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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Hyperreale Bilder

 

Nur unter Absehung von erlernten Sehgewohnheiten können wir so etwas wie unmittelbare Wahrnehmung erfahren. "Der Unterschied", schreibt Shattuck, "bewegt sich hier zwischen le regard, einem aktiven Blick der die Welt interpretiert mit Hilfe von Kategorien, die wir bereits im Gedächtnis bereithalten, und l'impression, einer entspannten Gemeinschaft mit den Dingen, die nur erreicht werden kann durch den willentlichen Verzicht auf gewisse Modi des Denkens und Erwartungshaltungen."1 John Keats hielt solche Wahrnehmung für "die Fähigkeit, sich 'in Ungewißheiten, Geheimnis und Zweifel zu begeben, ohne jeden gereizten Griff nach Fakten und Gründen.'"2 In 'Die Wahrnehmung der Veränderung' schreibt Bergson, es sei von jeher die Aufgabe der Künstler gewesen, "das zu sehen und uns sehen zu lassen, was wir natürlicherweise nicht wahrnehmen."3 Künstler, meint Bergson, vermöchten in der Natur Aspekte zu entdecken, die zwar unseren Wahrnehmungsapparat ebenso affizierten, die wir jedoch nicht bewußt bemerkten (insofern erfinden sie nichts). Maler hätten diese flüchtigen Erscheinungen isoliert, so daß wir forthin nicht umhin könnten, sie in der Wirklichkeit zu bemerken. Bergson meint, Künstler würden weniger als gewöhnliche Menschen von den positiven und materiellen Seiten des Lebens absorbiert - er schreibt ihnen eine erweiterte Wahrnehmungsfähigkeit zu: "Weil der Künstler weniger daran denkt, seine Wahrnehmung zu benutzen, nimmt er eine größere Zahl der Dinge wahr."4
Manche Menschen seien also mit einer Art von Umgehungseinrichtung geboren worden, welche den Reduktionsfilter ausschaltet. "Andere", meint Huxley im Anschluß an Bergson, "vermögen zeitweilig Umgehungsvorrichtungen entweder spontan oder als Ergebnis bewußt durchgeführter 'geistiger Übungen', mittels Hypnose oder eines Rauschmittels zu erwerben."5 Durch diese 'Umgehungsleitungen' kann zwar nicht die Wahrnehmung all dessen, was im Universum geschieht, fließen, "aber doch die Wahrnehmung von etwas mehr und vor allem von etwas, das verschieden ist von dem Material, das sorgfältig nach seiner Nützlichkeit ausgewählt wurde und das unser verengter, vereinzelter Geist für ein vollständiges oder zumindest ausreichendes Abbild der Wirklichkeit hält."6

Daß das, was wir wahrnehmen, nichts mit dem Erkennen 'objektiver' Sachverhalte zu tun hat, ging aus der Erörterung des subjektiven Sehens hervor. Gerhard Roth beschreibt die Unvollständigkeit und Aspekthaftigkeit der Wahrnehmung. Alle Aspekte zu erfassen ist nicht nur unmöglich - die Sinnesorgane liefern dem Gehirn etwa eine Million mal mehr Informationen, als es bewußt verarbeiten kann - sondern "auch völlig unnütz, ... nur diejenigen müssen erfaßt werden, die für den wahrnehmenden Organismus überlebensrelevant sind."7 Wahrnehmung ist in erster Linie auf das Orientieren an Umweltmerkmalen zum Zweck des Lebens und Überlebens gerichtet, wobei beim Menschen und vielen Tieren das soziale Leben und Überleben eingeschlossen ist. Relevant ist, daß die Geschehnisse in der Umwelt angemessen erfaßt werden; ob sie 'richtig' erkannt werden, ist zweitrangig. "Dies schließt nicht aus", meint Roth, "daß Wahrnehmung in den Dienst anderer Zwecke (zum Beispiel des 'reinen' Wissenserwerbs) treten kann, sofern und nachdem die primäre Funktion erfüllt ist."8

Wie zweckgerichtete Wahrnehmung funktioniert, zeigt die Zensurhypothese, ein Denkmodell aus der Neurobiologie. Das Modell beruht auf der Annahme, daß alle Sinneseindrücke im limbischen System gefiltert und in ihrer Bedeutung für das Überleben bewertet und gewichtet werden. "Dazu dient eine Vergleichsinstanz, in der unsere früheren Sinneserfahrungen abgespeichert sind. Sie wird Hippocampus genannt und erzeugt für jeden erlebten Augenblick eine erwartete Wirklichkeit, sozusagen ein mitlaufendes Weltmodell in unserem Inneren. Damit werden in jeder Situation die einlaufenden Daten der Sinnesorgane abgeglichen. Bei einer zu starken Abweichung von erwarteter und aktueller Wirklichkeit sendet die Gedächtnisinstanz ein angstauslösendes Signal an das limbische System",9 wo dann die notwendigen körperlichen Reaktionen in die Wege geleitet werden. Schon auf dieser vorbewußten Schicht findet eine biologische Zensur statt, die uns die Erfahrung neuer Wahrnehmungsinhalte erschwert.

Die biologische Zensur kann nun, da sie chemisch funktioniert, mit chemischen Mitteln beeinflußt werden. Beruhigungsmittel setzen beispielsweise die Schwelle für kritische Abweichungen im Vergleichssystem Hippocampus herauf, wodurch erst bei stärkeren Sinnesreizen Angstsignale ausgelöst werden. Genau das Gegenteil geschieht bei der Einnahme von Cannabis. Der Haschischwirkstoff "schwächt die Zensur gegenüber Sinnesreizen. Man konnte in psychologischen Tests nachweisen, daß die Fähigkeit des visuellen Systems, überflüssige räumliche Bildteile wegzuretuschieren, durch Cannabis gestört wird. Deshalb glauben die Wissenschaftler, daß die Zensur des Hippocampus durch Cannabis inaktiviert wird. Und die Halluzinationen, die sich dabei einstellen, sind superreale, unretuschierte Bilder. Sie laufen bei jedem von uns ständig nebenher, ohne daß wir etwas davon bemerken würden."10 Solchen Erkenntnissen zufolge erzeugen chemische Stoffe, wie der Haschisch sie enthält, keinesfalls Trugbilder. Im Gegenteil heben sie Wahrnehmungsschichten ins Bewußtsein, die normalerweise ausgeblendet sind: "Die Halluzinationen sind also in Wirklichkeit hyperreale Bilder aus unserer unzensierten inneren Wahrnehmung."11

Das Erlebnis 'hyperrealer' Bilder kann neben chemischen auch andere - oder gar keine erkennbaren - Ursachen haben. Es scheint so zu sein, daß das Gehirn chemische Zustände, wie sie durch die Einnahme bewußtseinssteigernder Drogen - sogenannter Psychotomimetika - aus sich selbst erzeugen kann.12 Solche Zustände können bewußt herbeigeführt werden (durch Atemübungen 13 oder Meditation) oder einfach geschehen, so wie Albert Hofmann sein Kindheitserlebnis beschrieben hat. Hofmann, den Entdecker des LSD, hat das Erlebnis einer anderen Wirklichkeit dazu bewegt, visionäre Erfahrungen nicht als Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu betrachten, sondern als notwendige Ergänzung derselben. "Hofmann geht sogar einen Schritt weiter: er vertritt die Auffassung, daß nur die Zusammenführung naturwissenschaftlicher und mystisch-religiöser Erkenntnisse, einen tieferen Einblick in das Wesen der Schöpfung erlaubt."14


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1 "The opposite here seems to operate between le regard, an active looking that interprets the world according to categories we already have in mind, and l'impression, a relaxed communion with things, achieved only through a willed abdication of certain modes of thought and expectation." (Shattuck, 1982, S. 39.)

2 "In a letter John Keats called that state of mind the ability to be 'in uncertainties, mysteries, doubts, without any irritable reaching after facts and reason.'" (John Keats, zit. nach: Shattuck, 1982, S. 39.)

3 Bergson, 1946, S. 154.

4 Bergson, 1946, S. 158.

5 Huxley, 1954, S. 20.

6 Huxley, 1954, S. 20f.

7 Roth, 1994, S. 67.

8 Roth, 1994, S. 74.

9 Hansen, 1996.

10 Hansen, 1996.

11 Hansen, 1996.
Gefilterte Bilder stehen nicht hierarchisch über ungefilterten. Komplexe Wahrnehmung hat immer mit der gleichzeitigen Aktivität vieler räumlich getrennter Hirnzentren zu tun, "es gibt kein oberstes kognitives Zentrum." (Roth, 1994, S. 19.) Überhaupt ist das Gehirn nicht hierarchisch aufgebaut. Stammesgeschichtlich verändert haben sich die Anteile des Gehirns, nicht seine grundlegende Zusammensetzung. Deshalb ist es nach Roth unsinnig, von stammesgeschichtlich früher oder später entwickelten Teilen zu sprechen. Das limbische System z.B. ist nicht früher entstanden als der Neocortex, sondern zusammen mit ihm. "All diese Bezeichnungen gehen auf die irrige Meinung zurück, das menschliche Gehirn sei der Endpunkt der Hirnentwicklung überhaupt, und innerhalb des menschlichen Gehirns sei wiederum der Neocortex der Gipfel der Evolution." (Roth, 1994, S. 53.)

12 Huxley führt - vom Forschungsstand der 50er Jahre ausgehend - an, daß um 1950 die Ähnlichkeit in der Zusammensetzung von Meskalin und Adrenalin entdeckt wurde. Adenochrom, ein Zerfallsprodukt des Adrenalins, kann viele der beim Meskalinrausch beobachteten Symptome hervorrufen. Adenochrom bildet sich im menschlichen Körper wohl von selbst. Huxley folgert daraus, daß vielleicht jeder von uns fähig ist, in sich eine chemische Substanz zu erzeugen, von der winzige Mengen tiefgreifende Veränderungen des Bewußtseins bewirken. (Huxley, 1954, S. 10f.) Heute weiß man genauer, wie Drogenwirkstoffe mit menschlichen Gehirnbotenstoffen verwandt sind. Das Halluzinogen LSD ist chemisch den mexikanischen Zauberdrogen (Meskalin und Psilocybin) nah verwandt. LSD basiert auf einem pflanzlichen Wirkstoff, weist aber auch eine enge Verwandtschaft zu menschlichen Gehirnhormonen auf. Ketamin, das gerne als Partydroge benutzt wird, ist ein natürlicher Botenstoff des Gehirns. Es produziert die Halluzination, aus dem eigenen Körper herauszufahren und ihn von oben zu betrachten. Ganz Ähnliches wird immer wieder über Nahtod-Erlebnisse berichtet. Einige Forscher meinen, daß das menschliche Gehirn bewußtseinsverändernde Drogen (Endorphine - opiatähnliche Botenstoffe) ausschüttet, wenn es sich in der Agonie befindet. Der oft erwähnte 'Lichttunnel' konnte durch elektromagnetische Reizung bestimmter Gehirnregionen hervorgerufen werden. "Die britische Psychologin Susan Blackmore glaubt nach ihren Studien, daß die betreffenden Erfahrungen auf Sauerstoffmangel im Nervengewebe zurückzuführen sind. Bei einem Mangel an Sauerstoff kommt es in der Anlaufstelle für optische Reize im Kortex zu unmotivierten Entladungen von Nervenzellen, die in der Mitte stärker und am Rande schwächer werden. Dem Gehirn könne dies vorgaukeln, daß es in einem dunkeln Tunnel ein helles Licht erblickt. Der 'Lichtfleck' breitet sich im Verlauf der Zeit weiter aus, was den Eindruck erweckt, daß man sich auf das Licht zubewegt." (Degen, 1997a)

13 Durch die Atemübungen des Joga kommt es zur Anreicherung des Bluts mit Kohlensäure. Die erhöhte Konzentration von Kohlensäure oder Kohlendioxyd, setzt die Leistungsfähigkeit der zerebralen Reduktionsschleuse herab, wodurch visionäre Erlebnisse begünstigt werden. (Vgl. Huxley, 1954, S. 107.)

14 Gelpke, 1992, S. 5.


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