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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Ereignis und Aura

 

Die Rede von der Ereignishaftigkeit des Kunstwerks anstelle seiner Werkhaftigkeit ist historisch. Sie kam auf in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts im Zusammenhang mit Kunstformen wie Performance und Happening. An die Stelle einer Werkästhetik, die das Werk als Schöpfung eines wie immer inspirierten Genies ansieht, tritt das Schöpferische der Werke in ihrer Ereignishaftigkeit, die in der Rezeption angesiedelt ist. Der Ort der Werke ist "ihre Erfüllung im Vollzug - der Einzigartigkeit des Augenblicks."1 Das statische Werk gerät zur Inszenierung und wird damit radikal transformiert. "Nicht Zeichen oder Symbole spielen fortan die entscheidende Rolle, nicht einmal mehr Inhalte, sondern das, was diese erzeugen: die Faszination, die sie auslösen, die Verschiebungen, die sie ermöglichen, und die Erlebnisse, die sie gestatten."2 Das hat Folgen für die mögliche Interpretation. Die Werke können nicht mehr erklärt, nicht mehr verstanden sondern einzig noch vollzogen werden. Sie erzeugen sich je nach den Reaktionen der Betrachter. In der Inszenierung von Hologrammen kann es keine authentische Aufführung geben, sondern nur zeitliche und lokale Realisierungen für einzelne Betrachter. Aufgrund ihrer unteilbaren Subjektivität können solche Erlebnisse "keine Bewertungen zul[ass]en, höchstens Erfahrungen aufschl[ieß]en."3 Die Werke, so Mersch weiter, unterbreiten ein sinnliches Angebot, das nur handelnd erschlossen werden kann - oder gar nicht. Vor Hologrammen ist die Notwendigkeit der Handlung des Betrachters buchstäblich gegeben. Hologramme können nie total wahrgenommen werden, wie das bei Tafelbildern (abhängig von ihrer Größe) tendenziell der Fall ist. Ihre Gesamtheit ist immer an die raumzeitliche Aktion von Betrachtern gebunden. Auch deshalb ist ihre Rezeption wesentlich singulär. Während die Betrachter umhergehen, entwerfen sie eine einzigartige visuelle Flugbahn. An die Stelle eines einheitlichen Eindrucks tritt die partielle Sichtbarkeit im gegenwärtigen Augenblick, der zudem von mehreren zugleich anwesenden Betrachtern verschieden erlebt wird, da, wie Boissonnet bemerkt, zwei Betrachter vor einem Hologramm nie dasselbe sehen können, egal, wie nah sie einander sein mögen.4

Das unteilbare, höchstens mitteilbare, Ereignis verweigert sich jeder übergreifenden Ordnung. "Sowenig es rationale Zugänge erlaubt", so Mersch, "sowenig erschöpft es sich in den Formen seiner Interpretation. Weder fügt es sich zureichender Erklärung, noch bildet es ein deutbares Zeichen: Es hat nicht die Seinsweise eines Textes. Prinzipiell versperrt es sich darum jeder Hermeneutik. Es wartet nicht auf seine Dechiffirierung; es ist, was geschieht."5 Die Ereignishaftigkeit der Rezeption von Kunstwerken gilt für Tafelbilder wie für Hologramme oder konzeptuelle Musik. Das ist der entscheidende Wechsel des Blickpunkts: Nicht das Werk ist ereignishaft, seine Rezeption ist es. Nicht das Werk ist auratisch, in seiner Rezeption scheint die Aura auf. Und nur indem die Aura an das Hier und Jetzt der Betrachter vor dem Werk gebunden ist, vermag sie - als vollzogene Erfahrung - integriert zu werden in seinen Lebens- und Wissenszusammenhang. Boissonnets Hologramme zeigen Bilder, Abbilder und Zeichen. Als solche können sie gelesen und interpretiert werden. Das Dechiffrieren der abgebildeten Aura und der Spuren hin zum holographischen Universum, die Boissonnets Werk auch auslegen, ist gleichsam die kognitive Spitze eines Eisbergs, dessen Tiefe sich erst im vom Künstler interaktiv angelegten Ereignis der Rezeption dergestalt zu offenbaren vermag, daß sie berührt im Sinne der Herstellung einer Emotion, die ganz eng an den Leib des Betrachters - und auch an seine physiologischen Gegebenheiten - gebunden ist. Nimmt man das dechiffrierbare Zeichen - die Aura - und die ereignishafte Rezeption zusammen, so konstituiert sich das Ereignis auf der Ebene des Symbolischen und des Nichtsymbolischen zugleich. Und im Nichtsymbolischen "überschreitet es den Rand des Sagbaren und zeigt sich im Vollzug einer Passage, der Verstörung der Sinne und Gefühle, der Auflösung des Symbolischen. Solche Verstörungen und Erschütterungen haben nicht die Struktur einer Intentionalität; sie geschehen und drängen ihre Plötzlichkeit auf, ohne im Hinblick auf einen Willen oder eine Absicht lesbar zu sein. D. h. das Ereignis ist nichts, was für sich Gültigkeit beanspruchte oder eine Bestimmung unabhängig von den Beteiligten hätte - eine Lehre, die es erteilte, einen Zweck, den es erfüllte, oder ein Ziel, auf das hin es strebte; vielmehr existiert es nur auf der Ebene der Einlassung und Anerkennung. Mit anderen Worten: Es setzt ein unmittelbar leibliches Ausgesetztsein ins Jetzt voraus."6

Ereignisse sind nicht dem Willen unterworfen, eher werden die Beteiligten durch es, das Ereignis geformt, als daß sie es formten. So liegt im interaktiven Kontakt mit dem Werk die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, die sich nicht im Einordnen in bestehende Strukturen erschöpfen. Im Zulassen des Ereignisses liegt die Möglichkeit des Sich-öffnens für die Erfahrung von Präsenz. Solche Erfahrungen führen stets ins Unerwartete: Vertraute Bindungen werden aufgelöst, Bedeutungen gestürzt. Das ist die Radikalität des Ereignisses, es ist das "was sprachlos macht und deshalb vor dem Denken kommt. Es wird durch die Erfahrung der Unterbrechung der vorhandenen Codes und Zeichen, den Verlust der Orientierung und der Sicherheiten des Diskurses angezeigt."7 In gewissem Sinne setzt die Erfahrung einer intensiven Präsenz die Entleerung von 'Sinn' voraus. In diesem Sinne betritt die Kunst, laut Mersch, den magischen Raum, der einst der Initiation vorbehalten war, denn sie wird jetzt begriffen als die Möglichkeit des Vollzugs, ausgehend vom Wirklichen (von dem, das wirkt), und der dabei gemachten Erfahrung. Die Erfahrung kann - wie die Reise im Territorium im Gegensatz zur Dechiffrierung der Landkarte - Prozesse der Sensibilisierung einleiten. Boissonnets Installationen können, als Einrichtungen des Sehens und in ihrer Anknüpfung an Vertrautes im Unerwarteten, dabei behilflich sein. Gelingt dieser Kommunikationsprozeß zwischen Künstler, Werk und Betrachter, kann die Kunst als absoluter, einmaliger und unwiederholbarer Augenblick zurückgewinnen, was Benjamin der Vergangenheit zurechnete. Dann kann sich das Ereignis mit dem Auratischen verknüpfen.


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1 Mersch, 1997, S. 26.

2 Mersch, 1997, S. 28.

3 Mersch, 1997, S. 28.

4 Vgl. Boissonnet, 1996, S. 5 und Anm. 86 in diesem Kapitel.

5 Mersch, 1997, S. 29. Hervorhebung von mir.

6 Mersch, 1997, S. 30.

7 Mersch, 1997, S. 32.


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