II.3. Manet: 'Olympia'
Ein ausladendes Bett dominiert den flachen Bildraum. Darauf
liegt klein und angespannt die 'Olympia' (Abb.
4), den Oberkörper halb aufgerichtet und gestützt
von aufgeschichteten Kissen. Grüne Vorhänge hängen
in der rechten Bildhälfte vor einem in die Tiefe führenden
Raum, der nur durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhanghälften
angedeutet ist. Links, direkt hinter dem Bett, begrenzt eine
gemusterte, rotbraune Wand den Raum. Rechts hinter dem Bett steht,
in einem leuchtend rosafarbenen Kleid, eine Negerin, die einen
Blumenstrauß in Händen trägt. Zu Füßen
der 'Olympia' steht am rechten Bildrand eine kleine, den Betrachter
anfauchende, schwarze Katze.
Manet hat die Komposition der 'Olympia' überwiegend von
Tizian übernommen: Ähnlich wie in der 'Venus von Urbino'
6 ist die Disposition der Figur auf dem Untergrund,
ähnlich ist der diagonale Schwung des grünen Vorhangs
in der linken oberen Bildecke, ähnlich ist das weiße
Tuch um die Matratze geschlungen und gibt in der linken unteren
Ecke den Blick auf das rotbraune Polster frei. Die Teilung des
Hintergrunds hat Manet aus der Mitte nach links verschoben. Das
Zentrum des Bildes liegt auf dem Grenzpunkt zwischen dem grünen
Vorhang und der linken Oberschenkellinie 'Olympias'. Auf das
Zentrum und auf 'Olympias' Schoß deutet eine Ecke des um
den Blumenstrauß geschlungenen weißen Papiers.
Trotz der vielfachen Bezüge und Parallelen zu Tizian ist
die Ausformung der Bildelemente deutlich verschieden. Die Diagonale
des Körpers beschreibt weniger eine geschwungene Linie denn
einen Winkel. Der Körper ist eckiger, alles an ihm ist aufrecht
und gestreckt. Wie bei Giorgione ist der Körper leicht gedreht.
Während bei Giorgione die Drehung des Leibes zweifach ist
- frontales Gesicht, in die Tiefe gewandter Oberkörper,
nach vorne gewandter Unterkörper - so ist sie bei Manet
einfach und umgekehrt: Gesicht und Oberkörper sind dem Betrachter
zugewandt, während Unterkörper und Beine flach auf
der Liegestätte ruhen und so vom Betrachter abgewandt erscheinen.
Die Öffnung des Körpers durch die Richtung ihres linken
Beins und Fußes auf den Betrachter zu wird durch den Pantoffel
wieder zurückgenommen; es ist nicht zufällig, daß
dieser Fuß bedeckt und der fast dahinter verdeckte entblößt
ist. Der Körper liegt im Vergleich zu Tizian höher
im Bild und ist in Bezug auf das Bildformat kleiner; er wirkt
gleichsam aufgebahrt. Deutlich spürbar ist die Festigkeit
des Fleisches und das Knochengerüst unter der Haut. Die
feste Kontur und die Winkel der Glieder schließen die Figur
in sich, die Linien münden wie bei Giorgione in ihrem Schoß,
den sie mit der linken Hand in einer gleichsam demonstrativen
Geste bedeckt. Das Bett - Krankenbett oder Schaufensterdekoration
- wird angestrahlt von einem übernatürlich hellen Licht,
gleich einem Scheinwerfer, das den Eindruck erweckt, Laken und
Inkarnat selbst würden Licht abgeben. 7
Der Lichteinfall ist wie bei Ingres frontal, die Lichtquelle
liegt gegenüber ihrem Kopf.
Der Helldunkelkontrast bildet den Rahmen für die Koloristik.
Im Vergleich zu Ingres sind die zumeist grau und schwarz abgedunkelten
Partien im Inkarnat weniger farbig. Schwarz oder grau sind auch
die Linien der Kontur und die Binnenkonturen. Erst auf den zweiten
Blick sichtbar sind die feinen farblichen Verbindungen: die bläulichen
Abstufungen am linken Unterschenkel und an der rechten Brust,
die rötlichen Schattierungen an der rechten Hand, an der
linken Brust und im Gesicht.
Der dominante Farbklang bewegt sich zwischen dem dunklen Grün
der Vorhänge und dem Rosa des Kleides der Negerin. Das koloristische
Zentrum ist der Blumenstrauß, in dem alle Farben vereinigt
sind. Das Braun von 'Olympias' Haar ist ihre einzige Verbindung
zur rotbraunen Wand im Hintergrund. Farbig sind die Faltenwürfe
des Lakens, dessen blendendes Weiß die gelblichen und farbig
grauen Abtönungen allererst erzeugen.
Durch den harten Helligkeitskontrast zwischen Vorder-, Mittel
und Hintergrund erzielt Manet die Wirkung eines flachen Bühnenraums.
Die Verbindung zwischen Vorder- und Hintergrund knüpft die
Figur der Negerin. Sie gehört durch ihr Inkarnat dem Hintergrund
an, das Kleid schafft die Verbindung zum Inkarnat der 'Olympia'
und der Schleife in ihrem Haar, die Halskrause die zum weißen
Laken. Vorder- und Hintergrund sind verbunden durch das warme
Rot des unbedeckten Polsterteils und der schmalen Aussparung
am linken unteren Bildrand, das gedämpft in der Wand des
Hintergrunds wieder auftaucht.
Manets Komposition ist von derselben konsequenten Durcharbeitung
und Ausgewogenheit wie die seines Vorbildes Tizian. Er übernimmt
die Massenverteilung und die Hauptlinien der Komposition (in
der Figur der Negerin sind die Massen der beiden Figuren Tizians
zusammengefaßt, Meier-Graefe führt sogar den Umriß
der Negerin auf die Konturen der beiden Figuren Tizians zurück
8 ). Aber die Ausformung ist härter und
direkter, gleichsam entschleiert. Die geschwungene Linie weicht
der hart umgrenzenden Kontur, unter der die greifbare Festigkeit
der voneinander getrennten Körper im Raum spürbar wird.
Trotz der strengen Komposition ist die Wirkung die eines photographischen
Ausschnitts, in dessen Zentrum der Fotograf das Motiv seiner
Bedeutung wegen gesetzt hat. Indem nicht wie bei Ingres verschiedene
lineare Systeme gegeneinandergesetzt sind, sondern ein lineares
System Figur und Grund trägt, erhält die Figur nicht
die Möglichkeit zur Bewegung. Trotz ihrer zentralen Position
bestimmt nicht die Figur den sie umgebenden Raum, sondern sie
wird vielmehr von ihm um- und begrenzt.
Ebenso wie keine verschiedenen linearen Systeme im Bild aufeinandertreffen,
gibt es keine Differenz in der malerischen Behandlung der verschiedenen
Stofflichkeiten und Gegenstände. Gegenstand des Pinsels
ist die Haut ebenso wie das Laken, die Vorhänge wie die
Negerin, der Blumenstrauß wie die Katze.
Letztlich zu sehen ist, wie ein Pinselstrich, rasch und sicher
geführt, an den anderen grenzt oder ihn überlappt,
wie der Anteil der Pigmentbeimengungen differiert und wie sich
mit zunehmendem Betrachterabstand die Pinselstriche zu etwas
schließen, das, gleich einem Spiegelbild, flüchtig
die Erscheinung 'Olympias' zeigt.