II.2. Ingres: 'Die große Odaliske'
Das ganze Bildformat füllend liegt die 'Große Odaliske'
(Abb. 7) von Ingres im Bild.
Ihr in einem geschwungenen Bogen von links oben nach rechts unten
geführter Körper ist, aufgestützt auf den linken
Arm, halb aufgerichtet; der Kopf ist im Dreiviertelprofil, der
Oberkörper von hinten sichtbar; das linke Bein hat sie über
das ausgestreckte rechte gelegt, dessen Fußspitze rechts
unten vom Bildrand angeschnitten wird. Der flache Raum wird von
der Ruhestätte, einem blauen, gepolsterten und mit vielerlei
Tüchern bedeckten Bett oder Sofa vollständig eingenommen.
Die bildparallele Rückwand ist rechts zu einem Drittel mit
einem blauen Seidenvorhang verhängt, am linken Bildrand
ist ein schmaler Streifen desselben Stoffes sichtbar. Das Ambiente
ist über Accessoires - die 'Odaliske' trägt einen Turban,
am rechten Bildrand steht ein kleines, rauchendes oder dampfendes
Öfchen, an dem eine Pfeife lehnt - als orientalisch charakterisiert.
Verschiedene lineare und flächige Systeme bestimmen die
Komposition. Der Angelpunkt, in dem die Systeme aufeinandertreffen,
ist das im geometrischen Zentrum liegende linke Knie. Die Grundstruktur
der Flächeneinteilung ist eine nahezu gleichmäßige
Quadrierung: in der Horizontalen durch die verborgene Hinterkante
des Bettes markiert, in der Vertikalen durch die Linie zwischen
den blauen Kissen und die Absetzung im rückwärtigen
Mauerwerk. Die größere Fläche des rechten Seidenvorhangs
verschiebt das kompositorische Zentrum nach links bis vor ihren
Blick. Ein Gegengewicht bildet das farbkompositorisches Zentrum:
ein Fächer, den sie in ihrer rechten Hand hält, und
in dem alle im Bild vorkommenden Farben zu einem Klang vereinigt
sind. Der Fächer bildet zudem das Mittelteil einer räumlich
geschwungenen Diagonale, die Mittel- und Vordergrund zusammenzieht.
Sie beginnt in den Faltenwürfen des rechten Vorhangs und
endet in der Linie zwischen weißem Tuch und Pelzdecke.
Der Vorhang ist an einer weiteren, gegenläufigen Diagonalen
beteiligt: sie beginnt an ihrem linken Knie, läuft über
das Vorhangteil, das ihren Unterschenkel bedeckt, wird von diesem
aufgenommen und führt als Vorhangkante über den Rand
des Bettes rechts unten aus dem Bildformat. Auch diese räumliche
Diagonale verbindet Mittel- und Vordergrund.
Die zweite Hälfte der zuletzt beschriebenen Diagonalen bildet
zusammen mit der rechten Kante der Pelzdecke eine perspektivische
Andeutung, die in den dunkel verschatteten Bereich der Vorhangfalten
führt: sie verbindet Bild- und Betrachterraum.
All diese räumlichen Andeutungen bilden keinen illusionistischen
Tiefenraum, sondern führen im Gegenteil die Raumebenen des
Bildes zu einer Fläche mit volumenhaften Andeutungen zusammen.
Entsprechend ist auch der Luftraum nicht atmosphärisch:
Der Rauch des Öfchens bildet eine Fläche mit dem dahinterliegenden
Vorhang. Diagonalen in allen vier Ecken des Formats - die Oberkante
des blauen Kissens links oben, der Faltenwurf rechts oben, der
Fuß rechts unten und das gelbe Tuch links unten - schließen
die Komposition.
Die wesentliche Verbindung zwischen Bild- und Betrachterraum
erzeugt der Blick der Gestalt, der allein frontal dem Betrachter
zugewandt ist. Dem Blick gegenüber liegt die Lichtquelle.
Der frontale Blick bildet über die Dreiviertelansicht des
Kopfes und der Rückenlinie einen räumlich gedrehten
Bogen; über die - anatomisch unmögliche - Stellung
ihres linken Beines entsteht ein zweiter, der die Abwendung des
Oberkörpers relativiert und eine Bewegung suggeriert, als
wäre sie im Begriff die Abwendung aufzuheben oder eben zu
vollziehen.
Die Kontur zieht den räumlichen Körper zu einer Fläche
zusammen und suggeriert zugleich 'Allansichtigkeit' und Bewegung.
Die Staffelung der Kontur führt über den Kopf, die
rechte Schulter, das linke Knie, die rechte Hand, den linken
Fuß, den rechten Unterschenkel und den rechten Fuß.
Der abgewinkelte linke Arm beantwortet die Staffelung der Kontur.
Die große Gegenbewegung zur Konturstaffelung ist die geschwungene
Linie des Rückens, die der rechte Arm aufnimmt und die der
gegenläufige Schwung von rechter Hüfte und rechtem
Oberschenkel beantwortet. Das rechte Ohr nimmt die Gesamtbewegung
des Körpers auf, oder umgekehrt initiiert die geschwungene
und gedrehte, zugleich geöffnete und geschlossene Form des
Ohres die Bewegung des Körpers. Die Zugehörigkeit zu
Bildfläche und angedeutetem Bildraum gleichermaßen
erzeugt die Beweglichkeit der Figur; aus der Bewegungsrichtung
nach vorne und hinten zugleich resultiert ihre Zugehörigkeit
zu Bildwelt und Betrachterwelt.
Die Bewegungstendenz der Figur klingt in den Faltenwürfen
der Tücher fort. Das weiße Tuch erwidert in den Überschneidungen
des Gesäßes den Rhythmus der Kontur. Entsprechend
der Kontur zeigt der Faltenwurf keine einheitliche und eindeutige
Richtung an, die linearen Bewegungen sind vielfach gedreht und
gebrochen. Das System der geschwungenen und gebrochenen Linien
des Körpers und der Tücher konterkariert das System
der exakten Senkrechten und Waagerechten des Bettes und des Hintergrunds.
Helle Gelb- und Blautöne dominieren die Farbkomposition,
die auf den Primärfarben Rot, Blau und Gelb aufgebaut ist.
Das Rot überzieht in Form von Einsprengseln das ganze Bild.
Rote Einsprengsel sind im Muster der Vorhänge, im Turban,
im Fächer, in der Pfeife, in den Geschmeiden in ihrem Haar
und im Vordergrund.
Die Farbigkeit zieht das Bild zu einer Einheit zusammen und verbindet
das durch die verschiedenen linearen Systeme Getrennte. Die Figur
ist durch die ihr beigegebenen Accessoires, das kühle Weiß
des Kopftuchs, den alle Farbklänge vereinigenden Fächer,
die vielfachen Überschneidungen ihrer Kontur durch den Vorhang
und die Tücher, hauptsächlich aber durch ihr Inkarnat,
in dem die Grundfarben vereinigt sind, mit der Gesamtkomposition
verwoben. Ihr Inkarnat ist nicht von der einheitlichen Farbigkeit
Giorgiones; es schimmert verhalten rötlich an den vorderen
Stellen, gelblich und grünlich an den abgeschatteten, dem
Hintergrund zugeneigten Partien. Die Binnenkonturen sind bläulich
oder rötlich getönt, am deutlichsten die des linken
Fußes. Der Turban, das Armband und der Fächer korrespondieren
mit dem weißen und gelben Tuch und dem Ofen. Hinter-, Mittel-
und Vordergrund sind in der Figur durch die korrespondierenden
Tönungen des Mauerwerks, ihres Haares, ihrer Augen und der
Pelzdecke verbunden. Das Inkarnat spiegelt sich wider im Blau
des Kissens, das weiße Tuch ist gelblich und rötlich
getönt, ein gelber Schimmer liegt auf den seidenen blauen
Vorhängen.
Die Malweise ist nicht einheitlich. Inkarnat und Accessoires
sind verschieden dargestellt. In der Haut sind sanfte, kaum merkliche
Farbübergänge, die Weichheit erzeugen und die Haut
nicht greifbar werden lassen, sondern eine 'Bewegungsunschärfe'
suggerieren.
Dagegen sind das Geschmeide, die Tücher, der Ofen - aber
auch ihre Augen - von einer fast haptischen Plastizität.
Die haptisch gemalten Details und die roten Einsprengsel in Vorhang,
Turban, Geschmeide und Ofen bilden gleichsam ein über das
Bild gelegtes Netz, das die Komposition erst eigentlich konstituiert.
Dieses Netz hält die bewegliche Figur in der Fläche
fest, aus der sie sich sonst kraft ihrer arabeskenhaft verschlungenen
Haltung und der Beweglichkeit ihres Fleisches herausdrehen würde.
Die Beweglichkeit ihres Körpers scheint ihr irdisches Gewicht
- auf andere Weise als bei Giorgione - aufzuheben. Sie beginnt
nicht zu schweben, sondern sich selbst in der Raumscheibe des
Bildes zu bewegen, ohne einfach definierte Zielrichtung. Ihre
Bewegung wird nicht durch ihr Gewicht sondern durch das Netz
der Accessoires gehemmt, das sie in der Fläche fixiert.
Fixiert und beweglich zugleich ist der Bezug der Figur zum Betrachter
durch ihren frontalen, direkten Blick und durch die Malweise
des Fleisches und ihre mehrfach codierte Körper-haltung.