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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Naturerlebnis und Alltagsempfindung

 

Der impressionistische Blick, vom gegenständlichen und zweckgebundenen Sehen weitgehend frei, läßt sich als Anwesenheit einer Seinshaltung darlegen, die sich zuerst in einem anderen Verhältnis zur Gegenstandswelt äußert. Solche Betrachtungsweise ist in der abendländischen Tradition eher auf Seiten der Kunst und der Naturwissenschaft zu finden, als auf geisteswissenschaftlicher Seite.

Der Chemiker Albert Hofmann beschrieb in seinen Kindheitserinnerungen 'Einsichten - Ausblicke' ein Naturerlebnis, bei dem sich ihm das Geschaute in einem besonderen Licht gezeigt habe: "Es war an einem Maimorgen... Während ich durch den frischergrünten, von der Morgensonne durchstrahlten, von Vogelsang erfüllten Wald dahinschlenderte, erschien auf einmal alles in einem ungewöhnlich klaren Licht. Hatte ich vorher nie richtig geschaut, und sah ich jetzt plötzlich den Frühlingswald wie er wirklich war? Er strahlte in einem Glanz einer eigenartig zu Herzen gehenden, sprechenden Schönheit, als ob er mich einbeziehen wollte in seine Herrlichkeit. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte mich. Wie lange ich gebannt stehen blieb, weiss ich nicht, aber ich erinnere mich der Gedanken, die mich beschäftigten, als der verklärte Zustand langsam dahinschwand und ich weiterwanderte. Warum dauerte die beseligende Schau nicht weiter an, da sie doch eine durch unmittelbares tiefes Erleben überzeugende Wirklichkeit offenbart hatte? Und wie konnte ich, wozu mich meine überquellende Freude drängte, jemandem von meinem Erlebnis berichten, da ich sogleich spürte, dass ich keine Worte für das Geschaute fand? Es erschien mir seltsam, dass ich als Kind etwas so Wunderbares gesehen hatte, das die Erwachsenen offensichtlich nicht bemerkten, denn ich hatte sie nie davon reden hören".1

Baudelaire beschrieb ähnliche Erlebnisse als seltene und flüchtige Momente, in denen sich die äußere Welt in einem "mächtigen Relief" darbiete, in einem Reichtum der Konturen und Farben. "Doch das Seltsamste an diesem Ausnahmezustand des Geistes und der Sinne, den ich ohne Übertreibung paradiesisch nennen darf, wenn ich ihn mit dem trüben Dunkel der gemeinen Alltagsexistenz vergleiche, das Seltsamste an ihm ist, daß er durch keinerlei sichtbare und leicht bestimmbare Ursachen hervorgebracht wird."2

Ein Monets Bildern sehr nahe kommendes visionäres Erlebens der Wirklichkeit beschreibt Aldous Huxley in 'Himmel und Hölle'. Die erlernte und vertraute Wahrnehmungsweise, die ja zum größten Teil auf 'Überblick' angelegt ist, verdichtet sich hier zu einem mikroskopisch erweiterten Blick: "Ich saß am Meeresufer und hörte nur halb einem Freund zu, der mir heftig etwas zu beweisen suchte, was mich bloß langweilte. Ohne mir dessen bewußt zu sein, blickte ich auf eine dünne Schicht müßig aufgegriffenen Sands auf meiner Hand, als ich plötzlich die erlesene Schönheit jedes einzelnen Körnchens sah; ich sah, daß jedes Teilchen sich vom anderen unterschied und nach einem vollkommenen geometrischen Muster gebildet war, mit scharfen Ecken, von denen jede einen leuchtenden Lichtstrahl zurückwarf, während jedes einzelne winzige Kristall wie ein Regenbogen leuchtete ... (sic) Die Strahlen kreuzten einander und bildeten erlesene Muster von solcher Schönheit, daß sie mir den Atem raubte ... (sic) Dann wurde plötzlich mein Bewußtsein von innen her erleuchtet, und ich sah auf eine lebhafte Weise, wie das ganze Weltall aus Teilchen von Materie bestand, welche, wie matt und leblos sie auch zu sein schienen, von dieser intensiven und vitalen Schönheit erfüllt waren. Ein paar Sekunden lang erschien die ganze Welt als ein einziges Flammen von Herrlichkeit. Als das erlosch, hinterließ es etwas in mir, das ich nie vergessen habe, das mich beständig an die Schönheit gemahnt, die in jedem kleinsten Stäubchen von Materie um uns her eingeschlossen ist."3 Während im Überblick die Dinge verortet und eingeordnet werden, ist das mikroskopische Funkeln von keinem utilitaristischen Interesse. Der beiläufige Blick bringt die Dinge zur Anwesenheit. Er ermöglicht das Eindringen in die Phänomene. Baudelaire beschrieb solche Ausnahmezustände als eine Art "von vertrautem, aber zeitweilig unterbrochenen Umgang, aus dem wir, sofern wir weise wären, die Gewißheit eines besseren Daseins folgern sollten und die Hoffnung, durch tägliche Übung unseres Willens dorthin zu gelangen."4

Solche Empfindungsphänomene sind offenbar von der Alltagswahrnehmung verschieden. Aldous Huxley verweist in diesem Zusammenhang auf den französischen Philosophen Henri Bergson, nach dessen Auffassung die Sinnesorgane hauptsächlich eliminierend arbeiten. Grundsätzlich sei "jeder Mensch ... in jedem Augenblick fähig, sich an alles zu erinnern, was ihm je widerfahren ist, und alles wahrzunehmen, was irgendwo im Universum geschieht."5 Gehirn und Nervensystem schützen uns vor dieser Informationsflut, indem sie den größten Teil der Informationen ausschließen und nur eine kleine Auswahl übriglassen, die wahrscheinlich von praktischem Nutzen ist. "Um ein biologisches Überleben zu ermöglichen, muß das größtmögliche Bewußtsein durch den Reduktionsfilter des Gehirns und des Nervensystems hindurchfließen."6 Die Inhalte dieses reduzierten Bewußtseins faßt der Mensch begrifflich in Symbolsystemen, die den Zugang zu in solchen Systemen gespeicherten Erfahrungen anderer Menschen ermöglichen. Er ist Opfer der Symbolsysteme, indem sie ihn im Glauben bestärken, das reduzierte Bewußtsein sei das einzig mögliche und indem sie "seinen Wirklichkeitssinn verwirr[en], so daß er nur allzu bereit ist, seine Begriffssysteme für gegebene Tatbestände, seine Bezeichnungen für die Dinge selbst zu halten. Was in der Sprache der Religion 'von dieser Welt' genannt wird, ist das Universum des reduzierten Bewußtseins."7


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1 A. Hofmann, 1986, S. 22f.

2 Baudelaire, 1860, S. 231.

3 Huxley, 1954, S. 74.

4 Baudelaire, 1860, S. 232f.

5 Huxley, 1954, S. 19.

6 Huxley, 1954, S. 19.

7 Huxley, 1954, S. 20.


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