III.2.3. Der Blick und der Andere
Das Auge sieht den Himmel offen
Anonym
Auf dem Blick mit seinen sinnstiftenden und physiologischen Eigenschaften
gründet die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen Bild und
Betrachter, in der auf der einen Seite das Abbildhafte des Dargestellten
und auf der anderen Seite die bloß physiologische Aufnahme des Abgebildeten
überschritten werden kann.
Die Revision des Sehens beginnt an der Aufhebung der Frontalität
als Struktur von vorstellendem Ich, dem das Bild als frontales Ding gegenüberliegt.
Das Bild ist nicht frontal, weil es gleich dem Leib des Betrachters im
Dinglichen eingerichtet ist; das Auge ist deshalb nicht gleich dem Kameraauge
frontal, weil es bei aller Öffnung auf die Welt hin den eigenen Körper
betrachten kann. Merleau-Ponty nimmt durch seine Formel 'J'en suis' dem
Ort des Auges gegenüber den Dingen seine scheinbare Selbstverständlichkeit.
Die Zugehörigkeit zur Welt äußert sich primär in der
Erfahrungswelt des Auges und seinem bevorzugten Darstellungsorgan, dem
Bild.
Das Sehen ist weder allein ein physiologisches Ereignis, noch allein
ein historisches Artefakt. Seine Produktivität und die in der Wahrnehmung
geborgenen Möglichkeiten der Sinnerschließung haben mit der
Verknüpfung beider Aspekte zu tun. Die visuelle Wahrnehmung ist immer
zugleich eine Erfahrung des gesamten Leibes. Der Leib ist das Ganze der
Sinne und nicht eine Hülle, in der die Sinne zusammengefügt sind.
Die Übersetzung der Sinne ist im Leib immer schon vollzogen, sie ist
der Leib selbst. "Hier erscheinen die 'visuellen Gegebenheiten' nur
im Durchgang durch ihren taktilen Sinn, die 'taktilen Gegebenheiten' nur
im Durchgang durch ihren visuellen Sinn, jede lokale Bewegung nur auf dem
Untergrunde der Gesamtstellung." 62 Jede Handlung
eines Körpersegments und jede Wahrnehmung trägt zu einer bestimmten
Haltung des ganzen Körpers bei. Umgekehrt verändert die Körperhaltung
bei gleicher sensorischer Stimulation die neuronalen Reaktionen im Sehzentrum;
durch die neuronale Vernetzung entsteht eine Wechselwirkung zwischen Sensorium
und Motorium. 63 Die sensorische Wahrnehmung und die
motorischen Reaktionen des Leibes sind verbunden mit der gesamten Existenz.
64
Der Blick hat - wie die Erscheinung des Leibes - den zweifachen Charakter
von Innen und Außen, von Aufnahme und Äußerung. 65 Im Blick sind Körper und Welt verschränkt, über
den aufnehmenden Blick geht die Welt in den Maler ein, über die Äußerung
seines Blickes er in die Welt. Das Sehen ist ein Mittel, die Abgeschlossenheit
des Seins zu durchbrechen und unter den Dingen zu sein. Die Dinge gehen
in den Maler über und zugleich "tritt der Geist ihm aus den Augen"
66 , um sich unter den Dingen zu ergehen. Zwischen dem
Maler und dem Sichtbaren kehren die Rollen sich um. Das Sichtbare sieht
ihn, so "daß man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen
wird, wer malt und wer gemalt wird." 67 Das Malen
ist dergestalt eine Spiegelung des Universums, dasselbe Ding ist dort in
der Welt, über den Blick hier, im Innern des Malers und durch ihn
dort, auf der Leinwand.
In der Aktdarstellung korrespondieren Leib und Blick des Malers mit denen
des Modells. Insofern der Maler als Medium begriffen wird, durch dessen
Hand das Gesehene zum Sichtbaren wird, gehen der doppelt gekreuzte Blick
von Maler und Modell in die Leinwand ein.
Zum Blick von Welt und Maler tritt der des Betrachters. Das Bild, das
zuerst durch den Maler zwischen Welt und Leinwand war, ist jetzt zwischen
Leinwand und Betrachter. Das Bild ist, im Falle der Aktdarstellung, Blick
und Leib des Modells, des Malers, der Blick des Materials (als 'Fleisch')
und des Betrachters; in dieser vielfachen Vernetzung der Blicke erscheint
das Bild.
Bild und Betrachter stehen über den Blick in einem unmittelbar kommunikativen
Verhältnis. Durch die Verschränkung des Blicks mit dem Leib übt
der Körper auf jede Art von Urteil über eine Form und sogar auf
die Auffassung von dem als 'richtig' bezeichneten Winkel einen Einfluß
aus. 68 "Tonart und Rhythmus des Körpers (lassen
sich) nicht leicht übergehen. ... Der Rhythmus unserer Atemzüge
und der Schlag unseres Herzens sind Teil der Erfahrung, auf Grund derer
wir ein Kunstwerk abschätzen." 69 Nicht nur
die Körperhaltung und Konstitution des Betrachters beeinflussen seine
Wahrnehmung des Bildes, sondern umgekehrt beeinflussen die Konfiguration
der Bildelemente und die Größe der Bildfläche im Verhältnis
zur Größe des Betrachters seine Körperhaltung vor dem Bild
und damit die Weise seiner Wahrnehmung. Die Kreisbewegung der Wahrnehmungsbedingungen
und -veränderungen ist potentiell von unendlicher Dauer. Aus ihr können
fortwährend neue Verknüpfungen und Bedeutungen hervorgehen.