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Gabriele Schmid:  Die Dauer des Blicks
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wenn ein Bewußtsein, wie man zu sagen pflegt, einem Körper eingeprägt wird und ein neues Wesen in der Welt auftaucht, dem irgend etwas zustoßen wird, was fortan auch gar nicht ausbleiben kann, und sei es nur das Ende jenes kaum begonnenen Lebens.

Maurice Merleau-Ponty 1

 

 

I. E i n l e i t u n g

 

Den Schwerpunkt der Interpretation der vom Thema vorgegebenen Aktdarstellungen möchte ich auf die Zeitlichkeit, die Erotik und den Bezug zwischen Bild und Betrachter legen.
Die Zeitlichkeit unterscheidet sich in die Zeit des Dargestellten und die Zeit des Bildes selbst, die Zeit der Darstellung. Grob charakterisiert entspricht die Zeit des Dargestellten dem epischen Erzählverlauf im Bild; die Zeit der Darstellung aber entspringt der im Bild angelegten Blickführung, die vom Betrachter in der Zeit abgelesen wird. Beide Zeitformen durchdringen sich im einzelnen Werk. Ziel dieser Untersuchung ist es, das Zusammenspiel oder die Differenz dieser Zeiten in den Bildern je aus der Anschauung zu analysieren, um zusammen mit dem Aspekt der Erotik und dem der Beziehung zwischen Bild und Betrachter auf den der Darstellung zugrundeliegenden - und für den Betrachter wahrnehmbaren - transzendenten oder profanen Impuls schließen zu können.

Die Untersuchung beginnt mit den anschaulichen Beschreibungen. Um im Blick auf das Untersuchungsziel die Zeitlichkeit des Bildes analysieren zu können, sind insbesondere die lineare, flächige und koloristische Komposition von Bedeutung, die die Blickführung erzeugen (der gegenständliche Bestand ist nur insoweit von Bedeutung, als er die Komposition mitträgt).
Haltung und Malweise der Leiber zeugen von ihrer Zeitlichkeit. Der darin liegende Bewegungs- oder Ruheimpuls und die Zugehörigkeit diese Impulses zu Bild- oder Betrachterraum deutet auf die Beziehung zwischen Bild- und Betrachterwelt.

Aus der anschaulichen Analyse der Bilder entsteht der Ansatz der Interpretationen. Die Erotik, der Leib und die Zeit aber sind so allgemeine und vielschichtige Begriffe, daß es mir notwendig erscheint, in einem gesonderten Teil die Begriffsverwendung zu differenzieren.
Der Leib, der nackte weibliche Körper, ist das gemeinsame Motiv aller vier Bilder. Der inhaltliche Impuls der Aktdarstellung ist eng mit dem Wesen der Erotik und ihrer profanen oder transzendenten Bedeutung verknüpft. Das je zugrundeliegende Ideal - oder Nicht-Ideal - erfuhr im Verlauf der Kunstgeschichte eine Form- und Bedeutungswandlung, die mit dem jeweiligen Verhältnis zu Körperlichkeit und Erotik und deren Bedeutung verknüpft ist. Die Ausformung des Ideals zeugt vom Realitätsbezug des dargestellten Körpers und damit von der an den Betrachter gerichteten Intention der Darstellung.
Der Leib ist es, den das Motiv mit dem Betrachter gemein hat. Zuerst: Ein nackter Körper wird immer anders rezipiert werden als zum Beispiel eine Zitrone. Es ist eben der menschliche Körper jenes Motiv, das - über alle Zeitgrenzen hinweg - durch den unmittelbaren Bezug zum eigenen Leib nie völlig fremd sein kann und sei es nur, daß die Differenz zur eigenen Auffassung von Körperlichkeit spürbar wird. Das ist das eine. Das andere ist die Leiblichkeit des Bildkörpers selbst und dessen Bezug zum Betrachterleib. Die Wahrnehmungsweise des Betrachters wird sowohl von der Leiblichkeit des Dargestellten als auch von der der Darstellung beeinflusst. 2
Die Leiblichkeit der Darstellung und ihr Bezug zum Betrachter führt zur Frage nach dem Wesen des Bildwerks. Das gemalte Bild kann mit der Leiblichkeit des Betrachters korrespondieren, indem durch das Wesen der Wahrnehmung die frontale Struktur, die Betrachtersubjekte und Bildobjekte konstituiert und trennt, aufgehoben zu werden vermag.
Die Reichweite der Kommunikation zwischen Bild und Betrachter gründet im Wesen der Wahrnehmung. Da Kommunikation gemeinhin zunächst mit gesprochener Sprache in Verbindung gebracht wird, versuche ich, die Reichweite und die Verbindung des sprachlichen Mediums mit dem anderen und der Welt auszuloten, um über das Wesen der visuellen Wahrnehmung und wie sie im Leib gründet zur möglichen Verbindung zwischen den Gesamtwesen zu gelangen. Über den Leib kann der Zeichencharakter der Sprache überschritten werden.
Der zentrale Charakter und die Bedeutung des Blicks für die Verbindung zwischen Bild und Betrachter erfordern eine gesonderte Betrachtung der Natur des Sehens und ihrem Verhältnis zur Welt.
Auch die Frage nach der Zeit zielt über das Wesen der Bewegung letztlich auf ihr Verhältnis zum menschlichen Leib. Um Zeit und Bewegung im Bild und des Bildes klären zu können, erwies es sich als notwendig, zunächst die ontologische Herkunft der Begriffe und deren Wandlung zu untersuchen. Entscheidend ist die grundsätzliche Unterscheidung zwischen umfassendem, absolutem und letztlich jenseitigem Zeitcharakter und jenem, der diesseitig, vom Lebendigen und Beweglichen selbst konstituiert wird. Wieder als grobe Unterscheidung: Ersterer (kann) der epischen Darstellung angehören (auch das Bild selbst kann unter einem bestimmten ontologischen Blickwinkel als überzeitlich aufgefasst werden), letzterer aber gehört der Zeit der Darstellung an und ist also für die Verbindung zwischen Bild und Betrachter von zentraler Bedeutung.
Die Bearbeitung der theoretischen Grundlagen folgt dem Untersuchungsinteresse. In diesem Kontext ist es weder möglich noch notwendig, eine erschöpfende Untersuchung des Begriffs Zeit vorzunehmen und zu diskutieren.

Ausgehend also von der Anschauung und der in ihr geweckten Assoziationen versuche ich im Durchgang durch die theoretischen Grundlagen zu einer Interpretation zu gelangen, die weder das Anschauliche übergeht und vereinnahmt, noch die Malerei hinter den theoretischen Erkenntnissen zurückstehen läßt (in Bezug auf das Untersuchungsinteresse ist in diesem Zusammenhang die kunsthistorische Beurteilung und Einordnung von sekundärer Bedeutung).
Der Blickwinkel auf die Bilder grenzt das Interpretationsspektrum innerhalb der im Prinzip unbegrenzten Anzahl und Weisen möglicher Interpretationen ein. Andere sind denkbar. In Bezug auf den theoretischen Hintergrund bestimmen die Werke selbst den möglichen Zusammenhang, in den sie gestellt werden können, weshalb ich versuche, in den Interpretationen ausgehend vom anschaulich Gegebenen den Bezug des Dargestellten und der Darstellung zu Erotik, Zeit und dem Bezug zwischen Bild und Betrachter herzustellen und nicht umgekehrt den Begriff anhand des Bildes zu illustrieren. Der Zusammenhang mit der Theorie differiert bei den verschiedenen Werken, sie eröffnen je eigene Verbindungen und setzen je eigene Grenzen, über die hinaus die Interpretation die Verbindung zur Anschauung, zur 'Sache selbst', verlöre.


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1 Merleau-Ponty, 1984a, S. 99.

2Dieser Bezug allerdings erschließt sich nur eigentlich vor dem Original, das sowohl die beigefügten Abbildungen als auch die Beschreibungen nicht letztlich vertreten können.


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