Rezeptionsgeschichte: Barocke Phänomene im Spiegel ihrer
Betrachter
Die Überlieferung der Geschichte von der Perle Herkunft
aus dem Blitz mag abgebrochen sein - Ohlys Beschreibung ist ja
eine historische Rekonstruktion - doch die Dimension der Vermischung
des Irdischen mit dem Himmlischen ist heute, anders als noch
1974, auf neue Weise aktuell. Das Verständnis des Barocken
hat sich, vor dem Hintergrund neuerer und neuester naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse, der Entwicklung virtueller Welten und anderen Erscheinungen
des späten 20. Jahrhunderts, erneut in Richtung mystischer
und mythischer Traditionen bewegt. Eberhard Roters beschreibt
sein Barockverständnis - in einem Aufsatz über das
holographische Werk Dieter Jungs - so: "Anstelle des perspektivischen
Raumempfindens der Renaissance, das vom sicheren Standpunkt des
Individuums gegenüber der geordneten Welt der Dinge ringsum
gewonnen wurde, trat nun [im Barock] ein Raumempfinden, das die
Sicherheit der Perspektive damals bereits zu verlassen begann.
Wie die religiösen Bilder des Barock bezeugen, übte
das vielfach noch unbewußte Empfinden der allmächtigen
Leere des kosmischen Raumes einen Sog aus, der ein Ineinanderstürzen,
eine Implosion der Bildvisionen geradezu herausforderte. Jedenfalls
ist damit der Beginn einer bewußtseinsgeschichtlichen Phase
markiert, die sich vom perspektivischen Raumempfinden, vom perspektivischen
Denken und damit vom perspektivischen Bewußtsein und damit
schließlich vom perspektivischen Wirklichkeitsleben zu
lösen begann. Jede Geschichtsepoche erzeugt sich ihre eigene
Wirklichkeit. Die Epoche der a-perspektivischen Wirklichkeit
ist noch lange nicht zu Ende, sie hat wohl einschließlich
ihrer zweihundertjährigen Vorlaufphase erst begonnen. Möglicherweise
war das Zeitalter der perspektivischen Wirklichkeit nur eine
Episode, ein dialektischer Entwicklungsgegensatz zum vorausgehenden
Zeitalter des Goldgrunds. Die Leere aber ist nicht einfach
das Nichts, die Leere ... ist angefüllt mit Wellen und Schwingungen.
Damit ist unser gesamtes Weltbild in einem durchaus physikalischen
Sinne oder, besser, ganz im Sinne der heute anerkannten physikalischen
Spekulation auf einen Satz gebracht. Die Leere ist infolgedessen
die Projektionsfläche für die Sichtbarmachung der Bilder,
die dem Stand unseres zeitgenössischen Bewußtseins
entsprechen."1 Die Weise, in der Roters
hier die Vergangenheit für die Gegenwart bedeutsam macht,
hat Bazon Brock als 'Arrièregardismus' bezeichnet. Geschichtsschreibung,
meint Brock, müsse verstanden werden "als vermittelndes,
kritisches Vermögen: als ein Entwurf der Vergangenheit
durch die Gegenwärtigen im Blick auf ihre Zukunft."2 Roters Äußerungen können als
Beispiel dienen für die Verschiebung des Betrachterstandpunkts
gegenüber einer Betrachtungsweise, die sich einem bestimmten
Renaissanceverständnis verpflichtet fühlte und die
bis weit ins 19. Jahrhundert gültig geblieben ist.
Der Blick auf Zeitalter und deren Werke ist veränderlich.
In jeder historischen Rekonstruktion scheint der Wissenszusammenhang
der Epoche auf, in der sie entsteht. Für den Barock hat
Hans Tintelnot den Verlauf historischer Rekonstruktionen in seinem
Aufsatz 'Zur Gewinnung unserer Barockbegriffe' beschrieben. Die
Zurkenntnisnahme solcher Entwicklung ermöglicht erst die
Reflexion heutiger Anschauung, und, nicht zuletzt, der Straubinger
Klosterkirche als, wie ich meine, Grenzfall zwischen Barock und
Rokoko gerecht zu werden.
Tintelnot stellt 1955 fest, daß das Begreifen der geschichtlichen
Welt des Barock ein Erlebnis des späten 19. Jahrhunderts
war, das von dessen historischer Gegenwart weitgehend bestimmt
wurde: "Die Gewinnung unserer Barockbegriffe ist aus zwei
Grundkomponenten zu verstehen: erstens aus einer Erweiterung
der Renaissancebegriffe des 19. Jahrhunderts und zweitens aus
immanenten künstlerischen Bemühungen, die dieses Jahrhundert
selbst mit dem Siegeszug des Impressionismus gegen 1900 gekrönt
hat, Bestrebungen, die im gemeinsamen Willen mit dem folgenden
Aufkommen des Expressionismus zum Antiklassischen und zur Errichtung
subjektiver Ideale in der Kunst ihren Ausdruck fanden. Die Gewinnung
eines neuen malerischen Sehens an der Grenzscheide zweier Jahrhunderte
hat den Hinterfang für das Verständnis des 'Malerischen'
in der Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts abgegeben. Das Wachsen
unserer Barockerlebnisses ist somit nicht ohne eine deutliche
Antithese gegen die künstlerischen Ideale und Theorien des
früheren und mittleren 19. Jahrhunderts zu verstehen, auch
nicht ohne das Bewußtwerden des Zusammenbruches des reinen
Positivismus und des akademischen Historismus, wie er sich in
der unbedingten Renaissancehörigkeit des 19. Jahrhunderts
äußert... Es ist der Wandel zum künstlerischen
Subjektivismus, der sich im Impressionismus binden dürfte
mit dem Aufkommen eines Verständnisses für den Barock
als der Zeit des absolutesten Persönlichkeitsstrebens, das
die Künste je gesehen haben."3
Während die Bezeichnung des 'goût rococo' und die
Charakterisierung der Rocaille schon um 1750 (also durchaus zeitnahe)
geprägt wurden, wurde der Begriff 'barock' von Künstlern
und Auftraggebern auf ihre künstlerischen Unternehmungen
nicht angewandt. Die Bezeichnung des Barocken entwickelte sich
erst langsam im Laufe der Aufklärung.
Ende des 19. Jahrhunderts verstand man unter 'barock' das 'schiefrunde'
von Perlen, etymologisch führte man den Ausdruck auf das
portugiesische 'barocco' (rohe, ungleich geformte Perle) zurück,
oder wahlweise auf 'parrucca' (Perücke). Unter Barockstil
verstand man eine Abart der Renaissance, die im 16. Jahrhundert
unter dem Einfluß von Michelangelo begann und die dauerte,
bis sie unter Ludwig XV vom Rokoko abgelöst wurde. Das 19.
Jahrhundert lehnte den Barock und das Rokoko ab. Getadelt wurde
seine Unklarheit, das Triebhafte der Formbildung, die Fülle
an Symbolik und Allegorien.
Mit der spätklassizistischen Hinwendung zum Historismus
zwischen 1830 und 1850 begann man den Begriff des Barock - aus
der Negation heraus - erstmals zeitaltersmäßig zu
sehen: als Verfall der Renaissance. 1841 wurde 'Barock' als Stilbegriff
- bezogen auf den barocken Baustil - lexikographisch fixiert.
Klar formuliert hat das negative Barockbild des fortgeschrittenen
19. Jahrhunderts Jacob Burckhardt, der den Barock als entartete
Spätphase der Renaissance ansah. Besonders scheußlich
fand Burckhardt den barocken Illusionismus, "die scheinbare
perspektivische Vertiefung. Das Auge genießt die, wenn
auch nur flüchtige Täuschung, nicht bloß auf
eine Fläche, sondern in einen Gang mit Pfeilern auf beiden
Seiten hinein zu sehen. Theilweise denselben Zweck, nur mit andern
Mitteln erstrebt, darf man auch in der verrufenen Biegung der
Fassaden erkennen. Auch hier wird eine Scheinbereicherung beabsichtigt,
wenn die Wand sammt all ihrer Decoration auswärts, rund
einwärts oder gar in Wellenform geschwungen wird. Das Auge
hält, zumal beim Anblick von der Seite, die Biegung für
stärker als sie ist, und setzt die ihm durch Verschiebung
unsichtbaren Theile reicher voraus, als sie sind."4
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann die Ablehnung
des Barocken vor den gegenpoligen Hintergründen von Historismus
und aktuellen Tendenzen in Kunst und Wissenschaft aufzuweichen.
Meyers Lexikon von 1885 spricht von erneuten 'starken Neigungen
für Barock und Rokokokunst' seit 1880. Die lebenspraktische
Akzeptanz war allerdings der kunsthistorischen Theoriebildung
voraus: "Der Geschmack des europäischen Publikums am
Barock, nicht nur des deutschen allein, war früher in der
Auseinandersetzung mit dem Barocken begriffen als die Kunstwissenschaft.
Die internationale Aristokratie und das gesamte europäische
Bürgertum hatten längst 'ihren' Barock am Vorbild begriffen
und in die Praxis ihrer künstlerischen und Lebensbedürfnisse
zu übertragen begonnen, ehe die Kunstforschung genügend
Überblick besaß, um auch nur Hauptzüge und Grundsätzlichkeiten
der barocken Kunstentwicklung umreißen zu können."5
Um 1870 wurde der Begriff des 'malerischen' Barockstils wissenschaftlich
geklärt. Der Neubarock entstand zeitgleich mit dem Impressionismus.6 Die grundsätzliche Erörterung der Barockbetrachtung
vollzog 1888 Heinrich Wölfflin mit seiner Veröffentlichung
'Renaissance und Barock'. Auch Wölfflin betrachtete den
Barock von der Renaissance aus, doch er suchte Kategorien zur
positiven Bewertung. Als solche Kategorie führte Wölfflin
den Begriff der Bewegung als ein Hauptmotiv barocken Gestaltens
in die Betrachtung ein, "das Verhältnis von Kraft und
Masse, die Brechung der Formen, die 'Verschnellerung der Linienbewegung'
lassen barocke Gestaltungen als Werdeprozesse, als lebendige
Organismen erscheinen. Die Steigerung der plastischen Mittel,
vor allem das Motiv der Spannung in bewußt unbefriedigenden
Proportionen und Formen des Barocks, das Dynamische in der Unübersehbarkeit
und Unbegrenztheit barocker Räume, wird schließlich
als neuer Erkenntnisfaktor in die Barockbetrachtung eingeführt."7 In der Folge Wölfflins erscheint barockes
Wesen als Formalerlebnis, losgelöst und im vollen Gegensatz
zu Renaissance und Antike. Der Barock wird nicht länger
als ein Derivat der Renaissance angesehen. Aus 'Verfallserscheinungen'
wird ein autonomes künstlerisches Stilphänomen mit
eigenen Charakteristika. Davon ausgehend "mußten Forschung
wie Publikum den Barock nicht nur als etwas epochal gebundenes,
sondern auch als etwas Überzeitliches verstehen, als den
Ausdruck einer künstlerischen Grundhaltung. Damit war der
Anstoß zu einer ungeheuren Ausweitung des Barockerlebnisses
auch für das 20. Jahrhundert gegeben."8
Um 1918 setzt ein erneuter Schub von Barockforschungen ein, die
nicht ohne Reflexionen auf den Durchbruch des Expressionismus
zu verstehen sind. "Nicht nur objektiv meßbare Welten,
sondern subjektiv erlebbare sucht man zu erschließen".9 So bestimmen aktuelle Entwicklungen das Verständnis
historischer Phänomene.
Die Debatten um die Periodisierung des Barock sind Mitte des
20. Jahrhunderts abgeklungen, nicht jedoch das Problem der Abgrenzung
des Barock zum Rokoko. Rokoko war betrachtet worden als eine
letzte Verwucherung der Renaissance, später als ein Ausspielen
barocker Grundideen. Dann wurde versucht, Rokoko als ein eigenes,
zwar der Barockkunst verbundenes, doch letztlich rein dekoratives
Stilphänomen des 18. Jahrhunderts anzusehen. "Rokoko,
so kann man im Sinne dieser Definition immer wieder lesen, ist
eigentlich nur eine Form der Innendekoration, kein 'Stil', der
sich in der Außenarchitektur ausdrückt."10
Das Rokoko, schreibt Sedlmayr, sei in Europa nur eine Möglichkeit
unter vielen anderen gewesen. Doch von einem Hauch des 'esprit
nouveau' sei vieles berührt worden, was dem Rokoko im strengen
Sinne nicht zugerechnet werden könne.11