Dichte Beschreibung des Phänomens
Vom Eingang her erschien der Hochaltar als ein mächtiger
Aufbau. (Abb. 4) Die perspektivisch
nicht eindeutige Anlage des Deckengemäldes initiiert den
Gang zur Mitte des Zentralraums. Nun, im Zentrum des Raumes eröffnen
sich neue Sichten. Details beginnen den Blick zu führen.
Die Faltenwürfe des Gewandes der linken Altarfigur (das
ist eine Möglichkeit) lenken den Blick in sanften Schwüngen
nach oben (Abb. 20). Vorbei an den
Wolkengebilden und Putti. Entlang der gewundenen Säulen
wird der Blick geführt zur Volute über dem Kapitell
und zur Figur des Erzengels Michael (Abb.
19, links oben). QUIS UT DEUS - Wer ist wie Gott - steht
auf seinem Schild, das an den Rand der kranzförmigen Bekrönung
gelehnt ist. In deren Rundung erscheint Gottvater im Obergaden
(Abb. 1). Ein weiteres Bild
Gottvaters erscheint zugleich über dem Haupt des Betrachters,
im Deckenfresko. Im Deckenfresko über dem Hochaltar erscheinen
die Herzen Jesu und Maria. Die Anlage des Freskos lenkt den Betrachter
bis dicht vor den Altar.
Das ist ein Weg. Doch es gibt viele mögliche Blickbahnen.
Man kann das Gesamte des Hochaltars in einem Blick simultan erfassen
- doch nicht dabei verweilen. Dann fällt der Blick auf eine
silbern glänzende Stuckwolke, an der er nicht haften kann,
sondern von der er abprallt, um an immer neuen Details entlangzugleiten.
Das währt, bis sich der ganze, nie in seiner Gesamtheit
überschaubare Raum in ein Gewoge von Blickbahnen verwandelt,
von denen immer eine die nächste anschiebt. Analog den Blickbahnen
sind die stuckierten Figuren ohne stabile Schwerpunkte, die ihnen
ruhendes Gleichgewicht geben würden. Alles an ihnen ist
dynamisch und Geste, die an der Ausbildung des Gesamtraums teilhat.
Jedes Bewegungsmoment, jede Geste ist einzigartig und subtil
verschieden von allen anderen. Also gibt es hier kein Fertigwerden
mit der Betrachtung.
Auf immer neuen, unendlichen Wegen könnte der Blick sich
verlieren, gäbe es nicht im Ganzen eine große, lenkende
Dramaturgie. Das sind die Betrachterfunktionen und Vermittlungsstrategien,
die in Straubing in so verschiedener Weise ausgebildet sind:
als lesbare Erzählung im Dargestellten, als innerbildliche
Betrachterfunktion in der perspektivischen Anlage, und, vielleicht
am subtilsten, als sinnenaffizierendes Flimmern und Glänzen.
Das Glänzen und Flimmern tritt am dichtesten auf an den
theologisch bedeutsamsten Orten: den Altären. Steht man
vor dem Hauptaltar, lenken Wolken, gemalte und stuckierte, den
Blick vom Deckenfresko in der Apsis zurück nach unten, bis
hin zur rechten Altarfigur (Ignatius von Loyola). Die Plastik
fängt mit der Fläche des Brustlatzes den Blick auf
und führt ihn zurück in den Raum, nach rechts zum Seitenaltar.
Die Komposition des Altarblattes ist für diese Ansicht vom
Altarraum her angelegt. Die Glorie des Herzen Jesu ist dargestellt
1 (Abb. 9). Engel
halten eine goldene Krone über den Altar. Von Engeln gehaltene,
stuckierte Blumengirlanden verbinden die Altarnische mit dem
Gewölbe. Der Kranz der Engelsköpfchen führt den
Blick zum Vestibül und hoch zum Tonnengewölbe über
der Westempore. Dort ist im Fresko (links vom Hauptaltar aus
gesehen) die Einschiffung der heiligen Ursula dargestellt (Abb. 23), rechts
ihr Martyrium vor Köln (Abb.
24). Im Gewölbescheitel erscheint das Opferlamm, von
goldenem Glorienschein umgeben (Abb.
25). Reiche Ornamentbänder fassen den Gewölberand
und verbinden mit dem goldenen Rahmen des Deckenfreskos. In der
Mitte, genau gegenüber der Schrifttafel über dem Hauptaltar,
befindet sich, in den das Deckenfresko umgebenden Rahmen eingefügt,
eine Grisaille mit der Darstellung einer Muschel (Abb.
25). Vor dem Hintergrund des Mythos von der Geburt der Perle
aus dem Blitz kann die Grisaillemuschel als Gegenstück zum
perlmuttern schimmernden Emblemfeld über dem Hauptaltar
gelesen werden. So schließt sich, steht man am Altar, der
Kreis, die Bewegung, in der die disparaten Teile ineinandergreifen
und sich ergänzen, und für die die Inschrift über
dem Hauptaltar deutlichster Anschub war: VIRGO SINE LABE. Im
visionär leuchtenden, beweglichen Lichtraum vollzieht sich
das einmalige, singuläre Ereignis der Empfängnis und
Geburt Jesu immer wieder neu im Spiel des Lichts, im wechselnden
Lichteinfall, in den fortwährend neuen Eindrücken,
die das Schimmern und Glänzen der Oberflächen hervorruft.
Marraccis barockes Lexikon der Marienmetaphern, schreibt Ohly,
weise etwa 70 Muschel-, Perlen-, Tau- und Blitzmetaphern für
Maria nach. Solche Wörterbücher veranschaulichten,
"wie die Fülle aller Aspekte eines menschlichen oder
göttlichen Phänomens - wie das Ganze von Erfahrungen
wie Liebe, Sünde oder Tod - nur in der Summe der es bezeichnenden
Namen, Attribute und Metaphern annähernd erfaßt wird...
Die Summe der Metaphern für ein der eindeutigen Definition
durch Unerschöpflichkeit sich entziehendes Phänomen,
wie eine Gottheit oder eine Erfahrung wie die Liebe, ist der
höchste Grad der Annäherung an seine vollständige
Beschreibung."2