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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Wirkung: Barocker Raum als Umraumerlebnis

 

Die Wirkung barocker Innenräume ist untrennbar verbunden mit der Wechselwirkung ihrer Elemente und deren verschiedenen Ansichten aus verschiedenen Standpunkten im Raum. Von außen können architektonische Körper tendenziell als 'objektive' Gegenüber beschrieben werden. Hanspeter Landolt beschreibt in 'Der barocke Raum in der Architektur' das Umraumerlebnis als die entscheidende Komponente des barocken Raums. Als Umraum wird Architektur "bedeutend komplizierter erlebt, nicht bloß mit den Augen, sondern auch mit einem elementaren Körpergefühl, das sich sprachlich-begrifflich schwer fassen läßt."1 Eine Beschreibung barocker Räume analog den klassischen zu versuchen, hält Landolt für unbefriedigend. Denn solche Beschreibung sagte "nichts über die Vielfalt und den Reichtum der räumlichen Komposition, und die hier nicht beiläufige Dekoration läßt sie überhaupt außer acht; wollte sie aber diesem Reichtum gerecht werden, dann wäre völlig unanschauliche Kompliziertheit die Folge."2 Das Gesamterlebnis des barocken Raums ist komplex, und es hat eine zeitliche Dimension. Die sukzessive, buchstäblich schrittweise, Wahrnehmung und Verbindung der einzelnen Elemente ermöglicht und erschließt das Erlebnis des Gesamten.

Betritt man die Kirche vom Westportal her, so sieht man zunächst von Ferne den Hochalter mit dem großen Altarblatt 3 (Abb. 4). Schreitet man vom Vestibül in den Hauptraum, treten die Seitenaltäre (Abb. 8/10), Abb. 9) und das Deckenfresko (Abb. 11) ins Blickfeld. Das Blatt des linken Seitenaltars und die vom Eingang her sichtbaren Teile des Deckenfreskos (Abb. 12, Abb. 13) sind für diesen Standpunkt konzipiert.4

Das Blatt des linken Seitenaltars zeigt Cosmas Damian Asams Darstellung der Heiligen Familie.5 Thomas Puttfarken hat in einer rezeptionsästhetischen Studie zu Tizians 'Pesaro Madonna' in der Frari-Kirche in Venedig dargelegt, daß eine seitliche Ansicht, vom Mittelgang her, der Bildkonzeption Tizians entspräche, da nur von hier aus betrachtet sich die gemalte Architektur mit der realen verbinde.6 Die perspektivische Organisation und die dadurch implizierten Verzerrungen der gemalten Architektur in der Frontalansicht in Asams 'Heiliger Familie' legen nahe, daß es sich hier um einen ähnlichen Fall handelt. Nur setzt Asam keine reale Architektur fort, und es ist überhaupt nicht möglich, einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus sich das Bild in allen seinen Teilen perspektivisch 'richtig' darböte. Asam hat das Bild mit mehreren Fluchtpunkten konstruiert, und er hat sie in eine Höhe gelegt, die von Betrachtern nicht eingenommen werden kann (Die Fluchtpunkte liegen, steht man im Erdgeschoß, oberhalb der Augenhöhe, steht man auf der Westempore, liegen sie unterhalb der Augenhöhe).


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1 Landolt, 1956, S. 92f.
Landolt weist auf die Grenzen der Beschreibbarkeit des Umraumerlebnisses: "Das Umraumerlebnis erkennen und ernstnehmen heißt eigentlich den Lichtbildervorträgen über Architektur als Raumkunst das Todesurteil sprechen. Denn auch das beste Lichtbild, das da vor uns an die Wand geworfen wird, vermag eines nie: uns in den Raum hinein zu versetzen. Es gibt lediglich die optische Komponente des Raumerlebnisses wieder, aber es läßt uns nicht den Raum um uns herum spüren, und es fixiert uns auch auf eine einzige, bestimmte Ansicht des Raumes; es verbietet uns, uns in ihm zu bewegen und so den Wechsel der optischen Eindrücke zu erleben. Gerade das aber ist für das Erlebnis des barocken Raumes mit von entscheidender Wichtigkeit." (Landolt, 1956, S. 93f.) Solchen Einschränkungen unterliegen natürlich auch die hier beigefügten Abbildungen.

2 Landolt, 1956, S. 95

3 Das Altarblatt mit der Darstellung der Immaculata (Unbefleckte Empfängnis Mariae) und der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies wurde ursprünglich von Cosmas Damian Asam gemalt. Im Zuge der Restaurierung der Kirche in den Jahren 1894/95 wurde das Blatt durch ein Bild im Nazarenerstil ersetzt (das Original ist seitdem verschollen), bei der letzten Restaurierung wurde 1981 von dem Würzburger Maler Wolfgang Lenz das ursprüngliche Thema in einem dem barocken Original nachempfundenen Stil neu gemalt.

4 Leider ist die originale Lichtkonzeption durch das nachträgliche Verdecken der Hauptlichtquelle (Abb. 26) derart verändert worden, daß das Altarbild aufgrund der auftretenden Spiegelungen durch das von Osten auffallende Licht (es sollte ja aus der Betrachterrichtung, d.h. von Westen her, kommen) kaum zu sehen ist. Die veränderte Lichtsituation beeinträchtigt gleichermaßen die Wirkung des Deckenfreskos. Die Decke bleibt im Halbdunkel. Das Fresko selbst ist in keinem besonders guten Zustand. Bei der letzten Restaurierung 1979 ist es gereinigt worden (durch die Beheizung des Raumes war es sehr verschmutzt). Bei der Restaurierung wurde versucht, die Originalsubstanz zu erhalten. Eine Auffrischung der Farben wurde nicht vorgenommen. Der heutige Eindruck ist deshalb mit dem ursprünglichen nicht vergleichbar. Aus der Farbigkeit des in der Konzeption ähnlichen und sehr gut erhaltenen Freskos in Ingolstadt läßt sich jedoch ein wenig auf die frühere Wirkung des Straubinger Freskos schließen.

5 Das - in Straubing einzige - originale Altarblatt von Cosmas Damian Asam stammt von 1738/39, vermutlich war es sein letztes Ölgemälde.

6 Puttfarken ordnet Tizians Komposition dem traditionellen frontalen Typus der italienischen Sacra Conversazione des Quattrocento zu, die scheinbare Abweichung begründet Puttfarken mit der Konzeption des Bildes für einen dezentralen Standpunkt (Vgl. Puttfarken, 1992, S. 95ff.).
In Straubing ist das Altarblatt des rechten Seitenaltars mit der Darstellung der Glorie des Herzen Jesu kompositorisch spiegelbildlich zum linken, seine Ansicht erschließt sich vom Altar aus. (Vgl.Kap. IV.12 'Dichte Beschreibung des Phänomens' .)


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