Ereignis, Ekstase und existentielles Wissen
Was jetzt geschieht, ist "nicht einfach passives Registrieren
der 'impression', nicht nur optischer Empfang, sondern Re-Aktion,
nämlich Rührung des Farbensinns, des Bewegungssinns,
des Raumsinns, je aus ihren eigenen Tiefen."1
Wo immer in den beiden Räumen der Betrachter sich befindet,
die Nymphéas umgeben ihn. Die zwei Meter hohen
Tafeln überragen ihn, und von den Tafeln an der Längswand
kann er unmöglich so weit sich entfernen, daß sie
ohne Wendung von Kopf und Körper erfaßt werden können.
Das Format löst so spezifische körperliche Reaktionen
des Publikums aus: Die Betrachter sind unterwegs. Je nachdem,
wohin sie sich wenden, erfahren sie die Malerei als Illusion
oder als Fläche der Malwirklichkeit, und "dem wandernden
Blick verschiebt sich das eine unaufhaltsam in das andere."2
Die Rezeption der Nymphéas kann umschrieben werden
als ein flüchtiges und bewegliches Ereignis, über das
sich kaum mehr sagen läßt, als daß ein Schwebendes
vorüberzieht, eine flimmernde Wasserfläche plötzlich
erscheint, die waagrecht aus der Leinwand heraustritt, aber für
kaum einen Augenblick. Auch die Materialität der Farben
zeigt sich dem vorüberziehenden Blick nicht als etwas Festes.
In der Beweglichkeit des Ereignisses wird die Farbmaterie zu
einer vorüberziehenden Manifestation einer ständigen
Wechseln unterworfenen Natur. Wie in der Natur scheint sich die
spiegelnde Fläche zu bewegen - Indiz für Monets Auseinandersetzung
mit der Prozeßhaftigkeit des Sehvorgangs (eine Momentfotografie
hätte das bewegliche Wasser stillgelegt). In gleicher Weise
erscheinen die Wolken und die Seerosen, die Reflexe und die Dinge.
Es gibt hier keine Hierarchien, und all das Vorüberziehende
wirkt nur im gegenwärtigen Augenblick. In solcher Verwirklichung
des Augenblicks scheint eine leise Analogie auf zu orientalischem
Wirklichkeitsverständnis und dessen Hang zur meditativen
Kontemplation. Masson schrieb angesichts der Seerosendekoration,
es gehe darum, "die göttliche sensation wiederzufinden.
Göttlich? Das heißt bis ins Äußerste menschlich.
Wenn wir den Kontakt mit dem nichtaustauschbaren Augenblick wiederaufnehmen,
werden wir aus unseren verschiedenen intellektuellen Sackgassen
herauskommen, und zur Ausarbeitung einer neuen Tiefe geführt;
und das durch das Mittel einer wiedererfundenen Transparenz.
Denn man kann nicht von neuem 'Impressionismus' machen, sondern
noch einmal von ihm (Monet) den kostbarsten Rat anhören:
Vorwärtsgehen!"3
Monet, der sich ja gegen die Vorstellung, er sei ein 'Visionär'
verwahrt hatte, hatte eine schlichtere Vorstellung von der Wirkung
eines mit Seerosen dekorierten Raumes, doch gehen seine bereits
1909 formulierten Gedanken in eine ähnliche Richtung: "Die
von der Arbeit überstrapazierten Nerven hätten sich
dort entspannt nach dem erholsamen Beispiel stehender Gewässer,
und dem, der es bewohnt hätte, hätte dieses Zimmer
eine Stätte friedvoller Meditation inmitten eines blühenden
Aquariums geboten."4 Usener beschreibt
in ähnlicher Weise die buchstäblich umfassende Wirkung
der Nymphéas. Er meint, man habe in der Orangerie
nicht den Eindruck über eine Wasserfläche hinzublicken.
"Eher meint man in einer Art Unterwasseraquarium zu stehen
und durch Glasscheiben ins Wasser hineinzuschauen."5
Nichts von objektivierender Distanz, wie es eine vergleichende
Kunstbetrachtung erfordert, die Kunstwerke unabhängig von
Betrachtern auf verborgenen Sinn oder zugrunde gelegte Konzepte
hin analysiert. In solchem Denken wird subjektives Empfinden
durch wissenschaftlich begründetes Objektivieren relativiert;
das Erlebnis von Gegenwärtigkeit kommt aufgrund einer kausal-linearen
Zeitvorstellung, die nur die Einordnung von Phänomenen in
historische Bezüge gelten läßt, nicht vor. Faßbarer
wird, was in der Rezeption geschieht, im orientalischen Denken.
Hier liegt Gegenwärtigkeit in der Verdichtung der Zeit zum
ewigen Augenblick. Das ermöglicht erst Ekstase, die die
Grenzen des bloß Funktionellen sprengt. Ekstaseartige Zustände
können viele verschiedenen Ursachen haben, die kulminative
Verdichtung von visuellen Empfindungen ist eine davon. Emil Maurer
schrieb über die Wirkung der Nymphéas: "Erregt
wird z.B. Entzückung oder Ekstase, oder es entsteht ein
feiner, ganz inwendiger, heller Jubel, oder es schleichen sich
unbenennbare Melancholien ein."6 Was sich
im Ereignis vollzieht, wird zu einer einmaligen Erfahrung. "Jedes
Erlebnis eines Augenblicks ist etwas anderes, als gesagt oder
bedeutet werden kann: Das Ereignis schließt damit die Kunst
zurück an die Momente der Entrückung ... Doch birgt
der Gewinn ebenso einen Verlust. Denn als absolute Singularität
verweigern sich die Ereignisse per definitionem jeglicher
Reproduzierbarkeit."7 Insofern ist das
sich Ereignende geschichtslos, es läßt sich nicht
tradieren. Das, was sich im Einzelnen - ausgelöst durch
das Erlebnis - zur Erfahrung verdichtet, ist vom intellektuellen
Wissen verschiedenes existentielles Wissen. "Ersteres ist
lern- und lehrbar, letzteres unübertragbar; denn es ist
Folge eines Erlebnisses, Resultat einer inneren Erfahrung, und
damit bleibt es jedem, der nicht dasselbe erfuhr und erlebte,
verschlossen. Die einzige Möglichkeit, existentielles Wissen
zu vermitteln, ist die Einweihung, die Initiation."8
Als solche Initiation kann man die Erfahrung vor Monets Nymphéas
begreifen. Sie kann der Möglichkeit nach veränderte
Wahrnehmung der Wirklichkeit auslösen.
Mitteilbar sind solche sinnlichen Eindrücke nur symbolisch:
"Wir können Berichte über Erfahrungen austauschen
und sammeln, niemals aber die Erfahrungen selbst."9
Das Lernpotential symbolischer Mitteilungen kann so gefaßt
werden, daß vollzogene Erfahrungen, die unterhalb der Bewußtseinsschwelle
liegen, der Reflexion zugänglich werden und auf diese Weise
in das Diskursuniversum menschlicher Äußerungen aufgenommen
werden können. So kann symbolischer Austausch der Möglichkeit
nach neue und tiefere Erlebnisse initiieren, indem in der Reflexion
zuvor Unbewußtes als bedeutsam erfahren wird.
Das lebensgeschichtlich erfahrene, existentielle Wissen kennt
auch der Physiologe Helmholtz. Helmholtz nennt alle Urteile,
die aufgrund von Sinnesempfindungen gefällt werden, 'unbewußte
Schlüsse', denn Sinnesempfindungen beurteilen wir nicht,
indem wir sie in bewußter Weise mit früheren Empfindungen
vergleichen (das wäre, utilitaristisch gesprochen, dem Überleben
des Organismus nicht dienlich).10 Gegenüber
der gewöhnlichen psychologischen Darstellungsweise, in der
ein Schluß gleichsam der Gipfelpunkt in der Tätigkeit
unseres bewußten Geistesleben ist, "sind nun in der
That die Schlüsse, welche in unseren Sinneswahrnehmungen
eine so grosse Rolle spielen, niemals in der gewöhnlichen
Form eines logisch analysirten Schlusses auszusprechen... Der
Unterschied zwischen den Schlüssen der Logiker und den Inductionsschlüssen,
deren Resultat in den durch die Sinnesempfindungen gewonnenen
Anschauungen der Aussenwelt zu Tage kommt, scheint mir in der
That nur ein äusserlicher zu sein, und hauptsächlich
darin zu bestehen, dass jene ersteren des Ausdrucks in Worten
fähig sind, letztere nicht, weil bei ihnen statt der Worte
nur die Empfindungen und die Erinnerungsbilder der Empfindungen
eintreten. Eben darin, dass die letzteren sich nicht in Worten
beschreiben lassen, liegt aber auch die grosse Schwierigkeit,
von diesem ganzen Gebiete von Geistesoperationen überhaupt
nur zu reden."11 Helmholtz nennt jenes
Wissen, das nicht unmittelbar in Worte überführt werden
kann, das 'Kennen'. Wir erkennen sinnliche Eindrücke - Gerüche
oder Gesten beispielsweise - mit großer Sicherheit wieder.
Sinneseindrücke sind irreduzibel. Sie können nicht
durch etwas anderes als den jeweiligen Auslöser hervorgerufen
werden (es gibt natürlich Ähnlichkeiten, es kann uns
der Gang eines völlig Fremden an den eines engen Freundes
erinnern). Das 'Kennen' hält Helmholtz für ebenso
zuverlässig wie logisches Wissen. Wir können Sinneseindrücke
der subtilsten Art unterscheiden und wiedererkennen - nicht aber
anders als in Analogien darüber reden, und uns darauf verlassen,
daß unser Gegenüber aufgrund seiner Ähnlichkeit
mit uns ähnlich empfindet. Solche Ähnlichkeiten sind
es, weshalb die subtile Ausformung von Monets Nymphéas
überhaupt als Vermittlungsstrategie aufgefaßt werden
kann, und weshalb sie im Sinne der Rezeptionsästhetik als
Betrachterfunktion wirksam ist.
In solcher Auffassung rezeptionsästhetischer Prämissen
liegt eine Monets Kunst angemessene Erkenntnismöglichkeit
geborgen. Helmholtz hat das so gefaßt: "Wir werden
... zu einem Gebiet von psychischen Thätigkeiten geführt,
von denen bisher in wissenschaftlichen Untersuchungen wenig die
Rede gewesen ist, weil es schwer hält, überhaupt von
ihnen in Worten zu reden. Am meisten sind sie noch in ästhetischen
Untersuchungen berücksichtigt worden, wo sie als 'Anschaulichkeit',
'unbewusste Vernunftmässigkeit', 'sinnliche Verständlichkeit'
und in ähnlichen halbdunkeln Bezeichnungen eine grosse Rolle
spielen. Es steht ihnen das sehr falsche Vorurtheil entgegen,
dass sie unklar, unbestimmt, nur halbbewusst vor sich gingen,
dass sie als eine Art rein mechanischer Operationen dem bewussten
und durch die Sprache ausdrückbaren Denken untergeordnet
seien. Ich glaube nicht, dass in der Art der Thätigkeit
selbst ein Unterschied zwischen den ersteren und letzteren nachgewiesen
werden kann. Die ungeheure Ueberlegenheit des bis zur Anwendung
der Sprache gereiften Erkennens erklärt sich hinlänglich
schon dadurch, dass die Sprache einerseits es möglich macht,
die Erfahrungen von Millionen von Individuen und Tausenden von
Generationen zu sammeln, fest aufzubewahren und durch fortgesetzte
Prüfung allmälig immer sicherer und allgemeiner zu
machen. Andererseits beruht auch die Möglichkeit überlegten
gemeinsamen Handelns der Menschen und damit der grösste
Theil ihrer Macht auf der Sprache. In beiden Beziehungen kann
das Kennen nicht mit dem Wissen rivalisiren; doch folgt daraus
nicht nothwendig eine geringere Klarheit oder eine andere Natur
des ersteren."12 Die Allgemeingültigkeit
sprachlichen Wissens erklärt sich aus seiner Reduziertheit
gegenüber den Sinneseindrücken. "Die elementaren
Zeichen der Sprache sind nur die 24 Buchstaben, und wie ausserordentlich
mannigfaltigen Sinn können wir durch deren Combinationen
ausdrücken und einander mittheilen! Nun bedenke man im Vergleich
damit den ungeheuren Reichthum der elementaren Zeichen, die der
Sehnervenapparat geben kann. Man kann die Zahl der Sehnervenfasern
auf 250,000 schätzen. Jede derselben ist unzählig vieler
verschiedener Grade der Empfindung von einer oder drei verschiedenen
Grundfarben fähig. Dadurch ist natürlich ein unendlich
viel reicheres System von Combinationen herzustellen, als mit
den wenigen Buchstaben, wozu dann weiter noch die Möglichkeit
schnellsten Wechsels in den Bildern des Gesichtes kommt. So dürfen
wir uns nicht wundern, wenn die Sprache unserer Sinne uns so
ausserordentlich viel feiner abgestufte und reicher individualisirte
Nachrichten zuführt, als die der Worte."13
Ich habe bereits erläutert, daß wir den Reichtum der
Sinneseindrücke normalerweise nicht bewußt verarbeiten.
Die Malerei Monets aber beruht auf dem Umsetzen eines erweiterten
Empfindungsvermögens. Für Rezipienten dieser Malerei
ist entscheidend, daß sie die Erfahrung eines sehr komplexen
Sinneseindrucks ermöglicht. Wollte man dieses Erlebnis in
seiner Komplexität, mit der Variationsbreite der Pinselstriche
und der unendlichen Anzahl an Farbnuancierungen - denn der Seheindruck
ändert sich im Gehen ständig - in Worten beschreiben,
so käme man an kein Ende. Es machte auch nicht viel Sinn,
denn die Aufzählung von Nuancen erklärt nichts. Nähern
kann sich der aufmerksame Betrachter den Nymphéas
nur, indem er sich dem Erlebnis überläßt. Erlebbar
ist eine entgrenztere, wirklichere - im Sinne von 'es wirkt mehr'
- Wirklichkeit als die in sprachlichen Symbolsystemen faßbare.