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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Rezeptionsgeschichte: Barocke Phänomene im Spiegel ihrer Betrachter

 

Die Überlieferung der Geschichte von der Perle Herkunft aus dem Blitz mag abgebrochen sein - Ohlys Beschreibung ist ja eine historische Rekonstruktion - doch die Dimension der Vermischung des Irdischen mit dem Himmlischen ist heute, anders als noch 1974, auf neue Weise aktuell. Das Verständnis des Barocken hat sich, vor dem Hintergrund neuerer und neuester naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, der Entwicklung virtueller Welten und anderen Erscheinungen des späten 20. Jahrhunderts, erneut in Richtung mystischer und mythischer Traditionen bewegt. Eberhard Roters beschreibt sein Barockverständnis - in einem Aufsatz über das holographische Werk Dieter Jungs - so: "Anstelle des perspektivischen Raumempfindens der Renaissance, das vom sicheren Standpunkt des Individuums gegenüber der geordneten Welt der Dinge ringsum gewonnen wurde, trat nun [im Barock] ein Raumempfinden, das die Sicherheit der Perspektive damals bereits zu verlassen begann. Wie die religiösen Bilder des Barock bezeugen, übte das vielfach noch unbewußte Empfinden der allmächtigen Leere des kosmischen Raumes einen Sog aus, der ein Ineinanderstürzen, eine Implosion der Bildvisionen geradezu herausforderte. Jedenfalls ist damit der Beginn einer bewußtseinsgeschichtlichen Phase markiert, die sich vom perspektivischen Raumempfinden, vom perspektivischen Denken und damit vom perspektivischen Bewußtsein und damit schließlich vom perspektivischen Wirklichkeitsleben zu lösen begann. Jede Geschichtsepoche erzeugt sich ihre eigene Wirklichkeit. Die Epoche der a-perspektivischen Wirklichkeit ist noch lange nicht zu Ende, sie hat wohl einschließlich ihrer zweihundertjährigen Vorlaufphase erst begonnen. Möglicherweise war das Zeitalter der perspektivischen Wirklichkeit nur eine Episode, ein dialektischer Entwicklungsgegensatz zum vorausgehenden Zeitalter des Goldgrunds. Die Leere aber ist nicht einfach das Nichts, die Leere ... ist angefüllt mit Wellen und Schwingungen. Damit ist unser gesamtes Weltbild in einem durchaus physikalischen Sinne oder, besser, ganz im Sinne der heute anerkannten physikalischen Spekulation auf einen Satz gebracht. Die Leere ist infolgedessen die Projektionsfläche für die Sichtbarmachung der Bilder, die dem Stand unseres zeitgenössischen Bewußtseins entsprechen."1 Die Weise, in der Roters hier die Vergangenheit für die Gegenwart bedeutsam macht, hat Bazon Brock als 'Arrièregardismus' bezeichnet. Geschichtsschreibung, meint Brock, müsse verstanden werden "als vermittelndes, kritisches Vermögen: als ein Entwurf der Vergangenheit durch die Gegenwärtigen im Blick auf ihre Zukunft."2 Roters Äußerungen können als Beispiel dienen für die Verschiebung des Betrachterstandpunkts gegenüber einer Betrachtungsweise, die sich einem bestimmten Renaissanceverständnis verpflichtet fühlte und die bis weit ins 19. Jahrhundert gültig geblieben ist.

Der Blick auf Zeitalter und deren Werke ist veränderlich. In jeder historischen Rekonstruktion scheint der Wissenszusammenhang der Epoche auf, in der sie entsteht. Für den Barock hat Hans Tintelnot den Verlauf historischer Rekonstruktionen in seinem Aufsatz 'Zur Gewinnung unserer Barockbegriffe' beschrieben. Die Zurkenntnisnahme solcher Entwicklung ermöglicht erst die Reflexion heutiger Anschauung, und, nicht zuletzt, der Straubinger Klosterkirche als, wie ich meine, Grenzfall zwischen Barock und Rokoko gerecht zu werden.

Tintelnot stellt 1955 fest, daß das Begreifen der geschichtlichen Welt des Barock ein Erlebnis des späten 19. Jahrhunderts war, das von dessen historischer Gegenwart weitgehend bestimmt wurde: "Die Gewinnung unserer Barockbegriffe ist aus zwei Grundkomponenten zu verstehen: erstens aus einer Erweiterung der Renaissancebegriffe des 19. Jahrhunderts und zweitens aus immanenten künstlerischen Bemühungen, die dieses Jahrhundert selbst mit dem Siegeszug des Impressionismus gegen 1900 gekrönt hat, Bestrebungen, die im gemeinsamen Willen mit dem folgenden Aufkommen des Expressionismus zum Antiklassischen und zur Errichtung subjektiver Ideale in der Kunst ihren Ausdruck fanden. Die Gewinnung eines neuen malerischen Sehens an der Grenzscheide zweier Jahrhunderte hat den Hinterfang für das Verständnis des 'Malerischen' in der Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts abgegeben. Das Wachsen unserer Barockerlebnisses ist somit nicht ohne eine deutliche Antithese gegen die künstlerischen Ideale und Theorien des früheren und mittleren 19. Jahrhunderts zu verstehen, auch nicht ohne das Bewußtwerden des Zusammenbruches des reinen Positivismus und des akademischen Historismus, wie er sich in der unbedingten Renaissancehörigkeit des 19. Jahrhunderts äußert... Es ist der Wandel zum künstlerischen Subjektivismus, der sich im Impressionismus binden dürfte mit dem Aufkommen eines Verständnisses für den Barock als der Zeit des absolutesten Persönlichkeitsstrebens, das die Künste je gesehen haben."3

Während die Bezeichnung des 'goût rococo' und die Charakterisierung der Rocaille schon um 1750 (also durchaus zeitnahe) geprägt wurden, wurde der Begriff 'barock' von Künstlern und Auftraggebern auf ihre künstlerischen Unternehmungen nicht angewandt. Die Bezeichnung des Barocken entwickelte sich erst langsam im Laufe der Aufklärung.

Ende des 19. Jahrhunderts verstand man unter 'barock' das 'schiefrunde' von Perlen, etymologisch führte man den Ausdruck auf das portugiesische 'barocco' (rohe, ungleich geformte Perle) zurück, oder wahlweise auf 'parrucca' (Perücke). Unter Barockstil verstand man eine Abart der Renaissance, die im 16. Jahrhundert unter dem Einfluß von Michelangelo begann und die dauerte, bis sie unter Ludwig XV vom Rokoko abgelöst wurde. Das 19. Jahrhundert lehnte den Barock und das Rokoko ab. Getadelt wurde seine Unklarheit, das Triebhafte der Formbildung, die Fülle an Symbolik und Allegorien.

Mit der spätklassizistischen Hinwendung zum Historismus zwischen 1830 und 1850 begann man den Begriff des Barock - aus der Negation heraus - erstmals zeitaltersmäßig zu sehen: als Verfall der Renaissance. 1841 wurde 'Barock' als Stilbegriff - bezogen auf den barocken Baustil - lexikographisch fixiert. Klar formuliert hat das negative Barockbild des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts Jacob Burckhardt, der den Barock als entartete Spätphase der Renaissance ansah. Besonders scheußlich fand Burckhardt den barocken Illusionismus, "die scheinbare perspektivische Vertiefung. Das Auge genießt die, wenn auch nur flüchtige Täuschung, nicht bloß auf eine Fläche, sondern in einen Gang mit Pfeilern auf beiden Seiten hinein zu sehen. Theilweise denselben Zweck, nur mit andern Mitteln erstrebt, darf man auch in der verrufenen Biegung der Fassaden erkennen. Auch hier wird eine Scheinbereicherung beabsichtigt, wenn die Wand sammt all ihrer Decoration auswärts, rund einwärts oder gar in Wellenform geschwungen wird. Das Auge hält, zumal beim Anblick von der Seite, die Biegung für stärker als sie ist, und setzt die ihm durch Verschiebung unsichtbaren Theile reicher voraus, als sie sind."4

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann die Ablehnung des Barocken vor den gegenpoligen Hintergründen von Historismus und aktuellen Tendenzen in Kunst und Wissenschaft aufzuweichen. Meyers Lexikon von 1885 spricht von erneuten 'starken Neigungen für Barock und Rokokokunst' seit 1880. Die lebenspraktische Akzeptanz war allerdings der kunsthistorischen Theoriebildung voraus: "Der Geschmack des europäischen Publikums am Barock, nicht nur des deutschen allein, war früher in der Auseinandersetzung mit dem Barocken begriffen als die Kunstwissenschaft. Die internationale Aristokratie und das gesamte europäische Bürgertum hatten längst 'ihren' Barock am Vorbild begriffen und in die Praxis ihrer künstlerischen und Lebensbedürfnisse zu übertragen begonnen, ehe die Kunstforschung genügend Überblick besaß, um auch nur Hauptzüge und Grundsätzlichkeiten der barocken Kunstentwicklung umreißen zu können."5

Um 1870 wurde der Begriff des 'malerischen' Barockstils wissenschaftlich geklärt. Der Neubarock entstand zeitgleich mit dem Impressionismus.6 Die grundsätzliche Erörterung der Barockbetrachtung vollzog 1888 Heinrich Wölfflin mit seiner Veröffentlichung 'Renaissance und Barock'. Auch Wölfflin betrachtete den Barock von der Renaissance aus, doch er suchte Kategorien zur positiven Bewertung. Als solche Kategorie führte Wölfflin den Begriff der Bewegung als ein Hauptmotiv barocken Gestaltens in die Betrachtung ein, "das Verhältnis von Kraft und Masse, die Brechung der Formen, die 'Verschnellerung der Linienbewegung' lassen barocke Gestaltungen als Werdeprozesse, als lebendige Organismen erscheinen. Die Steigerung der plastischen Mittel, vor allem das Motiv der Spannung in bewußt unbefriedigenden Proportionen und Formen des Barocks, das Dynamische in der Unübersehbarkeit und Unbegrenztheit barocker Räume, wird schließlich als neuer Erkenntnisfaktor in die Barockbetrachtung eingeführt."7 In der Folge Wölfflins erscheint barockes Wesen als Formalerlebnis, losgelöst und im vollen Gegensatz zu Renaissance und Antike. Der Barock wird nicht länger als ein Derivat der Renaissance angesehen. Aus 'Verfallserscheinungen' wird ein autonomes künstlerisches Stilphänomen mit eigenen Charakteristika. Davon ausgehend "mußten Forschung wie Publikum den Barock nicht nur als etwas epochal gebundenes, sondern auch als etwas Überzeitliches verstehen, als den Ausdruck einer künstlerischen Grundhaltung. Damit war der Anstoß zu einer ungeheuren Ausweitung des Barockerlebnisses auch für das 20. Jahrhundert gegeben."8 Um 1918 setzt ein erneuter Schub von Barockforschungen ein, die nicht ohne Reflexionen auf den Durchbruch des Expressionismus zu verstehen sind. "Nicht nur objektiv meßbare Welten, sondern subjektiv erlebbare sucht man zu erschließen".9 So bestimmen aktuelle Entwicklungen das Verständnis historischer Phänomene.

Die Debatten um die Periodisierung des Barock sind Mitte des 20. Jahrhunderts abgeklungen, nicht jedoch das Problem der Abgrenzung des Barock zum Rokoko. Rokoko war betrachtet worden als eine letzte Verwucherung der Renaissance, später als ein Ausspielen barocker Grundideen. Dann wurde versucht, Rokoko als ein eigenes, zwar der Barockkunst verbundenes, doch letztlich rein dekoratives Stilphänomen des 18. Jahrhunderts anzusehen. "Rokoko, so kann man im Sinne dieser Definition immer wieder lesen, ist eigentlich nur eine Form der Innendekoration, kein 'Stil', der sich in der Außenarchitektur ausdrückt."10 Das Rokoko, schreibt Sedlmayr, sei in Europa nur eine Möglichkeit unter vielen anderen gewesen. Doch von einem Hauch des 'esprit nouveau' sei vieles berührt worden, was dem Rokoko im strengen Sinne nicht zugerechnet werden könne.11


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1 Roters, 1984, S. 349. Hervorhebung von mir.

2 Stratmann, 1995, S. 116.

3 Tintelnot, 1956, S. 85f.
Eine ähnliche Periodisierungsdiskussion wie in der Kunstgeschichte spielte sich zeitgleich in der Philosophie ab. Dort gilt die Frage, ob es denn 'barocke Philosophie' gibt, noch immer als ungeklärt. Inwiefern die Philosophie mit zeitgleich entstandenen Werken der Kunst zusammenhängen könnte, kann hier nicht geklärt werden. Doch scheinen mir, mit aller gebotenen Vorsicht, einige Parallelen in der Philosophie Leibniz' möglich zu sein. Ein kurzer Hinweis soll hier genügen: Leibniz, schreibt Hans Barth, suchte stets, vorhandene Verschiedenheit philosophischer Erkenntnisse "auf die Verschiedenheit der möglichen Perspektiven, unter denen die Dinge sich darbieten können" zurückzuführen. (Barth, 1956, S. 423f.) Eine Anekdote erzählt, Leibniz habe, wissend, daß es unmöglich ist, "die hannöversche Hofgesellschaft aufgefordert ..., im Schloßgarten zu Herrenhausen zwei völlig gleiche Blätter zu suchen." (Finster, van den Heuvel, 1990, S. 58.)

4 Jacob Burckhardt, zit. nach: Tintelnot, 1956, S. 31.

5 Tintelnot, 1956, S. 37.

6 1874 wurde Schloß Linderhof im Stile Louis-Quinze ausgestattet, 1878 wurde Herrenchiemsee, die Kopie von Versailles, begonnen. Im selben Jahr erschien 'Les Impressionistes' von Duret, 1886 brachte die ersten internationalen Erfolge des Impressionismus mit den Ausstellungen, die Durand-Ruel in Amerika durchsetzte. Diese Entwicklung ist nicht ohne eine parallele Entwicklung in den Naturwissenschaften - der Physik und der Physiologie vor allem - zu denken. (Vgl. Kap. II.3 Subjektives Sehen)

7 Tintelnot, 1956, S. 49f.

8 Tintelnot, 1956, S. 51.

9 Tintelnot, 1956, S. 62.

10 Tintelnot, 1956, S. 65f.

11 Sedlmayr bezieht sich auf die unabgeschlossene Diskussion der Abgrenzung des Barock vom Rokoko. Wie wenig abgeschlossen diese Diskussion ist zeigt, daß manche Kunsthistoriker in der ornamentalen Ausstattung der Straubinger Klosterkirche Vorformen der Rocaille erkennen wollen, während beispielsweise Karl Tyroller dezidiert darauf hinweist, daß in Straubing keine Rocaillen vorkämen (die Kirche also dem Barock zuzurechnen sei). "Der Stuck ... ist höchst rationell verteilt: man könnte beinahe von einer Wendung zum Rokoko sprechen, wenn man die großen, zügig gleitenden weißen [Tyrollers Beschreibung liegt zeitlich vor der letzten Restaurierung. Die weißen Wände waren ein Werk des 19. Jahrhunderts, heute sind sie wieder in den ursprünglichen zarten Grautönen gehalten] Wandflächen in Betracht zieht, würden nicht einige hervorgehobene Stellen, etwa das Hauptgesims und die Kapitelle, an denen der ganze Reichtum barocker Form aufbricht, auch die Stuckdekoration als ein Spitzenwerk barocker Raumdekoration ausweisen: fülliges Akanthusblattwerk, ... saftige Blumenranken und Palmetten, alles architekturbezogen und akzentuierend, nirgends, wie es das Rokoko liebt, die Architektur überspielend und auflösend. So findet sich noch nirgends auch nur eine Andeutung des Rocailles." (Tyroller, 1976, S. 7.) Georg Weber schreibt dagegen im Kirchenführer zu Straubing: "Die sonore Farbigkeit des Raumes ... und die Ekstase der Heiligengestalten sind typisch asamscher Barock. Erste, noch symmetrische Rocaille-(Muschel)-Formen erscheinen über den Benediktionskreuzen. Der Hauch des Rokoko dringt in die Kirche auch durch die fröhlichen Engelsköpfchen an den Kapitälen und Stuckwölkchen, durch die graziösen Blumengehänge und symbolhaften Weinreben, sie sich um die Säulen ranken." (Weber, 1997, S. 14.)


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