Sehendes Sehen als totale Illusion
Dem sehenden Sehen offenbart sich die komplexe Verbindung
von Wasserspiegelungen, Gewächsen und Farbmaterie letztlich
als Reflexion des Sehens selbst. Eines Sehens, das sich verändert,
während man die Säle durchwandert. Betritt man den
ersten Saal, so meint man sagen zu können: Hier ist eine
rosenfarbene Fläche, die an eine bläuliche grenzt,
und dort das Seerosenblatt ist grün, mit etwas weiß
versetzt. Die Gesamtstimmung erscheint zunächst in einer
fast einheitlichen, eher stumpfen Farbigkeit. Nach und nach treten
die Farben stärker hervor, immer mehr Nuancen werden unterscheidbar
und zugleich immer weniger bestimmbar, festschreibbar, bis sie
zuletzt in fast blendender Helle erscheinen und zu flimmern beginnen.
Nun geschieht vor den Bildtafeln ähnliches, wie es dem Maler
vor seinem Sujet widerfuhr: "Monets Weg mündet in ein
Sehen, das die Physiologe des Auges überreizt, das, wie
es bereits Kleist angesichts von Friedrichs 'Mönch am See'
erlebte, den Betrachter in einen halluzinatorischen Zustand versetzt,
in dem es ihm vorkomme, 'als wenn einem die Augenlider weggeschnitten
wären'."1 Es wird unentscheidbar,
wie die Farben 'wirklich' sind, die anfangs dumpfen Stellen werden
durchsichtig, hell und schwebend - als ob die Oberfläche
der Leinwand nicht existierte und die Farbe als bewegliche Materie
oder als reines Licht (was in gewisser Weise dasselbe ist) begänne
im Raum zu schweben, hinter einer durchsichtigen Scheibe (die
Aquariumsassoziation stellt sich ein), immateriell gleich der
Wasserfläche, die ja auch nur Grenze ist, an der die verschiedenen
Zuständlichkeiten von Luftatmosphäre und Wasser aneinanderstoßen.
Alles wird jetzt zu Erscheinungsweisen des Lichts. Die vor den
Nymphéas ausgelösten Empfindungen entziehen
sich in einer so eindrücklichen Weise jeder analytischen
Betrachtung, daß Werner Spies sagen konnte: "Im Endlosband
der monumentalen Leinwände, auf die Monet in seinen letzten
Lebensjahren die Seerosen bannte, fand das Ertrinken in der totalen,
unentrinnbaren Illusion den stärksten Ausdruck."2
Der Eindruck von Illusion gründet in hohem Maße im
subjektiven Charakter des Sehens. Er entsteht während der
Bewegung im Raum - und nur dann. Das schwebende Flimmern ist
in jedem Augenblick anders, nichts ist wiederholbar. Physiologisch
entsteht es aufgrund des Nachbildeffekts. Wenn der Blick über
helle und dunkle oder farbige Gegenstände und Flächen
gleitet, "wird der Eindruck jeder Farbe verändert,
indem sie sich auf Theilen der Netzhaut abbildet, die unmittelbar
vorher von anderen Farben und Lichtern getroffen waren und dadurch
in ihrer Reizempfänglichkeit verändert worden sind."3 Diese Art des Kontrasts ist abhängig von
den Augenbewegungen und wurde von Chevreul als 'sukzessiver Kontrast'
bezeichnet. Farbige Nachbilder treten immer auf, sie werden aber
durch Blickbewegungen sehr abgeschwächt, und normalerweise
bemerken wir sie nicht. Monets Seerosen bringen sie regelrecht
in Gang, nur daß sie Teil der Gesamtwirkung werden und
- eben aufgrund der Bewegung - als isoliertes Phänomen uns
nicht bewußt werden. Wenn Farben derart ereignishaft erscheinen,
macht es nicht mehr viel Sinn, ihnen Namen zu geben, denn es
geht ja nicht darum, Dinge hinter dem Phänomenalen zu identifizieren.
Die Prozeßhaftigkeit und Ereignishaftigkeit des Sehens
tritt an die Stelle der festschreibbaren Dinge.
Was hier im Unterschied zur gewöhnlichen, reduzierenden
Wahrnehmungsweise geschieht, hat Arnold Hauser treffend beschrieben.
Die impressionistischen Farben, sagt Hauser, "verändern
und entstellen das Bild unserer gewöhnlichen Erfahrung.
Wir fassen ein Stück 'weißes' Papier zum Beispiel
in jeder Beleuchtung und trotz der farbigen Reflexe, die es bei
Tageslicht zeigt, als weiß auf. Das heißt mit anderen
Worten: die 'Gedächtnisfarbe', die wir mit einem Gegenstand
assoziieren und die das Resultat einer langen Erfahrung und Gewöhnung
ist, verdrängt den konkreten, durch das wirkliche Erlebnis
gewonnenen Eindruck; der Impressionismus greift nun hinter die
gewußte, theoretisch geltende Farbe auf die wirkliche Wahrnehmung
zurück, was übrigens durchaus kein spontaner Akt ist,
sondern einen höchst künstlichen und äußerst
komplizierten psychologischen Prozeß darstellt."4 Die Konstanztendenz, von der Hauser hier spricht,
hilft uns, in veränderten Lichtbedingungen Gegenstände
richtig wiederzuerkennen. Solche Anforderung stellen Monets Bilder
nicht. Im Gegenteil ist das, was in der Orangerie an Nuancen
erscheint, von konstitutioneller Wichtigkeit für die ästhetische
Bedeutung der Malerei. Daß diese höchst diffizile
Erscheinungsweise in hohem Maße kontextabhängig ist,
war Monet wohl bewußt, und deshalb war ihm die Art und
Weise, wie seine 'Grands Décorations' präsentiert
werden so wichtig, daß er anordnete: "Sie [die dekorativen
Gemälde] verlassen mein Haus erst, wenn ich mit der Unterbringung
zufrieden bin. Diese Anweisungen gebe ich meinen Erben, denn
ich habe diese Bilder in einer bestimmten dekorativen Absicht
gemalt und möchte, daß sie erreicht wird."5