III.2.2. Sprache und Welt
Zumindest in jenem flüchtigen
Augenblick war ich du.
Jean Paulhan 54
Eine frühe ontologische Begründung für den
Scheincharakter der Sprache beschreibt Eugen Fink 55
bei Parmenides. Die gesprochene Sprache arbeitet mit Zeichen,
mit denen die wahrhaft seienden Dinge nicht angesprochen werden
können. In der Sprache, nicht im Geist des Menschen oder
im Seienden selbst, vollzieht sich die ordnende Durchgliederung
der Welt, aus der die endlich seienden Dinge hervorgehen. Das
Wesen der Doxa, des Wahns, im Gegensatz zur Aletheia, der Wahrheit,
liegt im sprechenden Benennen des Seienden. Das Seiende selbst
ist unsäglich und namenlos. Das mit einem Namen versehene
ist abgesondert aus dem Ganzen des Seienden. Die bezeichnete
Welt gehört dem Schein an, das Sein selbst kann nur in Zeichen
(Semata) angedacht werden. Ins Herz des Seins vermögen nur
die Götter zu schauen.
Daß der Mensch im Schein befangen ist, wird ihm dadurch
allererst bewußt, daß er durch das Sprechen der Zeichen
das Seiende andenken kann, ohne selbst je daran teilhaben zu
können. Der grundsätzliche Dualismus des abendländischen
Denkens beruht auf dem bleibenden Befangensein im Schein, aus
dem heraus der Blick auf das wahrhaft Seiende möglich ist.
Darauf beruht der Gegensatz von Endlichkeit und Unendlichkeit,
von Vergänglichem und Ewigem. Das Sagen des Unendlichen
selbst verweist zurück auf die Endlichkeit und Begrenztheit.
Der Sprache - auch als Mittel der Kommunikation - wird in diesem
Modell der Scheincharakter des Zeichens zugesprochen, in die
das Seiende unmittelbar nicht eingehen kann. Jede Kommunikation
kann nur eine auf der Ebene der Zeichen sein, die Gesamtheit
des Seins bleibt jenseits des Mitteilbaren.
Merleau-Ponty wertet den Seinscharakter der Sprache grundsätzlich
um. Die Bedeutungen der gesprochenen Sprache gründen im
Leib, damit in der wahrnehmbaren Welt und damit im Seienden selbst.
Im Dialog und mittels der Sprache kann das Seiende erneuert und
erweitert werden. Die Wahrhaftigkeit der Sprache gründet
im Wesen der kommunikativen Situation des Dialogs. Die gesprochene
Sprache hat sich durch die Welt in der Welt eingerichtet. Durch
den gemeinsamen Sprachgebrauch vermögen sich im Dialog Bedeutungen
zu treffen, schon angelegte Bedeutungen werden im 'Tun' des Dialogs
überschritten, auf einen Sinn hin, der zuvor nicht existierte.
Dieser Sinn entsteht durch die Bewegung des Dialogs, in der das
Hören der Worte des anderen in das eigene Gesagte eingeht
und das eigene Gesagte in das Hören und wiederum in das
Sprechen des anderen. Neue Bedeutungen entstehen durch die Verschiedenheit
der aufeinandertreffenden Bedeutungen, die ihrer Herkunft aus
derselben Welt wegen nie vollkommen verschiedenartig sind. Durch
die Verknüpfung mit den schon in uns vorhandenen Bedeutungen
vermögen wir uns bislang unbekannte Bedeutungen anzueignen.
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Die Möglichkeit der Aneignung neuer Bedeutungen gilt für
die gesprochene Sprache ebenso wie für jede andere sinnliche
Kommunikationsweise. Indem das gemalte Bild grundsätzlich
dem Wahrnehmungsvermögen des Malers entspringt, gehören
Maler und Betrachter derselben Welt an. Im Bild treten die vom
Maler stumm angelegten Bedeutungen in einen Dialog mit jenen,
die der Betrachter in sich trägt. Daraus entsteht eine neue
Bedeutungsverknüpfung, die das ganze Sein zu umfassen vermag:
"unsere Bewegungen verleiben sich einer neuen motorischen
Seinsweise ein, unsere ersten Sichtgegebenheiten einer neuen
sinnlichen Seinsgestalt, unsere natürlichen Vermögen
erlangen plötzlich eine umfassendere Bedeutung, die zuvor
in unserem perzeptiven und praktischen Feld lediglich angedeutet
war, sich in unserer Erfahrung nur meldete in Gestalt eines unbestimmten
Mangels, deren Zutagetreten nunmehr aber plötzlich unser
Sein in ein neues Gleichgewicht bringt, eine blinde Erwartung
erfüllend." 57
Die Möglichkeit des Dialogs gründet in der Wahrnehmung
der Welt. Alles, was als Seiendes gelten kann, kann dies nur,
sofern es direkt oder indirekt zum Gesichtsfeld Zugang hat. Insofern
sie Sinnesorgane trägt, ist die leibliche Existenz grundsätzlich
auf die umgebende Welt und auf ankommende Augenblicke gerichtet.
Dabei kann sich der Leib der Welt sowohl verschließen als
auch öffnen: Das Subjekt vermag sich ebenso auf sein personales
Ich zurückzuziehen wie es sich öffnen kann für
eine Bewegung auf den anderen hin. Dies wie jenes geschieht nicht
durch ein abstraktes Gebot des Willens, sondern durch eine Wendung,
in der der ganze Leib sich sammelt. Umgekehrt ist die sichtbare
und wiederum wahrnehmbare Körperhaltung Ausdruck der zugrundeliegenden
Intention des gesamten Leibes. Darin liegt die Möglichkeit
einer Kommunikation zwischen den Leibern.
Daß der andere und Ich derselben Wahrnehmungs- und Empfindungswelt
angehören, ermöglicht, daß ein zweiter Betrachter
der Welt aus mir entstehen kann. Der Leib des anderen hat teil
an meinen Gegenständen, und als Teil von ihnen figuriert
er meine Welt. Wenn er etwas wahrnimmt, dann ist das meine Welt,
da ja auch er aus ihr hervorgeht. Der andere ist durch die Analogien
mit der eigenen Wahrnehmungs- und Seinsweise ein Doppel des Ich,
doch nicht das Ich selbst, vielmehr ist er gestaltet nach dem
eigenen Bild. Indem das Ich eine Totalität ist, die bis
an den Rand der Welt reicht, ist die äußere Sicht
auf mich nur möglich, wenn ein anderer mir erscheint. Indem
ich empfinde, daß ein anderer mich empfindend empfindet,
setzt das andere Ich mich von meiner zentralen Position ab -
die allein mich ein vorstellendes Ich sein ließe.
Der andere ist nicht in seinem Leib, nicht in den Dingen, er
ist nicht ich. Platz für den anderen gibt es nur in meinem
Wahrnehmungsfeld. Die Erfahrung aus meinem Zugriff auf die Welt
befähigt mich, eine andere Erfahrung dieser Art anzuerkennen,
ein anderes Ich-selbst wahrzunehmen und daraus zu schließen:
Es gibt eine Allgemeinheit des Empfindens. Der Sinneseindruck
ist der Aufprall der Welt auf den Leib, seine Gesten sind Zugriff
auf die Welt. Dementsprechend sind die Gesten des anderen auf
die Welt hin nicht ein Bezug von Gegenstand zu Gegenstand, sondern
ebenso Aufprall und Zugriff. Die Welt, die meinem Leib anhaftet,
besteht nicht nur für mich, sondern für alles, was
in ihr ist, sichtbar ist und ihr ein Zeichen gibt.
In der Weise, wie Ausdruck und Ausgedrücktes in der Einheit
des Leiblichen verbunden sind, ist die Kommunikation zwischen
dem Ich und dem anderen mit der zwischen Betrachter und Kunstwerk
vergleichbar.
Die Idee des Kunstwerks kann sich auf keine andere Weise mitteilen
als durch die Entfaltung der Farben. Die Welt des Malers ist
eine Welt, die anders nicht als sichtbar ist (die Analyse eines
Bildes läßt das Bild nicht sehen, sie läßt
immer noch die Wahl zwischen verschiedenen möglichen Bildern).
Die Seinsweise des Bildes ist durch seine Materialität im
Dinglichen eingerichtet, das sprechend wird und doch immer davon
kündet, woraus es gebildet ist.
Der stumme Logos der Malerei ist Ding und Geist zugleich. "In
ihm spricht sich aus, was auch vom Leib zu sagen war, sehend
und zugleich gesehen, Ding unter Dingen und ein selbstbewegliches
Zentrum." 58 Gleich dem Leib ist das Bild
ein "Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen." 59
Es trägt Bedeutungen nicht als übersetzbare Zeichen,
sondern "so wie die gesprochene Sprache nicht allein durch
Worte bedeutend ist, sondern auch in Ton, Gesten und Physiognomie,
und wie diese Sinnesergänzung nicht mehr nur die Gedanken
des Sprechenden offenbart, sondern die Quelle seiner Gedanken
und seiner fundamentalen Art zu sein, so ist auch die Poesie
... wesentlich eine Modulation der Existenz." 60
Die existentielle Modulation des Kunstwerks unterscheidet sich
vom Schrei durch die ihm gegebene Form, so daß seine Äußerung,
anstatt im gleichen Augenblick, in dem sie sich ausdrückt,
zu verfliegen, in der Ausgestaltung ein Mittel zu ihrer Verewigung
findet. Das Kunstwerk existiert nicht in der Weise einer ewigen
Wahrheit, sondern auf die dem Leib entsprechende Weise eines
Dinges. Ein Bild ist ein Individuum, d.h. ein Wesen, in dem "Ausdruck
und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind, dessen Sinn
nur in unmittelbarem Kontakt zugänglich ist" und das
seine Bedeutung ausstrahlt, ohne seinen "zeitlich-räumlichen
Ort zu verlassen." 61 In diesem Sinn ist
das Kunstwerk dem Leib und seinen ihm eigenen Möglichkeiten
der Kommunikation vergleichbar.