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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Ereignis, Ekstase und existentielles Wissen

 

Was jetzt geschieht, ist "nicht einfach passives Registrieren der 'impression', nicht nur optischer Empfang, sondern Re-Aktion, nämlich Rührung des Farbensinns, des Bewegungssinns, des Raumsinns, je aus ihren eigenen Tiefen."1 Wo immer in den beiden Räumen der Betrachter sich befindet, die Nymphéas umgeben ihn. Die zwei Meter hohen Tafeln überragen ihn, und von den Tafeln an der Längswand kann er unmöglich so weit sich entfernen, daß sie ohne Wendung von Kopf und Körper erfaßt werden können. Das Format löst so spezifische körperliche Reaktionen des Publikums aus: Die Betrachter sind unterwegs. Je nachdem, wohin sie sich wenden, erfahren sie die Malerei als Illusion oder als Fläche der Malwirklichkeit, und "dem wandernden Blick verschiebt sich das eine unaufhaltsam in das andere."2

Die Rezeption der Nymphéas kann umschrieben werden als ein flüchtiges und bewegliches Ereignis, über das sich kaum mehr sagen läßt, als daß ein Schwebendes vorüberzieht, eine flimmernde Wasserfläche plötzlich erscheint, die waagrecht aus der Leinwand heraustritt, aber für kaum einen Augenblick. Auch die Materialität der Farben zeigt sich dem vorüberziehenden Blick nicht als etwas Festes. In der Beweglichkeit des Ereignisses wird die Farbmaterie zu einer vorüberziehenden Manifestation einer ständigen Wechseln unterworfenen Natur. Wie in der Natur scheint sich die spiegelnde Fläche zu bewegen - Indiz für Monets Auseinandersetzung mit der Prozeßhaftigkeit des Sehvorgangs (eine Momentfotografie hätte das bewegliche Wasser stillgelegt). In gleicher Weise erscheinen die Wolken und die Seerosen, die Reflexe und die Dinge. Es gibt hier keine Hierarchien, und all das Vorüberziehende wirkt nur im gegenwärtigen Augenblick. In solcher Verwirklichung des Augenblicks scheint eine leise Analogie auf zu orientalischem Wirklichkeitsverständnis und dessen Hang zur meditativen Kontemplation. Masson schrieb angesichts der Seerosendekoration, es gehe darum, "die göttliche sensation wiederzufinden. Göttlich? Das heißt bis ins Äußerste menschlich. Wenn wir den Kontakt mit dem nichtaustauschbaren Augenblick wiederaufnehmen, werden wir aus unseren verschiedenen intellektuellen Sackgassen herauskommen, und zur Ausarbeitung einer neuen Tiefe geführt; und das durch das Mittel einer wiedererfundenen Transparenz. Denn man kann nicht von neuem 'Impressionismus' machen, sondern noch einmal von ihm (Monet) den kostbarsten Rat anhören: Vorwärtsgehen!"3

Monet, der sich ja gegen die Vorstellung, er sei ein 'Visionär' verwahrt hatte, hatte eine schlichtere Vorstellung von der Wirkung eines mit Seerosen dekorierten Raumes, doch gehen seine bereits 1909 formulierten Gedanken in eine ähnliche Richtung: "Die von der Arbeit überstrapazierten Nerven hätten sich dort entspannt nach dem erholsamen Beispiel stehender Gewässer, und dem, der es bewohnt hätte, hätte dieses Zimmer eine Stätte friedvoller Meditation inmitten eines blühenden Aquariums geboten."4 Usener beschreibt in ähnlicher Weise die buchstäblich umfassende Wirkung der Nymphéas. Er meint, man habe in der Orangerie nicht den Eindruck über eine Wasserfläche hinzublicken. "Eher meint man in einer Art Unterwasseraquarium zu stehen und durch Glasscheiben ins Wasser hineinzuschauen."5 Nichts von objektivierender Distanz, wie es eine vergleichende Kunstbetrachtung erfordert, die Kunstwerke unabhängig von Betrachtern auf verborgenen Sinn oder zugrunde gelegte Konzepte hin analysiert. In solchem Denken wird subjektives Empfinden durch wissenschaftlich begründetes Objektivieren relativiert; das Erlebnis von Gegenwärtigkeit kommt aufgrund einer kausal-linearen Zeitvorstellung, die nur die Einordnung von Phänomenen in historische Bezüge gelten läßt, nicht vor. Faßbarer wird, was in der Rezeption geschieht, im orientalischen Denken. Hier liegt Gegenwärtigkeit in der Verdichtung der Zeit zum ewigen Augenblick. Das ermöglicht erst Ekstase, die die Grenzen des bloß Funktionellen sprengt. Ekstaseartige Zustände können viele verschiedenen Ursachen haben, die kulminative Verdichtung von visuellen Empfindungen ist eine davon. Emil Maurer schrieb über die Wirkung der Nymphéas: "Erregt wird z.B. Entzückung oder Ekstase, oder es entsteht ein feiner, ganz inwendiger, heller Jubel, oder es schleichen sich unbenennbare Melancholien ein."6 Was sich im Ereignis vollzieht, wird zu einer einmaligen Erfahrung. "Jedes Erlebnis eines Augenblicks ist etwas anderes, als gesagt oder bedeutet werden kann: Das Ereignis schließt damit die Kunst zurück an die Momente der Entrückung ... Doch birgt der Gewinn ebenso einen Verlust. Denn als absolute Singularität verweigern sich die Ereignisse per definitionem jeglicher Reproduzierbarkeit."7 Insofern ist das sich Ereignende geschichtslos, es läßt sich nicht tradieren. Das, was sich im Einzelnen - ausgelöst durch das Erlebnis - zur Erfahrung verdichtet, ist vom intellektuellen Wissen verschiedenes existentielles Wissen. "Ersteres ist lern- und lehrbar, letzteres unübertragbar; denn es ist Folge eines Erlebnisses, Resultat einer inneren Erfahrung, und damit bleibt es jedem, der nicht dasselbe erfuhr und erlebte, verschlossen. Die einzige Möglichkeit, existentielles Wissen zu vermitteln, ist die Einweihung, die Initiation."8 Als solche Initiation kann man die Erfahrung vor Monets Nymphéas begreifen. Sie kann der Möglichkeit nach veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit auslösen.

Mitteilbar sind solche sinnlichen Eindrücke nur symbolisch: "Wir können Berichte über Erfahrungen austauschen und sammeln, niemals aber die Erfahrungen selbst."9 Das Lernpotential symbolischer Mitteilungen kann so gefaßt werden, daß vollzogene Erfahrungen, die unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegen, der Reflexion zugänglich werden und auf diese Weise in das Diskursuniversum menschlicher Äußerungen aufgenommen werden können. So kann symbolischer Austausch der Möglichkeit nach neue und tiefere Erlebnisse initiieren, indem in der Reflexion zuvor Unbewußtes als bedeutsam erfahren wird.

Das lebensgeschichtlich erfahrene, existentielle Wissen kennt auch der Physiologe Helmholtz. Helmholtz nennt alle Urteile, die aufgrund von Sinnesempfindungen gefällt werden, 'unbewußte Schlüsse', denn Sinnesempfindungen beurteilen wir nicht, indem wir sie in bewußter Weise mit früheren Empfindungen vergleichen (das wäre, utilitaristisch gesprochen, dem Überleben des Organismus nicht dienlich).10 Gegenüber der gewöhnlichen psychologischen Darstellungsweise, in der ein Schluß gleichsam der Gipfelpunkt in der Tätigkeit unseres bewußten Geistesleben ist, "sind nun in der That die Schlüsse, welche in unseren Sinneswahrnehmungen eine so grosse Rolle spielen, niemals in der gewöhnlichen Form eines logisch analysirten Schlusses auszusprechen... Der Unterschied zwischen den Schlüssen der Logiker und den Inductionsschlüssen, deren Resultat in den durch die Sinnesempfindungen gewonnenen Anschauungen der Aussenwelt zu Tage kommt, scheint mir in der That nur ein äusserlicher zu sein, und hauptsächlich darin zu bestehen, dass jene ersteren des Ausdrucks in Worten fähig sind, letztere nicht, weil bei ihnen statt der Worte nur die Empfindungen und die Erinnerungsbilder der Empfindungen eintreten. Eben darin, dass die letzteren sich nicht in Worten beschreiben lassen, liegt aber auch die grosse Schwierigkeit, von diesem ganzen Gebiete von Geistesoperationen überhaupt nur zu reden."11 Helmholtz nennt jenes Wissen, das nicht unmittelbar in Worte überführt werden kann, das 'Kennen'. Wir erkennen sinnliche Eindrücke - Gerüche oder Gesten beispielsweise - mit großer Sicherheit wieder. Sinneseindrücke sind irreduzibel. Sie können nicht durch etwas anderes als den jeweiligen Auslöser hervorgerufen werden (es gibt natürlich Ähnlichkeiten, es kann uns der Gang eines völlig Fremden an den eines engen Freundes erinnern). Das 'Kennen' hält Helmholtz für ebenso zuverlässig wie logisches Wissen. Wir können Sinneseindrücke der subtilsten Art unterscheiden und wiedererkennen - nicht aber anders als in Analogien darüber reden, und uns darauf verlassen, daß unser Gegenüber aufgrund seiner Ähnlichkeit mit uns ähnlich empfindet. Solche Ähnlichkeiten sind es, weshalb die subtile Ausformung von Monets Nymphéas überhaupt als Vermittlungsstrategie aufgefaßt werden kann, und weshalb sie im Sinne der Rezeptionsästhetik als Betrachterfunktion wirksam ist.

In solcher Auffassung rezeptionsästhetischer Prämissen liegt eine Monets Kunst angemessene Erkenntnismöglichkeit geborgen. Helmholtz hat das so gefaßt: "Wir werden ... zu einem Gebiet von psychischen Thätigkeiten geführt, von denen bisher in wissenschaftlichen Untersuchungen wenig die Rede gewesen ist, weil es schwer hält, überhaupt von ihnen in Worten zu reden. Am meisten sind sie noch in ästhetischen Untersuchungen berücksichtigt worden, wo sie als 'Anschaulichkeit', 'unbewusste Vernunftmässigkeit', 'sinnliche Verständlichkeit' und in ähnlichen halbdunkeln Bezeichnungen eine grosse Rolle spielen. Es steht ihnen das sehr falsche Vorurtheil entgegen, dass sie unklar, unbestimmt, nur halbbewusst vor sich gingen, dass sie als eine Art rein mechanischer Operationen dem bewussten und durch die Sprache ausdrückbaren Denken untergeordnet seien. Ich glaube nicht, dass in der Art der Thätigkeit selbst ein Unterschied zwischen den ersteren und letzteren nachgewiesen werden kann. Die ungeheure Ueberlegenheit des bis zur Anwendung der Sprache gereiften Erkennens erklärt sich hinlänglich schon dadurch, dass die Sprache einerseits es möglich macht, die Erfahrungen von Millionen von Individuen und Tausenden von Generationen zu sammeln, fest aufzubewahren und durch fortgesetzte Prüfung allmälig immer sicherer und allgemeiner zu machen. Andererseits beruht auch die Möglichkeit überlegten gemeinsamen Handelns der Menschen und damit der grösste Theil ihrer Macht auf der Sprache. In beiden Beziehungen kann das Kennen nicht mit dem Wissen rivalisiren; doch folgt daraus nicht nothwendig eine geringere Klarheit oder eine andere Natur des ersteren."12 Die Allgemeingültigkeit sprachlichen Wissens erklärt sich aus seiner Reduziertheit gegenüber den Sinneseindrücken. "Die elementaren Zeichen der Sprache sind nur die 24 Buchstaben, und wie ausserordentlich mannigfaltigen Sinn können wir durch deren Combinationen ausdrücken und einander mittheilen! Nun bedenke man im Vergleich damit den ungeheuren Reichthum der elementaren Zeichen, die der Sehnervenapparat geben kann. Man kann die Zahl der Sehnervenfasern auf 250,000 schätzen. Jede derselben ist unzählig vieler verschiedener Grade der Empfindung von einer oder drei verschiedenen Grundfarben fähig. Dadurch ist natürlich ein unendlich viel reicheres System von Combinationen herzustellen, als mit den wenigen Buchstaben, wozu dann weiter noch die Möglichkeit schnellsten Wechsels in den Bildern des Gesichtes kommt. So dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Sprache unserer Sinne uns so ausserordentlich viel feiner abgestufte und reicher individualisirte Nachrichten zuführt, als die der Worte."13

Ich habe bereits erläutert, daß wir den Reichtum der Sinneseindrücke normalerweise nicht bewußt verarbeiten. Die Malerei Monets aber beruht auf dem Umsetzen eines erweiterten Empfindungsvermögens. Für Rezipienten dieser Malerei ist entscheidend, daß sie die Erfahrung eines sehr komplexen Sinneseindrucks ermöglicht. Wollte man dieses Erlebnis in seiner Komplexität, mit der Variationsbreite der Pinselstriche und der unendlichen Anzahl an Farbnuancierungen - denn der Seheindruck ändert sich im Gehen ständig - in Worten beschreiben, so käme man an kein Ende. Es machte auch nicht viel Sinn, denn die Aufzählung von Nuancen erklärt nichts. Nähern kann sich der aufmerksame Betrachter den Nymphéas nur, indem er sich dem Erlebnis überläßt. Erlebbar ist eine entgrenztere, wirklichere - im Sinne von 'es wirkt mehr' - Wirklichkeit als die in sprachlichen Symbolsystemen faßbare.


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1 Maurer, 1982, S. 192.

2 Stoll, 1986, S. 130.

3 Masson, Le rebelle, 1976, S. 132. Zit. nach: Rahn, 1978, S. 128.

4 Monet nach Roger Marx: Claude Monets Seerosen. Zuerst in: Gazette des Beaux-Arts, Juni 1909. In: Stuckey, 1994, S. 266.

5 Usener, 1952, S. 217.
Eine ähnliche Aquarienassoziation hatte auch ich beim ersten Besuch der Orangerie.

6 Maurer, 1982, S. 192.

7 Mersch, 1997, S. 33f.
Vgl. Kap. III.46, Ereignis und Aura.

8 Gelpke, 1966, S. 121.

9 Huxley, 1954, S. 11.

10 Dieses unbewußte Urteil liegt immer vor allen bewußten Urteilen. Wir unterliegen beispielsweise Sinnestäuschungen auch dann, wenn wir uns klargemacht haben, daß es sich um Sinnestäuschungen handelt und wenn wir wissen, wie sie funktionieren. Die Funktionsweise des Stereoskops beruht auf dieser Tatsache.

11 Helmholtz, 1868, S. 324.

12 Helmholtz, 1868, S. 327.
Ich weise in diesem Zusammenhang nochmals auf die von Gerhard Roth erläuterte nichthierarchische Struktur des Gehirns hin. Vgl. Kap. II. 16, Anm. 11.

13 Helmholtz, 1868, S. 330.


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