Ikonologische Deutung des Hauptmotivs anhand eines Mythos
Jungfrau ohne Makel, besagt die Inschrift. Blau ist die Farbe
Marias. Als perlengleich wird die Frucht ihres Leibes angesehen.
Das perlmutterne Schimmern führt auf die Spur eines Mythos,
der im Westen erst seit der Barockzeit bekannt ist. Es ist der
Mythos von der 'Geburt der Perle aus dem Blitz'.1
Gleich den Kristallen, Edelsteinen und den Edelmetallen hat auch
die wundersam erscheinende Vollkommenheit der Perle dazu angeregt,
sie zu transzendieren. Als menschlich wurde ihre Härte angesehen,
als himmlisch ihre Leichtigkeit. Die Perle lehrt "als Spiegel
aus der Natur ... die Verbindung des Entgegengesetzten."2
Der Glaube an die Herkunft der Perle aus einer Hochzeit des Himmels
und der Erde ist seit der Frühzeit des Christentums ohne
Unterbrechung bis ins 18. Jahrhundert immer wieder ausgesprochen
worden. In der frühen Kirche gibt es eine Theologie der
Perle. Der älteste Beleg scheint Clemens von Alexandrien
(geboren um 150) zu gehören: "Eine Perle ist auch der
durchleuchtende und reinste Jesus, den die Jungfrau aus dem göttlichen
Blitz geboren hat. Denn wie die Perle, in Fleisch und Muschel
und Feuchtigkeit geboren, ein Körper ist, feucht und durchscheinend
von Licht und voll von Pneuma, so ist auch der fleischgewordene
Gott-Logos geistiges Licht, hindurchscheinend durch ... Licht
und ... feuchten Körper."3 Das bedeutendste
Zeugnis von der Überlieferung von Blitz und Perle ist die
seit dem 5. oder 6. Jh. unter dem Namen Epräm des Syrers
umlaufende (ihm aber immer wieder abgesprochene) große
Predigt gegen die Häretiker über die Jungfrauengeburt
Marias: "Die Perle ist ein Stein aus Fleisch geboren, denn
aus dem Schaltier kommt sie hervor. Wer kann da länger der
Tatsache Glauben versagen, daß auch Gott aus einem Leibe
als Mensch geboren worden? Jene entstehen nicht durch Begattung
der Schnecken, sondern durch eine Mischung des Blitzes und des
Wassers: also ist auch Christus empfangen in der Jungfrau ohne
Fleischeslust, indem der Heilige Geist aus dem gemischten Stoffe
der Jungfrau für Gott die körperliche Ergänzung
herstellte. Die Perle wird weder als Schnecke geboren, noch tritt
sie wie ein Geist in Scheindasein hervor ..., (sic) sie wird
vielmehr in wesenhafter Existenz ... geboren, ohne darum selbst
einen anderen Stein zu zeugen".4 Die Muschel
ist nichts als ein unverändert bleibendes Medium für
die Entstehung der Perle: "Wenn der Blitzstrahl ins Meer
schlägt, dringt die Mischung von Feuer und Wasser in die
Muschel ein; diese schließt die geöffneten Schalen,
und in dem Schaltier entwickelt sich allmählich die Perle
zu Schönheit und Wert; sie löst sich von dem Tiere
ab, ohne dessen Wesen irgendwie zu verändern oder zu schädigen...
Die keinen Heller werte Schnecke bringt den Stein hervor, der
mehr als viele Talente Goldes wert ist. So hat auch Maria die
keiner Natur vergleichbare Gottheit geboren. Die Muschel erleidet
keinen Schmerz, wenn sie die Perle empfängt, sondern fühlt
nur die Wahrnehmung eines Zugangs. So hat auch Maria Christus
zustimmend empfangen mit Wahrnehmung der ihr zuwachsenden Natur."5
Aus den Epräm zugesprochenen Ausführungen geht hervor,
in welcher Weise die Naturmythe vom Ursprung der Perle aus dem
Himmel "zur Sprachwerdung von solchen Mysterien wie der
Inspiration, der Inkarnation, der unbefleckten Empfängnis
Mariae, der Verkündigung an Maria, um diese theologischen
Themen nur zu nennen"6 gedient hat. Im
Mythos der Unbefleckten Empfängnis nimmt Maria das Wort
des Erzengels Gabriel auf - Gabriel ist es, der in Straubing
auf die Schrifttafel zeigt - und sie gebiert die Perle: "Die
Perle wird empfangen als Wort, um als der Inkarnierte aus Maria
hervorzugehen."7
Der Inkarnierte ist der Vollkommene, für den das vollkommen
erscheinende Naturprodukt Perle eine Entsprechung ist, denn "der
Ursprung des Vollkommenen ist ein Geheimnis. Die Kunst und die
Natur überraschen mit Möglichkeiten des Gelingens von
Vollkommenem, die der Mensch wie Wunder annimmt."8
Vollkommene Gebilde wie Edelsteine, Perlen oder Edelmetalle sind
ein dauernd Schönes neben dem sich durch Geburt erneuernden
Schönen in Mensch, Tier und Pflanze. "Das Dauernde
und das sich Erneuernde bedürfen des Lichtes, um als Schönes
zu erscheinen. Irdisches und Himmlisches müssen sich verbinden."9 Metalle und Steine haben Dauer. Tiere und Menschen
entstehen. Den Menschen überdauern die Gebilde seines Geistes
und seiner Hände: Bauten, Bücher, Kunstwerke. "Im
Falle der Vollkommenheit nimmt man auch sie wie Wunder hin als
durch die Musen oder den Heiligen Geist von oben eingegeben...
Himmlisches und Irdisches erkannte man in ihrem Werk verbunden.
- Die Perle steht zwischen dem Dauernden und dem sich Erneuernden
in der Mitte. Sie kommt nicht wie die Edelsteine aus der Erde,
sondern entstammt dem Meere, bildet als ein bleibend Schönes
sich im unscheinbar Vergänglichen eines niederen Tieres.
Den Ursprung der vollkommenen Perle aus der Muschel des Meeresgrundes
ohne eine Beteiligung des Himmels haben die Völker fast
zwei Jahrtausende sich nicht denken mögen."10
Die Vorstellungen von der Herkunft der Perle aus dem Blitz "lassen
ihren Ursprung gern als nahezu, aber doch nicht gänzlich
wunderbar erscheinen, indem sie die natürlichen Bedingungen
ihres Wachstums oder ihrer Gewinnung an schier übernatürlich
extreme Konstellationen gebunden zu erkennen geben. Der Blitzschlag
in die Muschel ist das Seltene, schier Unwahrscheinliche, das
die Geburt des Vollkommenen aus der Vereinigung des Himmels mit
der Erde an eine Bedingung vom Charakter wie einer Erwählung
bindet. Von einem Menschengeist einmal gefunden und zu einem
Gemeinbesitz geworden, vermögen die Vorstellungen vom Ursprung
der Perle zur Glaubhaftmachung von Wunderbarem beizutragen. Das
geheimnisvolle Naturgeschehen dient als Zeichen für im Reiche
des Verstandes Unbegreifliches, für gleich der Perle Natur
und Übernatur vereinende Erscheinungen der Religion, der
Kunst, eines auserwählten Menschseins. Die Geschichte der
Überlieferungen von der Perle Herkunft und ihrer Transparentmachung
auf einen über sie hinausweisenden Sinn hin endet mit dem
Verlöschen einer Dimension von Wirklichkeit, in der sich
Irdisches und Himmlisches durchdringen."11
Der Mythos von der Geburt der Perle aus dem Blitz zielt auf die
Durchdringung des Irdischen und des Himmlischen. Er kann hier
als Analogie zur Erscheinungsweise der Straubinger Kirche gelesen
werden, in der sich gleichsam 'irdisch konstruierte' und 'himmlisch
visionäre' Räume gegenseitig durchdringen und bekräftigen.