu schließen: Es gibt eine Allgemeinheit des Empfindens. Der Sinneseindruck ist der Aufprall der Welt auf den Leib, seine Gesten sind Zugriff auf die Welt. Dementsprechend sind die Gesten des anderen auf die Welt hin nicht ein Bezug von Gegenstand zu Gegenstand, sondern ebenso Aufprall und Zugriff. Die Welt, die meinem Leib anhaftet, besteht nicht nur für mich, sondern für alles, was in ihr ist, sichtbar ist und ihr ein Zeichen gibt.
In der Weise, wie Ausdruck und Ausgedrücktes in der Einheit des Leiblichen verbunden sind, ist die Kommunikation zwischen dem Ich und dem anderen mit der zwischen Betrachter und Kunstwerk vergleichbar.
Die Idee des Kunstwerks kann sich auf keine andere Weise mitteilen als durch die Entfaltung der Farben. Die Welt des Malers ist eine Welt, die anders nicht als sichtbar ist (die Analyse eines Bildes läßt das Bild nicht sehen, sie läßt immer noch die Wahl zwischen verschiedenen möglichen Bildern). Die Seinsweise des Bildes ist durch seine Materialität im Dinglichen eingerichtet, das sprechend wird und doch immer davon kündet, woraus es gebildet ist.
Der stumme Logos der Malerei ist Ding und Geist zugleich. "In ihm spricht sich aus, was auch vom Leib zu sagen war, sehend und zugleich gesehen, Ding unter Dingen und ein selbstbewegliches Zentrum." 58 Gleich dem Leib ist das Bild ein "Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen." 59 Es trägt Bedeutungen nicht als übersetzbare Zeichen, sondern "so wie die gesprochene Sprache nicht allein durch Worte bedeutend ist, sondern auch in Ton, Gesten und Physiognomie, und wie diese Sinnesergänzung nicht mehr nur die Gedanken des Sprechenden offenbart, sondern die Quelle seiner Gedanken und seiner fundamentalen Art zu sein, so ist auch die Poesie ... wesentlich eine Modulation der Existenz." 60 Die existentielle Modulation des Kunstwerks unterscheidet sich vom Schrei durch die ihm gegebene Form, so daß seine Äußerung, anstatt im gleichen Augenblick, in dem sie sich ausdrückt, zu verfliegen, in der Ausgestaltung ein Mittel zu ihrer Verewigung findet. Das Kunstwerk existiert nicht in der Weise einer ewigen Wahrheit, sondern auf die dem Leib entsprechende Weise eines Dinges. Ein Bild ist ein Individuum, d.h. ein Wesen, in dem "Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind, dessen Sinn nur in unmittelbarem Kontakt zugänglich ist" und das seine Bedeutung ausstrahlt, ohne seinen "zeitlich-räumlichen Ort zu verlassen." 61 In diesem Sinn ist das Kunstwerk dem Leib und seinen ihm eigenen Möglichkeiten der Kommunikation vergleichbar.


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54 Jean Paulhan, Les Fleurs de Tarbes. Zitiert nach: Merleau-Ponty, 1984, S. 36.

55 Fink, 1957, S. 68 ff.

56 Die Entstehung neuer Bedeutungen, die Merleau-Ponty beschreibt, entspricht der Definition des Lernens in der Pädagogik. Lernen ist die produktive und auf Förderung angewiesene Fähigkeit des Menschen, Vorstellungen, Gewohnheiten und Fähigkeiten aufzubauen und zu verändern. Die Verhaltensänderung erfolgt durch Aufnahme und Verarbeitung von Informationen (Giesecke, 1975, S. 48.).

57 Merleau-Ponty, 1966, S. 184.

58 Boehm, 1986, S. 302.

59 Merleau-Ponty, 1966, S. 183.

60 Merleau-Ponty, 1966, S. 181.

61 Merleau-Ponty, 1966, S. 183.


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