Hyperreale Bilder
Nur unter Absehung von erlernten Sehgewohnheiten können
wir so etwas wie unmittelbare Wahrnehmung erfahren. "Der
Unterschied", schreibt Shattuck, "bewegt sich hier
zwischen le regard, einem aktiven Blick der die Welt interpretiert
mit Hilfe von Kategorien, die wir bereits im Gedächtnis
bereithalten, und l'impression, einer entspannten Gemeinschaft
mit den Dingen, die nur erreicht werden kann durch den willentlichen
Verzicht auf gewisse Modi des Denkens und Erwartungshaltungen."1 John Keats hielt solche Wahrnehmung für
"die Fähigkeit, sich 'in Ungewißheiten, Geheimnis
und Zweifel zu begeben, ohne jeden gereizten Griff nach Fakten
und Gründen.'"2 In 'Die Wahrnehmung
der Veränderung' schreibt Bergson, es sei von jeher die
Aufgabe der Künstler gewesen, "das zu sehen und uns
sehen zu lassen, was wir natürlicherweise nicht wahrnehmen."3 Künstler, meint Bergson, vermöchten
in der Natur Aspekte zu entdecken, die zwar unseren Wahrnehmungsapparat
ebenso affizierten, die wir jedoch nicht bewußt bemerkten
(insofern erfinden sie nichts). Maler hätten diese flüchtigen
Erscheinungen isoliert, so daß wir forthin nicht umhin
könnten, sie in der Wirklichkeit zu bemerken. Bergson meint,
Künstler würden weniger als gewöhnliche Menschen
von den positiven und materiellen Seiten des Lebens absorbiert
- er schreibt ihnen eine erweiterte Wahrnehmungsfähigkeit
zu: "Weil der Künstler weniger daran denkt, seine Wahrnehmung
zu benutzen, nimmt er eine größere Zahl der Dinge
wahr."4
Manche Menschen seien also mit einer Art von Umgehungseinrichtung
geboren worden, welche den Reduktionsfilter ausschaltet. "Andere",
meint Huxley im Anschluß an Bergson, "vermögen
zeitweilig Umgehungsvorrichtungen entweder spontan oder als Ergebnis
bewußt durchgeführter 'geistiger Übungen', mittels
Hypnose oder eines Rauschmittels zu erwerben."5
Durch diese 'Umgehungsleitungen' kann zwar nicht die Wahrnehmung
all dessen, was im Universum geschieht, fließen, "aber
doch die Wahrnehmung von etwas mehr und vor allem von etwas,
das verschieden ist von dem Material, das sorgfältig nach
seiner Nützlichkeit ausgewählt wurde und das unser
verengter, vereinzelter Geist für ein vollständiges
oder zumindest ausreichendes Abbild der Wirklichkeit hält."6
Daß das, was wir wahrnehmen, nichts mit dem Erkennen 'objektiver'
Sachverhalte zu tun hat, ging aus der Erörterung des subjektiven
Sehens hervor. Gerhard Roth beschreibt die Unvollständigkeit
und Aspekthaftigkeit der Wahrnehmung. Alle Aspekte zu erfassen
ist nicht nur unmöglich - die Sinnesorgane liefern dem Gehirn
etwa eine Million mal mehr Informationen, als es bewußt
verarbeiten kann - sondern "auch völlig unnütz,
... nur diejenigen müssen erfaßt werden, die für
den wahrnehmenden Organismus überlebensrelevant sind."7 Wahrnehmung ist in erster Linie auf das Orientieren
an Umweltmerkmalen zum Zweck des Lebens und Überlebens gerichtet,
wobei beim Menschen und vielen Tieren das soziale Leben und Überleben
eingeschlossen ist. Relevant ist, daß die Geschehnisse
in der Umwelt angemessen erfaßt werden; ob sie 'richtig'
erkannt werden, ist zweitrangig. "Dies schließt nicht
aus", meint Roth, "daß Wahrnehmung in den Dienst
anderer Zwecke (zum Beispiel des 'reinen' Wissenserwerbs) treten
kann, sofern und nachdem die primäre Funktion
erfüllt ist."8
Wie zweckgerichtete Wahrnehmung funktioniert, zeigt die Zensurhypothese,
ein Denkmodell aus der Neurobiologie. Das Modell beruht auf der
Annahme, daß alle Sinneseindrücke im limbischen System
gefiltert und in ihrer Bedeutung für das Überleben
bewertet und gewichtet werden. "Dazu dient eine Vergleichsinstanz,
in der unsere früheren Sinneserfahrungen abgespeichert sind.
Sie wird Hippocampus genannt und erzeugt für jeden erlebten
Augenblick eine erwartete Wirklichkeit, sozusagen ein mitlaufendes
Weltmodell in unserem Inneren. Damit werden in jeder Situation
die einlaufenden Daten der Sinnesorgane abgeglichen. Bei einer
zu starken Abweichung von erwarteter und aktueller Wirklichkeit
sendet die Gedächtnisinstanz ein angstauslösendes Signal
an das limbische System",9 wo dann die
notwendigen körperlichen Reaktionen in die Wege geleitet
werden. Schon auf dieser vorbewußten Schicht findet eine
biologische Zensur statt, die uns die Erfahrung neuer Wahrnehmungsinhalte
erschwert.
Die biologische Zensur kann nun, da sie chemisch funktioniert,
mit chemischen Mitteln beeinflußt werden. Beruhigungsmittel
setzen beispielsweise die Schwelle für kritische Abweichungen
im Vergleichssystem Hippocampus herauf, wodurch erst bei stärkeren
Sinnesreizen Angstsignale ausgelöst werden. Genau das Gegenteil
geschieht bei der Einnahme von Cannabis. Der Haschischwirkstoff
"schwächt die Zensur gegenüber Sinnesreizen. Man
konnte in psychologischen Tests nachweisen, daß die Fähigkeit
des visuellen Systems, überflüssige räumliche
Bildteile wegzuretuschieren, durch Cannabis gestört wird.
Deshalb glauben die Wissenschaftler, daß die Zensur des
Hippocampus durch Cannabis inaktiviert wird. Und die Halluzinationen,
die sich dabei einstellen, sind superreale, unretuschierte Bilder.
Sie laufen bei jedem von uns ständig nebenher, ohne daß
wir etwas davon bemerken würden."10
Solchen Erkenntnissen zufolge erzeugen chemische Stoffe, wie
der Haschisch sie enthält, keinesfalls Trugbilder. Im Gegenteil
heben sie Wahrnehmungsschichten ins Bewußtsein, die normalerweise
ausgeblendet sind: "Die Halluzinationen sind also in Wirklichkeit
hyperreale Bilder aus unserer unzensierten inneren Wahrnehmung."11
Das Erlebnis 'hyperrealer' Bilder kann neben chemischen auch
andere - oder gar keine erkennbaren - Ursachen haben. Es scheint
so zu sein, daß das Gehirn chemische Zustände, wie
sie durch die Einnahme bewußtseinssteigernder Drogen -
sogenannter Psychotomimetika - aus sich selbst erzeugen kann.12 Solche Zustände können bewußt
herbeigeführt werden (durch Atemübungen 13
oder Meditation) oder einfach geschehen, so wie Albert Hofmann
sein Kindheitserlebnis beschrieben hat. Hofmann, den Entdecker
des LSD, hat das Erlebnis einer anderen Wirklichkeit dazu bewegt,
visionäre Erfahrungen nicht als Gegensatz zu naturwissenschaftlichen
Erkenntnissen zu betrachten, sondern als notwendige Ergänzung
derselben. "Hofmann geht sogar einen Schritt weiter: er
vertritt die Auffassung, daß nur die Zusammenführung
naturwissenschaftlicher und mystisch-religiöser Erkenntnisse,
einen tieferen Einblick in das Wesen der Schöpfung erlaubt."14