Ereignis und Aura
Die Rede von der Ereignishaftigkeit des Kunstwerks anstelle
seiner Werkhaftigkeit ist historisch. Sie kam auf in den sechziger
Jahren dieses Jahrhunderts im Zusammenhang mit Kunstformen wie
Performance und Happening. An die Stelle einer Werkästhetik,
die das Werk als Schöpfung eines wie immer inspirierten
Genies ansieht, tritt das Schöpferische der Werke in ihrer
Ereignishaftigkeit, die in der Rezeption angesiedelt ist. Der
Ort der Werke ist "ihre Erfüllung im Vollzug - der
Einzigartigkeit des Augenblicks."1 Das
statische Werk gerät zur Inszenierung und wird damit radikal
transformiert. "Nicht Zeichen oder Symbole spielen fortan
die entscheidende Rolle, nicht einmal mehr Inhalte, sondern das,
was diese erzeugen: die Faszination, die sie auslösen, die
Verschiebungen, die sie ermöglichen, und die Erlebnisse,
die sie gestatten."2 Das hat Folgen für
die mögliche Interpretation. Die Werke können nicht
mehr erklärt, nicht mehr verstanden sondern einzig noch
vollzogen werden. Sie erzeugen sich je nach den Reaktionen der
Betrachter. In der Inszenierung von Hologrammen kann es keine
authentische Aufführung geben, sondern nur zeitliche und
lokale Realisierungen für einzelne Betrachter. Aufgrund
ihrer unteilbaren Subjektivität können solche Erlebnisse
"keine Bewertungen zul[ass]en, höchstens Erfahrungen
aufschl[ieß]en."3 Die Werke, so Mersch
weiter, unterbreiten ein sinnliches Angebot, das nur handelnd
erschlossen werden kann - oder gar nicht. Vor Hologrammen ist
die Notwendigkeit der Handlung des Betrachters buchstäblich
gegeben. Hologramme können nie total wahrgenommen werden,
wie das bei Tafelbildern (abhängig von ihrer Größe)
tendenziell der Fall ist. Ihre Gesamtheit ist immer an die raumzeitliche
Aktion von Betrachtern gebunden. Auch deshalb ist ihre Rezeption
wesentlich singulär. Während die Betrachter umhergehen,
entwerfen sie eine einzigartige visuelle Flugbahn. An die Stelle
eines einheitlichen Eindrucks tritt die partielle Sichtbarkeit
im gegenwärtigen Augenblick, der zudem von mehreren zugleich
anwesenden Betrachtern verschieden erlebt wird, da, wie Boissonnet
bemerkt, zwei Betrachter vor einem Hologramm nie dasselbe sehen
können, egal, wie nah sie einander sein mögen.4
Das unteilbare, höchstens mitteilbare, Ereignis verweigert
sich jeder übergreifenden Ordnung. "Sowenig es rationale
Zugänge erlaubt", so Mersch, "sowenig erschöpft
es sich in den Formen seiner Interpretation. Weder fügt
es sich zureichender Erklärung, noch bildet es ein deutbares
Zeichen: Es hat nicht die Seinsweise eines Textes. Prinzipiell
versperrt es sich darum jeder Hermeneutik. Es wartet nicht auf
seine Dechiffirierung; es ist, was geschieht."5
Die Ereignishaftigkeit der Rezeption von Kunstwerken gilt für
Tafelbilder wie für Hologramme oder konzeptuelle Musik.
Das ist der entscheidende Wechsel des Blickpunkts: Nicht das
Werk ist ereignishaft, seine Rezeption ist es. Nicht das Werk
ist auratisch, in seiner Rezeption scheint die Aura auf. Und
nur indem die Aura an das Hier und Jetzt der Betrachter vor dem
Werk gebunden ist, vermag sie - als vollzogene Erfahrung - integriert
zu werden in seinen Lebens- und Wissenszusammenhang. Boissonnets
Hologramme zeigen Bilder, Abbilder und Zeichen. Als solche können
sie gelesen und interpretiert werden. Das Dechiffrieren der abgebildeten
Aura und der Spuren hin zum holographischen Universum, die Boissonnets
Werk auch auslegen, ist gleichsam die kognitive Spitze
eines Eisbergs, dessen Tiefe sich erst im vom Künstler interaktiv
angelegten Ereignis der Rezeption dergestalt zu offenbaren vermag,
daß sie berührt im Sinne der Herstellung einer Emotion,
die ganz eng an den Leib des Betrachters - und auch an seine
physiologischen Gegebenheiten - gebunden ist. Nimmt man das dechiffrierbare
Zeichen - die Aura - und die ereignishafte Rezeption zusammen,
so konstituiert sich das Ereignis auf der Ebene des Symbolischen
und des Nichtsymbolischen zugleich. Und im Nichtsymbolischen
"überschreitet es den Rand des Sagbaren und zeigt sich
im Vollzug einer Passage, der Verstörung der Sinne und Gefühle,
der Auflösung des Symbolischen. Solche Verstörungen
und Erschütterungen haben nicht die Struktur einer Intentionalität;
sie geschehen und drängen ihre Plötzlichkeit auf, ohne
im Hinblick auf einen Willen oder eine Absicht lesbar zu sein.
D. h. das Ereignis ist nichts, was für sich Gültigkeit
beanspruchte oder eine Bestimmung unabhängig von den Beteiligten
hätte - eine Lehre, die es erteilte, einen Zweck, den es
erfüllte, oder ein Ziel, auf das hin es strebte; vielmehr
existiert es nur auf der Ebene der Einlassung und Anerkennung.
Mit anderen Worten: Es setzt ein unmittelbar leibliches Ausgesetztsein
ins Jetzt voraus."6
Ereignisse sind nicht dem Willen unterworfen, eher werden die
Beteiligten durch es, das Ereignis geformt, als daß sie
es formten. So liegt im interaktiven Kontakt mit dem Werk die
Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, die sich nicht im Einordnen
in bestehende Strukturen erschöpfen. Im Zulassen des Ereignisses
liegt die Möglichkeit des Sich-öffnens für die
Erfahrung von Präsenz. Solche Erfahrungen führen stets
ins Unerwartete: Vertraute Bindungen werden aufgelöst, Bedeutungen
gestürzt. Das ist die Radikalität des Ereignisses,
es ist das "was sprachlos macht und deshalb vor dem
Denken kommt. Es wird durch die Erfahrung der Unterbrechung der
vorhandenen Codes und Zeichen, den Verlust der Orientierung und
der Sicherheiten des Diskurses angezeigt."7
In gewissem Sinne setzt die Erfahrung einer intensiven Präsenz
die Entleerung von 'Sinn' voraus. In diesem Sinne betritt die
Kunst, laut Mersch, den magischen Raum, der einst der Initiation
vorbehalten war, denn sie wird jetzt begriffen als die Möglichkeit
des Vollzugs, ausgehend vom Wirklichen (von dem, das wirkt),
und der dabei gemachten Erfahrung. Die Erfahrung kann - wie
die Reise im Territorium im Gegensatz zur Dechiffrierung der
Landkarte - Prozesse der Sensibilisierung einleiten. Boissonnets
Installationen können, als Einrichtungen des Sehens und
in ihrer Anknüpfung an Vertrautes im Unerwarteten, dabei
behilflich sein. Gelingt dieser Kommunikationsprozeß zwischen
Künstler, Werk und Betrachter, kann die Kunst als absoluter,
einmaliger und unwiederholbarer Augenblick zurückgewinnen,
was Benjamin der Vergangenheit zurechnete. Dann kann sich das
Ereignis mit dem Auratischen verknüpfen.