II. B i l d b e t r a c h t u n g e n
II.1. Giorgione: 'Schlummernde Venus'
Das zentrale gegenständliche Motiv ist die unbekleidete
'Schlummernde Venus' (Abb. 1),
die in einer sanft nach unten geschwungenen Diagonale von links
oben nach rechts unten auf einem weißen Laken liegt; ein
rotes Kissen stützt ihren Oberkörper. Die Figur ruht
in einer Landschaft, deren eher wellige als hügelige Geländeformen
bis hin zum Horizont verlaufen, links begrenzt von einem steil
aufragenden, bewachsenen Felsstück und rechts von einem
erhöht stehenden Gebäudekomplex.
In der Figur sind Frontal- und Profilansicht vereinigt. Im Dreiviertelprofil
ist der Hauptteil des Körpers dargestellt, nur die linke
Brust zeigt ein reines Profil und nur das Gesicht mit den geschlossenen
Augen ist frontal dem Betrachter zugewandt. Der Leib ist minimal
gedreht, so daß der Oberkörper mehr dem Tiefenraum
zugewandt erscheint als Unterkörper und Beine. Die Haltung
des linken Arms unterstützt die Drehbewegung des Körpers:
Der Oberarm bleibt hinter der Brust verborgen, der zum Betrachterraum
hin leicht verkürzte Unterarm umfasst den Leib, die Hand
liegt auf der Scham und die Fingerspitzen werden vom rechten
Oberschenkel verdeckt. Diese auf den Betrachter gerichtete Bewegung
suggeriert eine Öffnung des Leibes, die die nach innen führende
Bewegung der Hand zurücknimmt: Der Körper bleibt in
sich geschlossen. Der ganze Leib ist eingebettet in eine geschlossene
Linienführung, die in einer Schleife ihren Schoß kreuzt.
Sie führt über die Rückenlinie zur äußeren
Kontur des linken Beines, über den ausgestreckten Fuß
zurück zur äußeren Kontur des rechten Beines
und über Bauch, Brust, Kopf und den ausgestreckten rechten
Arm zurück zur Rückenlinie. Die Figur ist nirgendwo
angeschnitten. Die klare Kontur wird an keiner Stelle durch ein
abgewinkeltes Körperteil durchbrochen, wie es in der späteren
'Venus von Urbino' (Abb. 3)
Tizians durch den rechten Arm geschieht. 3 Lediglich
im Bereich der rechten Hüfte überschneiden die Falten
von Laken und Kissen den Körper und verbinden ihn mit dem
Untergrund. Die Faltenwürfe wiederholen und unterstützen
die Bewegungsrichtung der Linienverläufe im Leib. Durch
die differente, haptischere, malerische Behandlung der Stofflichkeit
- am greifbarsten ist der brokatne Streifen des Kissens - nehmen
diese Bildelemente in der Gesamtkomposition eine Sonderstellung
ein. Sie haben die Funktion einer Barriere zwischen Bild- und
Betrachterraum und zugleich verbinden sie Bild- und Betrachterwelt
über die plastisch-taktile Behandlung der Stofflichkeit.
Über die Barriere vermag der Betrachter am Bildgeschehen
teilzunehmen.
Die Linien der Landschaft korrespondieren ebenso wie die des
Lakens mit den Umrißlinien der Figur. Die Hauptkompositionslinien
der Landschaft verlaufen in horizontalen, nach oben gebogenen
Schwüngen, die bis zum Horizont führen und sich in
der Ausformung der Wolken wiederholen. Sie umschreiben das vertikale
Zentrum des Bildes: den Schoß des Frauenleibes.
In der horizontalen Mitte und geringfügig nach rechts von
der vertikalen Mitte abgerückt steht ein Baumstumpf auf
der Kante jener Landschaftslinie, die sich vom Bauch der Gestalt
bis hin zum rechten Bildrand spannt. Im Baumstumpf laufen zwei
Landschaftslinien zusammen: die des Hügels mit dem Gehöft
und die jenes Hügels mit dem Baum, der in die Tiefe der
Landschaft führt. Die Binnenkontur der Stumpfoberfläche
nimmt die Linie des dahinterliegenden Hügels auf. Der Baumstumpf
markiert - allerdings durch seine farbliche und lineare Eingebundenheit
in die umgebenden Bildelemente unspektakulär und beinahe
versteckt - ein zweites Zentrum des Bildes.
Die Bäume in der Tiefe der Landschaft und jene am Rande
des Hügels mit dem Gehöft unterstützen die vertikale
Rhythmisierung. Das Fels- oder Wiesenstück in der linken
oberen Bildecke 4 dominiert die vertikale Flächeneinteilung.
Die Bildfläche ist nicht geometrisch durchkonstruiert. Zwar
gibt es Teilungen in Hälften und Drittel - durch den Baumstumpf,
den Schoß, das Felsstück hinter der Figur - aber daneben
stehen immer auch Verschiebungen und Abweichungen. Der Gesamteindruck
ist eher der einer rhythmischen Schwingung, die dem Bild einen
musikalischen Klang verleiht.
Vielfache, überwiegend horizontale Korrespondenzen und Verklammerungen
bestimmen auch die Farbkomposition: Das Inkarnat korrespondiert
mit der Farbe der Wolken, das Blau der Berge mit dem des Himmels.
Die Figur ist eingespannt zwischen den grünen Flächen
der Wiese und der Hügel, zwischen dem weißen Laken
und dem Weiß der Wolken, zwischen dem Braun des steilen
Hügels hinter ihr und den Braun- und Ockertönungen
des Gehöfts. Das Kissen korrespondiert in Farbe und Form
mit ihren Lippen; die Linie zwischen den Lippen steht diagonal
zu der Linie zwischen den beiden Hälften des Kissens, das
durch seine Form und Ausrichtung die Assoziation an Schamlippen
nahelegt. Der rot-grüne Komplementärkontrast zwischen
Kissen und Wiese erzeugt die horizontale Hauptspannung, zwischen
der die Figur als zentrales Wesen in die Komposition eingebettet
ist, und er bildet den Gegenpol zu der linearen Ausrichtung auf
ihren Schoß.
Das Zusammenspiel von Linie und Farbe hält das Bild in einem
unstatischen Gleichgewicht, das unaufhörlich zwischen den
farblichen Verklammerungen und dem Liniengefüge schwingt.
Die Figur ist mit der Landschaft verbunden durch die Verschmelzung
ihres Haares mit dem dahinter liegenden Felsstück. Gleichzeitig
nimmt sie dadurch Verbindung auf mit dem farblich korrespondierenden
Baumstumpf und dem Hügel mit dem Gehöft. Über
das Felsstück ist der Leib auch mit dem oberen Bilddrittel
verbunden: Der in den Himmel ragende Zweig korrespondiert mit
dem mittleren Baum, der ebenfalls den Horizont überschneidet
und der wiederum korrespondiert mit den Bäumen am Rande
des Gehöfts: Eine Blickbewegung verbindet Nahes und Fernes,
Vorder, Mittel- und Hintergrund.
Landschaft und Körper bilden zwei je geschlossene Systeme
in einer geschlossenen Gesamtkomposition, die sich in den vielfachen
Entsprechungen der linearen und farblichen Komposition durchdringen.
Die Ganzheit des Bildes erschließt sich unmittelbar anschaulich
durch die vielfachen kompositorischen Bezüge: Der Bildraum
meint nicht einen Ausschnitt aus einer Welt, er ist eine vollkommene
Welt.
Das Licht verbindet Landschaft und Figur. Es fällt gleichmäßig
und weich von links oben in den Bildraum ein und wirft - außer
im Faltenwurf des Lakens - keine harten Schatten. Die dunkelsten
Partien der Figur, der linke Arm und die linke Schulter, nähern
sich in ihrem Helligkeitswert der dahinterliegenden Landschaft
an und sind durch das 'Sfumato' mit ihr verbunden. Der härteste
Kontrast liegt zwischen der Rückenlinie der Figur und dem
roten Kissen. Dadurch, und durch die minimalen Überschneidungen
ihrer Kontur, scheint sie eher auf dem Untergrund zu schweben,
als daß sie mit der Festigkeit eines irdischen Körpers
auf ihm ruhte. Das Inkarnat ist von einer schwebenden Helle,
das Fleisch scheint keine Festigkeit, der Körper scheint
- im Gegensatz zu Kissen und Laken - keine greifbare Oberfläche
zu haben. Der Körper fängt das Licht weder auf noch
wirft er es zurück, er leuchtet selbst, "hell durchsichtig
wie Bernstein, so daß man den Eindruck hat, die Venus wäre
schwerelos und würde schweben." 5
Diesen Eindruck unterstützt die Linienführung, in die
die Figur eingebettet ist. Sie scheint weder Gebein noch Gewicht
zu haben, die die Weichheit der linearen Schwünge stören
könnten. Kein Gewicht ihres linken Beines drückt sich
in das rechte ein, es liegt darauf ebensowenig, wie sie selbst
auf dem Kissen.
Durch das Zusammenspiel der Bildelemente, die über Kontrastumfang
und -verteilung, Linienführung und Farbkomposition die natürliche
Schwere der Figur aufheben, scheint sie vom Vorder- und ihrem
Untergrund sich zu entfernen und dem Horizont sich anzunähern,
der einen ruhigen und stetigen Sog auf die Schlafende auszuüben
scheint, um sie - durch die Korrespondenz der Wolkenform und
-farbe mit dem Leib - wieder freizugeben. Dieses räumliche
Oval ist die Grundbewegung des Blicks.