St. Ursula als Grenzfall zwischen Barock und Rokoko
Der Kirchenraum in Straubing ist ein heller und lichter Raum,
ganz anders als die Vorgängerbauten der Asams in Weltenburg
und München. Dort ist der Lichterglanz ebenso üppig,
doch herrscht ein anderer Grundtenor. Alle Einzelelemente sind
untrennbar miteinander verbunden, zu einem Bild, während
sich in Straubing vielmehr disparate Elemente im freien Spiel
bewegen und ergänzen.1 Will man die Straubinger
Kirche kunsthistorisch klassifizieren, dann steht sie auf der
Schwelle vom Hochbarock zum Rokoko.
Das kirchliche Gesamtkunstwerk des Rokoko ist nicht in Frankreich,
wo der 'style moderne' seinen Ausgang nahm, entstanden, sondern
in Bayern. Dort hat sich eine eigene Spielart des deutschen Spätbarock
gebildet, die sich dem Rokoko nähert. Sedlmayr bezeichnet
diese Spätform des bayerischen Hochbarock deshalb als 'Sonder-Rokoko',
das er folgendermaßen definiert: "Das wahrhaft Neue
dieses 'Sonder-Rokoko' ist ein dem Spätbarock unbekannter
Kontrast zwischen der gebauten Architektur und den großen
Deckengemälden und Altären. Seit C.D. Asam verbindet
sich das Deckenbild oft nicht mehr synzentrisch mit dem wirklichen
Raum, sondern kann sich exzentrisch - das allein schon ein Hinweis
auf eine gewisse Nähe zum Rokoko - in unerwarteten Perspektiven
öffnen. Dort oben aber zeigen sich neue Gegenstände.
Hoch über unseren Häuptern schwebt panoramagleich eine
neue Erde, mannigfaltig wie die unsere, mit allen ihren Geschöpfen,
wo Profanes und Heiliges, Historisches und Gegenwärtiges,
Mysterium und Allegorie sich zauberisch in einer Weise vermischen,
die schon dem Ende des Jahrhunderts ein Greuel sein sollte...
Die Art und Weise, wie die Gleichniswelt oben und der entwirklichte
Bau unten, ihre Realität vertauschend, gegen- und ineinander
spielen, das ist in die Kirche heimgeholter Geist des Rokoko.
Dazwischen agiert in geistreicher Weise das Rokoko-Ornament:
bald in die eine Zone, bald in die andere hinübergreifend,
sich vom Rahmen zum Bildgegenstand ... oder zum architektonischen
Motiv wandelnd, verwandlungsfähig wie das Licht, das sich
im Weiß und Gold der Räume und Bildwerke materialisiert.
In diesem zauberhaften Geistspiel der sakralen Sphären enthüllt
die Rocaille noch einmal tief ihr Wesen: 'das des Übergangs
schlechthin' (B. Rupprecht) Wir finden sie deshalb überall
dort, wo Gefahr besteht, daß zwei Gattungen, zwei Sphären
sich scharf voneinander absetzen: an Fenstern, Bogen, Gewölbeansätzen;
an Rahmen und Brüstungen, an Sockeln von Skulpturen und
Geräten, an Bekrönungen von Altären, Beichtstühlen,
Kanzeln... Der unaussprechliche Reiz dieses Sonder-Rokoko liegt
darin, daß es ihm gelungen ist, das überaus künstliche
Gewächs des ursprünglichen Rokoko dem kirchlichen Volksboden
einzupflanzen, echte Naivität und höchste Kunstfertigkeit
aus der gleichen Wurzel wachsen zu lassen."2
Sedlmayrs Charakterisierung des bayerischen 'Sonder-Rokoko' ist
in der Anlage von Straubing wiederzufinden, vor allem im - durch
die Ornamentik verzahnten - Kontrast zwischen gebauter Architektur,
Deckengemälden, Plastik und eingefügtem Wort. Der Straubinger
Kirchenraum fügt sich zu einem Bild, doch zu einem Bild,
das nicht mit einer Wucht einwirkt, die Betrachter gleichsam
überrumpelt. Vielmehr erfordert der Illusionsraum die intellektuelle
und sinnliche Hinwendung der Betrachter zugleich. Sich hingeben
(der visuellen und raumkörperlichen Ansprache) und lesen
(das symbolhaft Dargestellte, das Wort). Erlebnis und Lesevorgang
geschehen in einer Bewegung von - dramaturgisch gelenkten - Blickbahnen,
die in der Tendenz unendlich ist.