II.4. Modigliani: 'Liegender Frauenakt auf weißem Kissen'
Der ruhende Frauenleib (Abb. 8) ist
diagonal von links oben nach rechts unten in die Bildfläche eingespannt.
Er liegt auf einem roten, gemusterten Untergrund, wohl einem Sofa; den
Oberkörper stützt ein weißes Kissen. Der fast schwarze
Hintergrund ist nicht gegenständlich oder räumlich definiert,
ihn unterteilt lediglich ein nach unten geschwungener horizontaler Pinselstrich.
Das Bildformat beschneidet den Körper. Der nach oben gestreckte rechte
Arm ist oberhalb des Ellbogens, die Beine sind oberhalb der Knie angeschnitten.
Die Linie zwischen den Beinen und die fortgeführte Nasenlinie laufen
diagonal den Bildecken zu. Im Zentrum, leicht nach rechts unten versetzt,
liegt der Bauchnabel.
Haltung, Ansicht und die ebenfalls zweifache Drehbewegung des Körpers
entsprechen fast exakt der von Giorgiones 'Schlummernder Venus', nur bleibt
der linke Arm hinter dem Leib verborgen und die Scham ist unbedeckt. Die
Drehung des Körpers ist im Verhältnis zu Giorgione ausgeprägter.
Die linke Hüfte ist erhoben und ebenso wie das Gesicht frontal dem
Betrachter zugewandt, während Oberkörper und Brust sich der Profilansicht
nähern. Abgesehen von den Anschnitten ist die Kontur innerhalb des
Bildes frei, sie wird nur von der zum Kissen gehörigen weißen
Raute unterhalb ihrer rechten Brust überschnitten: dadurch wird der
Körper in der Bildfläche gehalten.
Die deutliche Kontur schneidet den Körper nicht aus den umgebenden
Bildelementen aus, vielmehr verbindet die Kontur Figur und Grund. Die Linie
gehört weder allein dem Körper noch den ihn umgebenden Bildelementen
an. Sie ist ein solitäres Element zwischen beiden, das sowohl trennt
als auch verbindet. Die Kontur ist teilweise - so als Linie zwischen den
Schenkeln und als untere Begrenzung der Hüfte - gemalte Linie, teilweise
- an der oberen Begrenzung von Taille und Hüfte - entsteht die Kontur
durch Aussparungen, durch die die graue Untermalung des Untergrunds durchscheint.
An manchen Stellen umfängt die Kontur Teile der umgebenden Bildelemente
- so an der unteren Armlinie, die das Grau des Kissens einschließt.
Die Kontur besteht nur teilweise aus durchgezogenen Pinselstrichen. Aus
zwei Schwüngen setzt sich die Linie zwischen den Schenkeln zusammen,
die Kontur des unteren Armes entsteht aus zwei Pinselschwüngen, die
sich eine kurze Strecke überschneiden und von denen die rechte in
der Biegung der Achsel ausläuft.
Aneinandergrenzende Farbfelder erzeugen die Binnenkonturen und die Plastizität
des Körpers, die weniger die funktionale Körperarchitektur als
vielmehr den Zusammenhang der Gesamtform zeigt. Auch der Kopf mit seiner
zeichenhaften Behandlung ist nicht unterschieden von der Ganzheit des Leibes.
Die Reduzierung der Gesichtszüge entspricht der konturierenden Behandlung
des gesamten Körpers.
Entsprechend der Kontur verbinden Farbkorrespondenzen den Körper mit
dem Umfeld. Das Grau des Augenweiß entspricht dem des Kissens, ebenso
entspricht die ins Blau und Grün gebrochene Schwärze der Pupille
der des Hintergrunds. 9 Im Grau des Kissens ist das Inkarnat
enthalten (allerdings nicht als impressionistische Reflexion des darüberliegenden
Armes). Die seitlichen Abschattungen der Nase nehmen den Ockerton des Tuchmusters
auf und in der rechten Rundung des Bauches und im linken Schenkel ist das
Rot des Untergrunds enthalten. Dadurch entsteht eine horizontale Farbverklammerung,
die den starken Schwung der Kontur zur rechten unteren Bildecke auffängt.
Die geschwungene braune Linie über dem Körper, in der dunklen
Fläche des Hintergrunds, begrenzt vielleicht die Liegestatt der Frau.
Oberhalb der Linie ist das Schwarz des Hintergrunds ins Grün gebrochen,
teilweise leicht in ein dunkles Grau aufgehellt, unterhalb der Linie ist
das Schwarz mit ultramarinblauen Pinselstrichen durchsetzt. Die Linie verbindet
die Körperfläche durch die Farbkorrespondenz mit den Achselhaaren
und dem Schamdreieck 10 mit der oberen Bildhälfte
und sie fängt die stürzenden Linien der Schenkel auf. Dieselbe
Funktion hat die kleine rote Ecke oberhalb des Schenkels am linken Bildrand.
Die Malweise ist größtenteils pastos. Die Materialität
der Farbe nimmt im Bereich des Körpers an den helleren, reflektierenden
Stellen zu, in denen die Farbe aufgetupft ist, selbst das Licht zurückwirft
und so dem reflektierenden Oberflächencharakter der Haut entspricht.
Die Reflexion ist derart - wie überhaupt das Helldunkel im Bild -
nicht illusionistisch dargestellt, sondern kommt aus der Materialität
der Farbe selbst, die Farbe wird zu 'Fleisch'. 11
Die Malweise der Haut entspringt einem Sehen aus allergrößter
Nähe und erfordert dieselbe Nahansicht bei der Rezeption. Auch aus
geringem Abstand betrachtet, enthüllt das Gemalte sich nicht als Illusion,
indem die Pinselstriche als solche sichtbar würden wie bei Manet,
vielmehr nehmen die Komplexität des enthaltenen Farbspektrums und
die Weise des Farbauftrags mit der Verringerung des Betrachterabstands
unaufhörlich zu, ohne daß das Dargestellte als Darstellung sich
enthüllt. Zu einer Einheit fügen sich die grünlichen Schatten
am Bauch, die bläulichen im rechten Schenkel und im linken Arm, die
rötlichen am Hals und im Gesicht, die orangen Tönungen am Rand
der linken Hüfte. An manchen Stellen erhält das Inkarnat einen
durchscheinenden Charakter, als ob durch die Oberfläche hindurch das
darunterliegende Fleisch sichtbar sei; so im Bereich des ausgestreckten
rechten Arms und im linken Oberschenkel.
Durch die Verbindung des reflektierenden, geschlossenen und durchscheinenden,
geöffneten Charakters der Haut bewegt sich der Körper zum einen
als Ausstrahlung auf den Betrachter zu und zieht ihn zum anderen als Öffnung
zu sich hin; ein Prozeß, der nicht an einem Punkt endet, sondern
der sich entsprechend der Blickbahn des Betrachters unaufhörlich verändert
und aus sich selbst erneuert.