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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Dichte Beschreibung des Phänomens

 


Vom Eingang her erschien der Hochaltar als ein mächtiger Aufbau. (Abb. 4) Die perspektivisch nicht eindeutige Anlage des Deckengemäldes initiiert den Gang zur Mitte des Zentralraums. Nun, im Zentrum des Raumes eröffnen sich neue Sichten. Details beginnen den Blick zu führen. Die Faltenwürfe des Gewandes der linken Altarfigur (das ist eine Möglichkeit) lenken den Blick in sanften Schwüngen nach oben (Abb. 20). Vorbei an den Wolkengebilden und Putti. Entlang der gewundenen Säulen wird der Blick geführt zur Volute über dem Kapitell und zur Figur des Erzengels Michael (Abb. 19, links oben). QUIS UT DEUS - Wer ist wie Gott - steht auf seinem Schild, das an den Rand der kranzförmigen Bekrönung gelehnt ist. In deren Rundung erscheint Gottvater im Obergaden (Abb. 1). Ein weiteres Bild Gottvaters erscheint zugleich über dem Haupt des Betrachters, im Deckenfresko. Im Deckenfresko über dem Hochaltar erscheinen die Herzen Jesu und Maria. Die Anlage des Freskos lenkt den Betrachter bis dicht vor den Altar.

Das ist ein Weg. Doch es gibt viele mögliche Blickbahnen. Man kann das Gesamte des Hochaltars in einem Blick simultan erfassen - doch nicht dabei verweilen. Dann fällt der Blick auf eine silbern glänzende Stuckwolke, an der er nicht haften kann, sondern von der er abprallt, um an immer neuen Details entlangzugleiten. Das währt, bis sich der ganze, nie in seiner Gesamtheit überschaubare Raum in ein Gewoge von Blickbahnen verwandelt, von denen immer eine die nächste anschiebt. Analog den Blickbahnen sind die stuckierten Figuren ohne stabile Schwerpunkte, die ihnen ruhendes Gleichgewicht geben würden. Alles an ihnen ist dynamisch und Geste, die an der Ausbildung des Gesamtraums teilhat. Jedes Bewegungsmoment, jede Geste ist einzigartig und subtil verschieden von allen anderen. Also gibt es hier kein Fertigwerden mit der Betrachtung.

Auf immer neuen, unendlichen Wegen könnte der Blick sich verlieren, gäbe es nicht im Ganzen eine große, lenkende Dramaturgie. Das sind die Betrachterfunktionen und Vermittlungsstrategien, die in Straubing in so verschiedener Weise ausgebildet sind: als lesbare Erzählung im Dargestellten, als innerbildliche Betrachterfunktion in der perspektivischen Anlage, und, vielleicht am subtilsten, als sinnenaffizierendes Flimmern und Glänzen. Das Glänzen und Flimmern tritt am dichtesten auf an den theologisch bedeutsamsten Orten: den Altären. Steht man vor dem Hauptaltar, lenken Wolken, gemalte und stuckierte, den Blick vom Deckenfresko in der Apsis zurück nach unten, bis hin zur rechten Altarfigur (Ignatius von Loyola). Die Plastik fängt mit der Fläche des Brustlatzes den Blick auf und führt ihn zurück in den Raum, nach rechts zum Seitenaltar. Die Komposition des Altarblattes ist für diese Ansicht vom Altarraum her angelegt. Die Glorie des Herzen Jesu ist dargestellt 1 (Abb. 9). Engel halten eine goldene Krone über den Altar. Von Engeln gehaltene, stuckierte Blumengirlanden verbinden die Altarnische mit dem Gewölbe. Der Kranz der Engelsköpfchen führt den Blick zum Vestibül und hoch zum Tonnengewölbe über der Westempore. Dort ist im Fresko (links vom Hauptaltar aus gesehen) die Einschiffung der heiligen Ursula dargestellt (Abb. 23), rechts ihr Martyrium vor Köln (Abb. 24). Im Gewölbescheitel erscheint das Opferlamm, von goldenem Glorienschein umgeben (Abb. 25). Reiche Ornamentbänder fassen den Gewölberand und verbinden mit dem goldenen Rahmen des Deckenfreskos. In der Mitte, genau gegenüber der Schrifttafel über dem Hauptaltar, befindet sich, in den das Deckenfresko umgebenden Rahmen eingefügt, eine Grisaille mit der Darstellung einer Muschel (Abb. 25). Vor dem Hintergrund des Mythos von der Geburt der Perle aus dem Blitz kann die Grisaillemuschel als Gegenstück zum perlmuttern schimmernden Emblemfeld über dem Hauptaltar gelesen werden. So schließt sich, steht man am Altar, der Kreis, die Bewegung, in der die disparaten Teile ineinandergreifen und sich ergänzen, und für die die Inschrift über dem Hauptaltar deutlichster Anschub war: VIRGO SINE LABE. Im visionär leuchtenden, beweglichen Lichtraum vollzieht sich das einmalige, singuläre Ereignis der Empfängnis und Geburt Jesu immer wieder neu im Spiel des Lichts, im wechselnden Lichteinfall, in den fortwährend neuen Eindrücken, die das Schimmern und Glänzen der Oberflächen hervorruft.

Marraccis barockes Lexikon der Marienmetaphern, schreibt Ohly, weise etwa 70 Muschel-, Perlen-, Tau- und Blitzmetaphern für Maria nach. Solche Wörterbücher veranschaulichten, "wie die Fülle aller Aspekte eines menschlichen oder göttlichen Phänomens - wie das Ganze von Erfahrungen wie Liebe, Sünde oder Tod - nur in der Summe der es bezeichnenden Namen, Attribute und Metaphern annähernd erfaßt wird... Die Summe der Metaphern für ein der eindeutigen Definition durch Unerschöpflichkeit sich entziehendes Phänomen, wie eine Gottheit oder eine Erfahrung wie die Liebe, ist der höchste Grad der Annäherung an seine vollständige Beschreibung."2


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1 Das rechte Altarblatt stammt eventuell von Cosmas Damian Asam. Wahrscheinlicher ist, daß es nach dessen Tod von Egid Quirin ausgeführt wurde.

2 Ohly, 1973, S. 279.


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