wenn ein Bewußtsein, wie man zu sagen pflegt, einem
Körper eingeprägt wird und ein neues Wesen in der Welt
auftaucht, dem irgend etwas zustoßen wird, was fortan auch
gar nicht ausbleiben kann, und sei es nur das Ende jenes kaum
begonnenen Lebens.
Maurice Merleau-Ponty 1
I. E i n l e i t u n g
Den Schwerpunkt der Interpretation der vom Thema vorgegebenen
Aktdarstellungen möchte ich auf die Zeitlichkeit, die Erotik
und den Bezug zwischen Bild und Betrachter legen.
Die Zeitlichkeit unterscheidet sich in die Zeit des Dargestellten
und die Zeit des Bildes selbst, die Zeit der Darstellung. Grob
charakterisiert entspricht die Zeit des Dargestellten dem epischen
Erzählverlauf im Bild; die Zeit der Darstellung aber entspringt
der im Bild angelegten Blickführung, die vom Betrachter
in der Zeit abgelesen wird. Beide Zeitformen durchdringen sich
im einzelnen Werk. Ziel dieser Untersuchung ist es, das Zusammenspiel
oder die Differenz dieser Zeiten in den Bildern je aus der Anschauung
zu analysieren, um zusammen mit dem Aspekt der Erotik und dem
der Beziehung zwischen Bild und Betrachter auf den der Darstellung
zugrundeliegenden - und für den Betrachter wahrnehmbaren
- transzendenten oder profanen Impuls schließen zu können.
Die Untersuchung beginnt mit den anschaulichen Beschreibungen.
Um im Blick auf das Untersuchungsziel die Zeitlichkeit des Bildes
analysieren zu können, sind insbesondere die lineare, flächige
und koloristische Komposition von Bedeutung, die die Blickführung
erzeugen (der gegenständliche Bestand ist nur insoweit von
Bedeutung, als er die Komposition mitträgt).
Haltung und Malweise der Leiber zeugen von ihrer Zeitlichkeit.
Der darin liegende Bewegungs- oder Ruheimpuls und die Zugehörigkeit
diese Impulses zu Bild- oder Betrachterraum deutet auf die Beziehung
zwischen Bild- und Betrachterwelt.
Aus der anschaulichen Analyse der Bilder entsteht der Ansatz
der Interpretationen. Die Erotik, der Leib und die Zeit aber
sind so allgemeine und vielschichtige Begriffe, daß es
mir notwendig erscheint, in einem gesonderten Teil die Begriffsverwendung
zu differenzieren.
Der Leib, der nackte weibliche Körper, ist das gemeinsame
Motiv aller vier Bilder. Der inhaltliche Impuls der Aktdarstellung
ist eng mit dem Wesen der Erotik und ihrer profanen oder transzendenten
Bedeutung verknüpft. Das je zugrundeliegende Ideal - oder
Nicht-Ideal - erfuhr im Verlauf der Kunstgeschichte eine Form-
und Bedeutungswandlung, die mit dem jeweiligen Verhältnis
zu Körperlichkeit und Erotik und deren Bedeutung verknüpft
ist. Die Ausformung des Ideals zeugt vom Realitätsbezug
des dargestellten Körpers und damit von der an den Betrachter
gerichteten Intention der Darstellung.
Der Leib ist es, den das Motiv mit dem Betrachter gemein hat.
Zuerst: Ein nackter Körper wird immer anders rezipiert werden
als zum Beispiel eine Zitrone. Es ist eben der menschliche Körper
jenes Motiv, das - über alle Zeitgrenzen hinweg - durch
den unmittelbaren Bezug zum eigenen Leib nie völlig fremd
sein kann und sei es nur, daß die Differenz zur eigenen
Auffassung von Körperlichkeit spürbar wird. Das ist
das eine. Das andere ist die Leiblichkeit des Bildkörpers
selbst und dessen Bezug zum Betrachterleib. Die Wahrnehmungsweise
des Betrachters wird sowohl von der Leiblichkeit des Dargestellten
als auch von der der Darstellung beeinflusst. 2
Die Leiblichkeit der Darstellung und ihr Bezug zum Betrachter
führt zur Frage nach dem Wesen des Bildwerks. Das gemalte
Bild kann mit der Leiblichkeit des Betrachters korrespondieren,
indem durch das Wesen der Wahrnehmung die frontale Struktur,
die Betrachtersubjekte und Bildobjekte konstituiert und trennt,
aufgehoben zu werden vermag.
Die Reichweite der Kommunikation zwischen Bild und Betrachter
gründet im Wesen der Wahrnehmung. Da Kommunikation gemeinhin
zunächst mit gesprochener Sprache in Verbindung gebracht
wird, versuche ich, die Reichweite und die Verbindung des sprachlichen
Mediums mit dem anderen und der Welt auszuloten, um über
das Wesen der visuellen Wahrnehmung und wie sie im Leib gründet
zur möglichen Verbindung zwischen den Gesamtwesen zu gelangen.
Über den Leib kann der Zeichencharakter der Sprache überschritten
werden.
Der zentrale Charakter und die Bedeutung des Blicks für
die Verbindung zwischen Bild und Betrachter erfordern eine gesonderte
Betrachtung der Natur des Sehens und ihrem Verhältnis zur
Welt.
Auch die Frage nach der Zeit zielt über das Wesen der Bewegung
letztlich auf ihr Verhältnis zum menschlichen Leib. Um Zeit
und Bewegung im Bild und des Bildes klären zu können,
erwies es sich als notwendig, zunächst die ontologische
Herkunft der Begriffe und deren Wandlung zu untersuchen. Entscheidend
ist die grundsätzliche Unterscheidung zwischen umfassendem,
absolutem und letztlich jenseitigem Zeitcharakter und jenem,
der diesseitig, vom Lebendigen und Beweglichen selbst konstituiert
wird. Wieder als grobe Unterscheidung: Ersterer (kann) der epischen
Darstellung angehören (auch das Bild selbst kann unter einem
bestimmten ontologischen Blickwinkel als überzeitlich aufgefasst
werden), letzterer aber gehört der Zeit der Darstellung
an und ist also für die Verbindung zwischen Bild und Betrachter
von zentraler Bedeutung.
Die Bearbeitung der theoretischen Grundlagen folgt dem Untersuchungsinteresse.
In diesem Kontext ist es weder möglich noch notwendig, eine
erschöpfende Untersuchung des Begriffs Zeit vorzunehmen
und zu diskutieren.
Ausgehend also von der Anschauung und der in ihr geweckten
Assoziationen versuche ich im Durchgang durch die theoretischen
Grundlagen zu einer Interpretation zu gelangen, die weder das
Anschauliche übergeht und vereinnahmt, noch die Malerei
hinter den theoretischen Erkenntnissen zurückstehen läßt
(in Bezug auf das Untersuchungsinteresse ist in diesem Zusammenhang
die kunsthistorische Beurteilung und Einordnung von sekundärer
Bedeutung).
Der Blickwinkel auf die Bilder grenzt das Interpretationsspektrum
innerhalb der im Prinzip unbegrenzten Anzahl und Weisen möglicher
Interpretationen ein. Andere sind denkbar. In Bezug auf den theoretischen
Hintergrund bestimmen die Werke selbst den möglichen Zusammenhang,
in den sie gestellt werden können, weshalb ich versuche,
in den Interpretationen ausgehend vom anschaulich Gegebenen den
Bezug des Dargestellten und der Darstellung zu Erotik, Zeit und
dem Bezug zwischen Bild und Betrachter herzustellen und nicht
umgekehrt den Begriff anhand des Bildes zu illustrieren. Der
Zusammenhang mit der Theorie differiert bei den verschiedenen
Werken, sie eröffnen je eigene Verbindungen und setzen je
eigene Grenzen, über die hinaus die Interpretation die Verbindung
zur Anschauung, zur 'Sache selbst', verlöre.