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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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St. Ursula als Grenzfall zwischen Barock und Rokoko

 

Der Kirchenraum in Straubing ist ein heller und lichter Raum, ganz anders als die Vorgängerbauten der Asams in Weltenburg und München. Dort ist der Lichterglanz ebenso üppig, doch herrscht ein anderer Grundtenor. Alle Einzelelemente sind untrennbar miteinander verbunden, zu einem Bild, während sich in Straubing vielmehr disparate Elemente im freien Spiel bewegen und ergänzen.1 Will man die Straubinger Kirche kunsthistorisch klassifizieren, dann steht sie auf der Schwelle vom Hochbarock zum Rokoko.

Das kirchliche Gesamtkunstwerk des Rokoko ist nicht in Frankreich, wo der 'style moderne' seinen Ausgang nahm, entstanden, sondern in Bayern. Dort hat sich eine eigene Spielart des deutschen Spätbarock gebildet, die sich dem Rokoko nähert. Sedlmayr bezeichnet diese Spätform des bayerischen Hochbarock deshalb als 'Sonder-Rokoko', das er folgendermaßen definiert: "Das wahrhaft Neue dieses 'Sonder-Rokoko' ist ein dem Spätbarock unbekannter Kontrast zwischen der gebauten Architektur und den großen Deckengemälden und Altären. Seit C.D. Asam verbindet sich das Deckenbild oft nicht mehr synzentrisch mit dem wirklichen Raum, sondern kann sich exzentrisch - das allein schon ein Hinweis auf eine gewisse Nähe zum Rokoko - in unerwarteten Perspektiven öffnen. Dort oben aber zeigen sich neue Gegenstände. Hoch über unseren Häuptern schwebt panoramagleich eine neue Erde, mannigfaltig wie die unsere, mit allen ihren Geschöpfen, wo Profanes und Heiliges, Historisches und Gegenwärtiges, Mysterium und Allegorie sich zauberisch in einer Weise vermischen, die schon dem Ende des Jahrhunderts ein Greuel sein sollte... Die Art und Weise, wie die Gleichniswelt oben und der entwirklichte Bau unten, ihre Realität vertauschend, gegen- und ineinander spielen, das ist in die Kirche heimgeholter Geist des Rokoko. Dazwischen agiert in geistreicher Weise das Rokoko-Ornament: bald in die eine Zone, bald in die andere hinübergreifend, sich vom Rahmen zum Bildgegenstand ... oder zum architektonischen Motiv wandelnd, verwandlungsfähig wie das Licht, das sich im Weiß und Gold der Räume und Bildwerke materialisiert. In diesem zauberhaften Geistspiel der sakralen Sphären enthüllt die Rocaille noch einmal tief ihr Wesen: 'das des Übergangs schlechthin' (B. Rupprecht) Wir finden sie deshalb überall dort, wo Gefahr besteht, daß zwei Gattungen, zwei Sphären sich scharf voneinander absetzen: an Fenstern, Bogen, Gewölbeansätzen; an Rahmen und Brüstungen, an Sockeln von Skulpturen und Geräten, an Bekrönungen von Altären, Beichtstühlen, Kanzeln... Der unaussprechliche Reiz dieses Sonder-Rokoko liegt darin, daß es ihm gelungen ist, das überaus künstliche Gewächs des ursprünglichen Rokoko dem kirchlichen Volksboden einzupflanzen, echte Naivität und höchste Kunstfertigkeit aus der gleichen Wurzel wachsen zu lassen."2

Sedlmayrs Charakterisierung des bayerischen 'Sonder-Rokoko' ist in der Anlage von Straubing wiederzufinden, vor allem im - durch die Ornamentik verzahnten - Kontrast zwischen gebauter Architektur, Deckengemälden, Plastik und eingefügtem Wort. Der Straubinger Kirchenraum fügt sich zu einem Bild, doch zu einem Bild, das nicht mit einer Wucht einwirkt, die Betrachter gleichsam überrumpelt. Vielmehr erfordert der Illusionsraum die intellektuelle und sinnliche Hinwendung der Betrachter zugleich. Sich hingeben (der visuellen und raumkörperlichen Ansprache) und lesen (das symbolhaft Dargestellte, das Wort). Erlebnis und Lesevorgang geschehen in einer Bewegung von - dramaturgisch gelenkten - Blickbahnen, die in der Tendenz unendlich ist.


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1 Bernhard Rupprecht charakterisiert die Asamräume als 'große Bilder'. Wo die Asams ohne architektonische Vorgaben ans Werk gehen konnten, schreibt Rupprecht, herrsche gegenüber der sonstigen Lichtheit gleichzeitiger süddeutscher Kirchenarchitektur eine sonore Farbigkeit, die an die Innenräume römischer Barockkirchen erinnere. Auch die ovale Raumform von Weltenburg - bis dahin in Bayern nicht heimisch - deute auf Rom. Doch während der Süden mit der Ausstattung die Architektur nobilitiere, gehe es bei "Räumen wie Weltenburg und der Münchener Asamkirche vorwiegend um Licht- und Farbwirkungen." (Rupprecht, 1987, S. 47.) Die Gattungen, die nicht isoliert auftreten, wirken zusammen bei der Realisierung des Großen Bildes, das den Kern der Asamschen Kunst darstellt. "Die Faszination dieser mit allen Mitteln damaliger Kunst verwirklichten Großen Bilder beruht auf einigen elementaren Aspekten. Der für die Wirkung auf den Betrachter vielleicht wichtigste: es sind betretbare Bilder, nicht daß in Räumen wie Weltenburg oder der Münchener Asamkirche sich Bildwerke befänden - vielmehr stellen sich diese Innenräume selbst als ganzheitliche Bilder dar. Betretbar - aber auch seitlich kompakt begrenzt, die Wände sind fest, der Betrachter ist in das Große Bild einbeschlossen. Das ist der wichtigste Unterschied zur Kirchenkunst des Rokoko, die mit Weiß und Lichtfülle eine strahlende Grenzenlosigkeit zu eröffnen sucht." (Rupprecht, 1987, S. 48.) Die großen Bilder, meint Rupprecht, seien als theatralische Inszenierungen verstanden worden, doch diese Anleihen bei der barocken Theaterkunst erlaubten es nicht, die Werke der Asams für eine Art von Theater zu halten, denn bei aller Dynamik seien die Asamräume statisch, es fehle ihnen der dramaturgische Ablauf. Solche Einschätzung trifft meines Erachtens auf St. Ursula nicht zu. In deren Dekoration ist ein dramaturgischer Ablauf impliziert, wie ich an den die Betrachter lenkenden Perspektivkonstruktionen gezeigt habe.

2 Sedlmayr, 1958, S. 28f.


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