Naturerlebnis und Alltagsempfindung
Der impressionistische Blick, vom gegenständlichen und
zweckgebundenen Sehen weitgehend frei, läßt sich als
Anwesenheit einer Seinshaltung darlegen, die sich zuerst in einem
anderen Verhältnis zur Gegenstandswelt äußert.
Solche Betrachtungsweise ist in der abendländischen Tradition
eher auf Seiten der Kunst und der Naturwissenschaft zu finden,
als auf geisteswissenschaftlicher Seite.
Der Chemiker Albert Hofmann beschrieb in seinen Kindheitserinnerungen
'Einsichten - Ausblicke' ein Naturerlebnis, bei dem sich ihm
das Geschaute in einem besonderen Licht gezeigt habe: "Es
war an einem Maimorgen... Während ich durch den frischergrünten,
von der Morgensonne durchstrahlten, von Vogelsang erfüllten
Wald dahinschlenderte, erschien auf einmal alles in einem ungewöhnlich
klaren Licht. Hatte ich vorher nie richtig geschaut, und sah
ich jetzt plötzlich den Frühlingswald wie er wirklich
war? Er strahlte in einem Glanz einer eigenartig zu Herzen gehenden,
sprechenden Schönheit, als ob er mich einbeziehen wollte
in seine Herrlichkeit. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl
durchströmte mich. Wie lange ich gebannt stehen blieb, weiss
ich nicht, aber ich erinnere mich der Gedanken, die mich beschäftigten,
als der verklärte Zustand langsam dahinschwand und ich weiterwanderte.
Warum dauerte die beseligende Schau nicht weiter an, da sie doch
eine durch unmittelbares tiefes Erleben überzeugende Wirklichkeit
offenbart hatte? Und wie konnte ich, wozu mich meine überquellende
Freude drängte, jemandem von meinem Erlebnis berichten,
da ich sogleich spürte, dass ich keine Worte für das
Geschaute fand? Es erschien mir seltsam, dass ich als Kind etwas
so Wunderbares gesehen hatte, das die Erwachsenen offensichtlich
nicht bemerkten, denn ich hatte sie nie davon reden hören".1
Baudelaire beschrieb ähnliche Erlebnisse als seltene und
flüchtige Momente, in denen sich die äußere Welt
in einem "mächtigen Relief" darbiete, in einem
Reichtum der Konturen und Farben. "Doch das Seltsamste an
diesem Ausnahmezustand des Geistes und der Sinne, den ich ohne
Übertreibung paradiesisch nennen darf, wenn ich ihn mit
dem trüben Dunkel der gemeinen Alltagsexistenz vergleiche,
das Seltsamste an ihm ist, daß er durch keinerlei sichtbare
und leicht bestimmbare Ursachen hervorgebracht wird."2
Ein Monets Bildern sehr nahe kommendes visionäres Erlebens
der Wirklichkeit beschreibt Aldous Huxley in 'Himmel und Hölle'.
Die erlernte und vertraute Wahrnehmungsweise, die ja zum größten
Teil auf 'Überblick' angelegt ist, verdichtet sich hier
zu einem mikroskopisch erweiterten Blick: "Ich saß
am Meeresufer und hörte nur halb einem Freund zu, der mir
heftig etwas zu beweisen suchte, was mich bloß langweilte.
Ohne mir dessen bewußt zu sein, blickte ich auf eine dünne
Schicht müßig aufgegriffenen Sands auf meiner Hand,
als ich plötzlich die erlesene Schönheit jedes einzelnen
Körnchens sah; ich sah, daß jedes Teilchen sich vom
anderen unterschied und nach einem vollkommenen geometrischen
Muster gebildet war, mit scharfen Ecken, von denen jede einen
leuchtenden Lichtstrahl zurückwarf, während jedes einzelne
winzige Kristall wie ein Regenbogen leuchtete ... (sic) Die Strahlen
kreuzten einander und bildeten erlesene Muster von solcher Schönheit,
daß sie mir den Atem raubte ... (sic) Dann wurde plötzlich
mein Bewußtsein von innen her erleuchtet, und ich sah auf
eine lebhafte Weise, wie das ganze Weltall aus Teilchen von Materie
bestand, welche, wie matt und leblos sie auch zu sein schienen,
von dieser intensiven und vitalen Schönheit erfüllt
waren. Ein paar Sekunden lang erschien die ganze Welt als ein
einziges Flammen von Herrlichkeit. Als das erlosch, hinterließ
es etwas in mir, das ich nie vergessen habe, das mich beständig
an die Schönheit gemahnt, die in jedem kleinsten Stäubchen
von Materie um uns her eingeschlossen ist."3
Während im Überblick die Dinge verortet und eingeordnet
werden, ist das mikroskopische Funkeln von keinem utilitaristischen
Interesse. Der beiläufige Blick bringt die Dinge zur Anwesenheit.
Er ermöglicht das Eindringen in die Phänomene. Baudelaire
beschrieb solche Ausnahmezustände als eine Art "von
vertrautem, aber zeitweilig unterbrochenen Umgang, aus dem wir,
sofern wir weise wären, die Gewißheit eines besseren
Daseins folgern sollten und die Hoffnung, durch tägliche
Übung unseres Willens dorthin zu gelangen."4
Solche Empfindungsphänomene sind offenbar von der Alltagswahrnehmung
verschieden. Aldous Huxley verweist in diesem Zusammenhang auf
den französischen Philosophen Henri Bergson, nach dessen
Auffassung die Sinnesorgane hauptsächlich eliminierend arbeiten.
Grundsätzlich sei "jeder Mensch ... in jedem Augenblick
fähig, sich an alles zu erinnern, was ihm je widerfahren
ist, und alles wahrzunehmen, was irgendwo im Universum geschieht."5 Gehirn und Nervensystem schützen uns vor
dieser Informationsflut, indem sie den größten Teil
der Informationen ausschließen und nur eine kleine Auswahl
übriglassen, die wahrscheinlich von praktischem Nutzen ist.
"Um ein biologisches Überleben zu ermöglichen,
muß das größtmögliche Bewußtsein
durch den Reduktionsfilter des Gehirns und des Nervensystems
hindurchfließen."6 Die Inhalte dieses
reduzierten Bewußtseins faßt der Mensch begrifflich
in Symbolsystemen, die den Zugang zu in solchen Systemen gespeicherten
Erfahrungen anderer Menschen ermöglichen. Er ist Opfer der
Symbolsysteme, indem sie ihn im Glauben bestärken, das reduzierte
Bewußtsein sei das einzig mögliche und indem sie "seinen
Wirklichkeitssinn verwirr[en], so daß er nur allzu bereit
ist, seine Begriffssysteme für gegebene Tatbestände,
seine Bezeichnungen für die Dinge selbst zu halten. Was
in der Sprache der Religion 'von dieser Welt' genannt wird, ist
das Universum des reduzierten Bewußtseins."7