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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Sehendes Sehen als totale Illusion

 

Dem sehenden Sehen offenbart sich die komplexe Verbindung von Wasserspiegelungen, Gewächsen und Farbmaterie letztlich als Reflexion des Sehens selbst. Eines Sehens, das sich verändert, während man die Säle durchwandert. Betritt man den ersten Saal, so meint man sagen zu können: Hier ist eine rosenfarbene Fläche, die an eine bläuliche grenzt, und dort das Seerosenblatt ist grün, mit etwas weiß versetzt. Die Gesamtstimmung erscheint zunächst in einer fast einheitlichen, eher stumpfen Farbigkeit. Nach und nach treten die Farben stärker hervor, immer mehr Nuancen werden unterscheidbar und zugleich immer weniger bestimmbar, festschreibbar, bis sie zuletzt in fast blendender Helle erscheinen und zu flimmern beginnen. Nun geschieht vor den Bildtafeln ähnliches, wie es dem Maler vor seinem Sujet widerfuhr: "Monets Weg mündet in ein Sehen, das die Physiologe des Auges überreizt, das, wie es bereits Kleist angesichts von Friedrichs 'Mönch am See' erlebte, den Betrachter in einen halluzinatorischen Zustand versetzt, in dem es ihm vorkomme, 'als wenn einem die Augenlider weggeschnitten wären'."1 Es wird unentscheidbar, wie die Farben 'wirklich' sind, die anfangs dumpfen Stellen werden durchsichtig, hell und schwebend - als ob die Oberfläche der Leinwand nicht existierte und die Farbe als bewegliche Materie oder als reines Licht (was in gewisser Weise dasselbe ist) begänne im Raum zu schweben, hinter einer durchsichtigen Scheibe (die Aquariumsassoziation stellt sich ein), immateriell gleich der Wasserfläche, die ja auch nur Grenze ist, an der die verschiedenen Zuständlichkeiten von Luftatmosphäre und Wasser aneinanderstoßen. Alles wird jetzt zu Erscheinungsweisen des Lichts. Die vor den Nymphéas ausgelösten Empfindungen entziehen sich in einer so eindrücklichen Weise jeder analytischen Betrachtung, daß Werner Spies sagen konnte: "Im Endlosband der monumentalen Leinwände, auf die Monet in seinen letzten Lebensjahren die Seerosen bannte, fand das Ertrinken in der totalen, unentrinnbaren Illusion den stärksten Ausdruck."2

Der Eindruck von Illusion gründet in hohem Maße im subjektiven Charakter des Sehens. Er entsteht während der Bewegung im Raum - und nur dann. Das schwebende Flimmern ist in jedem Augenblick anders, nichts ist wiederholbar. Physiologisch entsteht es aufgrund des Nachbildeffekts. Wenn der Blick über helle und dunkle oder farbige Gegenstände und Flächen gleitet, "wird der Eindruck jeder Farbe verändert, indem sie sich auf Theilen der Netzhaut abbildet, die unmittelbar vorher von anderen Farben und Lichtern getroffen waren und dadurch in ihrer Reizempfänglichkeit verändert worden sind."3 Diese Art des Kontrasts ist abhängig von den Augenbewegungen und wurde von Chevreul als 'sukzessiver Kontrast' bezeichnet. Farbige Nachbilder treten immer auf, sie werden aber durch Blickbewegungen sehr abgeschwächt, und normalerweise bemerken wir sie nicht. Monets Seerosen bringen sie regelrecht in Gang, nur daß sie Teil der Gesamtwirkung werden und - eben aufgrund der Bewegung - als isoliertes Phänomen uns nicht bewußt werden. Wenn Farben derart ereignishaft erscheinen, macht es nicht mehr viel Sinn, ihnen Namen zu geben, denn es geht ja nicht darum, Dinge hinter dem Phänomenalen zu identifizieren. Die Prozeßhaftigkeit und Ereignishaftigkeit des Sehens tritt an die Stelle der festschreibbaren Dinge.

Was hier im Unterschied zur gewöhnlichen, reduzierenden Wahrnehmungsweise geschieht, hat Arnold Hauser treffend beschrieben. Die impressionistischen Farben, sagt Hauser, "verändern und entstellen das Bild unserer gewöhnlichen Erfahrung. Wir fassen ein Stück 'weißes' Papier zum Beispiel in jeder Beleuchtung und trotz der farbigen Reflexe, die es bei Tageslicht zeigt, als weiß auf. Das heißt mit anderen Worten: die 'Gedächtnisfarbe', die wir mit einem Gegenstand assoziieren und die das Resultat einer langen Erfahrung und Gewöhnung ist, verdrängt den konkreten, durch das wirkliche Erlebnis gewonnenen Eindruck; der Impressionismus greift nun hinter die gewußte, theoretisch geltende Farbe auf die wirkliche Wahrnehmung zurück, was übrigens durchaus kein spontaner Akt ist, sondern einen höchst künstlichen und äußerst komplizierten psychologischen Prozeß darstellt."4 Die Konstanztendenz, von der Hauser hier spricht, hilft uns, in veränderten Lichtbedingungen Gegenstände richtig wiederzuerkennen. Solche Anforderung stellen Monets Bilder nicht. Im Gegenteil ist das, was in der Orangerie an Nuancen erscheint, von konstitutioneller Wichtigkeit für die ästhetische Bedeutung der Malerei. Daß diese höchst diffizile Erscheinungsweise in hohem Maße kontextabhängig ist, war Monet wohl bewußt, und deshalb war ihm die Art und Weise, wie seine 'Grands Décorations' präsentiert werden so wichtig, daß er anordnete: "Sie [die dekorativen Gemälde] verlassen mein Haus erst, wenn ich mit der Unterbringung zufrieden bin. Diese Anweisungen gebe ich meinen Erben, denn ich habe diese Bilder in einer bestimmten dekorativen Absicht gemalt und möchte, daß sie erreicht wird."5


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1 Spies, 1994.

2 Spies, 1994.

3 Helmholtz, 1876, S. 122.

4 Hauser, 1953, S. 934f.
Mit Hilfe des Wahrnehmungsvermögens können aber Farben nur sehr grob identifiziert werden. Wie sehr die Farbe der Beleuchtung eine Rolle spielt weiß jeder, der im Neonlicht eines Kaufhauses ein Kleidungsstück erstanden hat, das sich im Tageslicht als völliger Fehlkauf herausstellte.

5 Monet nach René Gimpel: Tagebuch eines Kunsthändlers. 1818-1923. In: Stuckey, 1994, S. 309.


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