Die Schrift
Der Zwiespalt, den Huxley an den Gegenreformatoren diagnostiziert,
läßt sich in Straubing an der - sich gegenseitig intensivierenden
- Wechselwirkung der disparaten Elemente der Dekoration zeigen.
Das in der Tendenz visionäre Schwindelgefühl, von dem
ich oben gesprochen habe, führt zu einer veränderten
Wahrnehmung der perspektivisch konstruierten Illusionen in den
Fresken. Als entzifferbare Bilder erscheinen sie nunmehr eingebettet
in einen Raum, der Anteil hat an göttlicher Transzendenz.
Angesichts der Ausbreitung des Strahlens im Kirchenraum, das
die Besucher ganz umfängt, glaubt man nun das dargestellte
Himmelslicht. Die Darstellungen werden glaubhaft, ohne daß
die Bilder ihren Charakter als hinweisende Zeichen vollständig
verlören. Sie bleiben kommentarbedürftig: Die Malerei
ist eingebettet zwischen Erlebnisraum und in den Raum eingebrachte
Schrift. Sie ist mit beiden verzahnt über wirklich wirkendes
und dargestelltes Licht. Das Transzendente erscheint auf mehreren
Wirkungs- und Erfahrungsebenen, und es will verschieden gelesen
und erfahren werden. Der transzendente, immaterielle Flimmerraum
wirkt in der Affizierung der Sinne, gleichnishaft lesbar wird
der theologische Gehalt in der Malerei und buchstäblich
entzifferbar im geschriebenen Wort.1 So greifen
gleichsam curricular vermittelte Wissensbestandteile und den
Sinnen vermittelte Erlebnisse in Form verschiedener Vermittlungsstrategien
ineinander und ermöglichen Lern- und Erfahrungsprozesse
der Rezipienten.
Goldfarben - ästhetisch also dem Flimmerraum angehörend
- sind in Trompe-l'il-Manier Worte in den Raum eingefügt.
Die Worte entstammen der Heiligen Schrift. Sie kommentieren und
bezeichnen die Bildsequenzen im Raum - und sie werden geglaubt.
Keines Beweises bedürftig, beweisen sie sich gleichsam selbst,
indem sie erscheinen. Die lateinischen Inschriften, so steht
es im Kirchenführer zu Straubing, sind Aussagen tiefer Gläubigkeit.
SACRAE FAMILIAE SACRUM - der heiligen Familie geweiht - steht
über dem Bild der Heiligen Familie im linken Seitenaltar.
"Unter dem großen Deckenfresko oberhalb der 4 großen
Vasen steht: 'AB ORTU ENIM SOLIS', 'vom Aufgang der Sonne' -
USQUE AD OCCASUM', - 'bis zum Niedergang' - 'MAGNUM NOMEN IN
GENTIBUS', 'ist der Name groß unter den Völkern' -
'ET OFFERTUR OBLATIO MUNDA', 'und es wird ein reines Opfer dargebracht',
und verkündet, daß in diesem Haus das einzige vor
Gott in aller Welt und für alle Zeit gültige Opfer
dargebracht wird, für das diese Kirche erbaut wurde und
erhalten wird."2 Im Deckenfresko, nahe
der Mitte, überreicht der hl. Augustinus einer Ursuline
ein aufgeschlagenes Buch mit dem Text: 'SUB REG S AUG INSTIT
REL VV SOC S URSULAE A PAULO V. P.P. APPRO ANNO MDCXVIII' - Unter
der Regel des heiligen Augustinus sind die Weisungen der gottgeweihten
Jungfrauen von der Gesellschaft der hl. Ursula von Papst Paul
V. im Jahre 1618 approbiert worden. Am östlichen Rande des
Deckenfreskos steht auf einem Dokument, das Papst Paul V. einer
Ursuline überreicht, in goldenen Buchstaben: 'EX TRIBU S
URSULAE UNDECIM MILLIA SIGNATAE' - aus dem Stamm der hl. Ursula
werden 11000 Bezeichnete in den Himmel einziehen.3
So lautet die Verheißung, die hier ganz direkt an die besonderen
Adressaten, die Schwestern und Schülerinnen der Ursulinen,
gerichtet ist. Schließlich erscheint im Zentrum über
dem Hochaltar das Hauptmotiv. In einem von golden gefaßter
Pflanzenornamentik reich umspielten, mehrfach gewölbten,
bläulich perlmuttern schimmernden Feld steht in goldenen
Lettern: VIRGO SINE LABE (Abb.
22).