Die zeitgenössischen Betrachter: Gegenreformatorische
Ästhetik
Von Kardinal Robert Bellarmin erschienen 1586-93 in Ingolstadt
die 'Kontroversen', ein grundlegendes Werk für die kirchliche
Erneuerung nach dem Konzil von Trient. Die katholische Kirche
dient nach Bellarmin dazu, Gott zu opfern. Sie ist Gebetsort,
Aufbewahrungsort für Reliquien der Märtyrer und in
ihr finden Predigt und Sakramentspendung statt. Den Schmuck der
Kirchen rechtfertigt Bellarmin damit, daß der geschmückte
Tempel die Menschen leichter zu frommen Dingen bewege, er bewahre
die Majestät der Sakramente und die schuldige Ehrfurcht:
"Wenn wir einen herrlichen und geschmückten Altar sähen,
würden wir leichter bedenken, daß Gott groß
ist, auch würde der Frömmigkeit und Ehrfurcht auch
der einfachen Leute geholfen."1
Die Geistlichkeit achtete die prachtvolle Ausstattung der Kirchen
nicht gering, wie die Predigt des Maximilianus Franciscus Dominicus
Ecker anläßlich des 1000jähigen Bestehens des
Bistums Freising (das Anlaß für die Barockisierung
des Doms durch die Brüder Asam gewesen war) zeigt. Zwar
steht für Ecker die geistliche Kirche an erster Stelle,
doch folgt daraus keineswegs eine Mißachtung des Kunstwerks.
Der Prediger wendet sich an den Fürstbischof: "Wunderlich
ist es, daß Se. Hochfürstliche Gnaden unser gnädigste
Fürst und Herr in dero noch zarter Jugend ein sonderes Behagen
empfungen abzumahlen die Bildnus des H. Corbiniani, ja selbe
in unserer Closter-Kirchen absonderlich zu verehren, als sie
noch in kleineren Schulen zu München sich befanden: Noch
verwunderlicher ist es, daß Sie nunmehro in dero hochen
und geseegnetem Alter das Leben dies heiligen Corbiniani in gegenwärtig-hocher
Thumb-Kirchen so verwunderlich schön durch einen beruffnen
Kunst-Pembsel entwerffen lassen, daß es ein Lust der einfältigen,
ein Freude der gelehrten, ein Verwunderung der verständigen
und ein allgemeine Approbation, Gutheissung und Lobsprechung
ist aller in disen Tempel eintrettenden... Verwunderen wurde
sich König Salomon über die Kunst und Geschicklichkeit
der zweyen Herren Gebrüderen, dero Händen-Wercke diß
alles ist, was ihr hier sehet und was ihr alhier bewunderet.
Es hatte zwar König Salomon in seinem Tempel verschiedene
Kunststück fecit picturas varias, er hat verschiedene Schildereyen
in seinem Tempel, sagt die Schrifft, doch bestunden solche nur
allein in Cherubinen, Löwen und Palmen-Bäumen: dahingegen
was siehet man alhier vor Erfindungen, Außführungen,
Mannigfältigkeiten, Ein- und Außtheilungen so verschidener
Vorstellungen? Was vortreffliche Haltungen, was Höche und
Stärcke der Coloriten, was liebliche Stellungen, was Correction
an Umbrissen und noch dergleichen Unzahlbares? Dergestalten,
daß wie die Augen also auch die Sinnen darob erstarren
möchten. Der eine aus disen zweyen Gebrüderen [Cosmas
Damian Asam] hat die Præmie oder Preiß aus seines
gleichen oder villmehr über seines gleichen zu Rom genommen
in der Mahler-Kunst, der andre [Egid Quirin Asam] hat es allhier,
ja vielleicht wohl gar in Teutschland darvon getragen in der
Stuckador-Kunst."2
In Eckers Predigt scheinen Grundzüge gegenreformatorischer
Ästhetik auf, wie sie Wolfgang Kemp in seinem einführenden
Aufsatz zur Rezeptionsästhetik in der Kunstwissenschaft
beschreibt.3 Kardinal Gabriele Paleotti veröffentlichte
1582 seine grundlegende Rechtfertigungsschrift über den
Gebrauch der Kunst in der Religion, den 'Discorso intorno alle
imagini'. Paleotti widmete sich besonders dem Verhältnis
Kunst - Publikum und formulierte die Prämisse, daß
die Malerei so beschaffen sein müsse, daß sie den
Geschmack aller auf jeweils entsprechende Weise befriedigt. "Der
Gedanke der Reintegrierung aller Rezipientengruppen zum Zwecke
eines 'allgemeinen Wohlgefallens' ... bringt Paleotti dazu, die
verschiedenen Ansprüche an ein und dasselbe Bild genauer
zu definieren - er bildet dazu vier Klassen von Betrachtern:
die Maler, die Gebildeten, die Ungebildeten und die Geistlichen.
Jede Gruppe müsse in der Malerei 'ihren Teil' wiederfinden:
die Maler die kunstgemäße Darstellung, die Gebildeten
die adäquate Auffassung des Inhalts, die Ungebildeten die
Schönheit, die Geistlichen den 'anagogischen', d.h. fromme
Gedanken und zu Taten stimulierenden Charakter der Malerei."4 Um auch die Augen der Unerfahrenen zur Bewunderung
zu zwingen, postulierte Paleotti die Nachahmung der Wirklichkeit
in einer Weise, daß die täuschende Ähnlichkeit
den Blick verzaubere. Die Selbstdarstellerei der Malerei tadelte
Paleotti.
Die Ausstattung der Klosterkirche St. Ursula entspricht dem gegenreformatorischen
Streben der katholischen Kirche, die Gläubigen anzusprechen
"gemäß der altkirchlichen Auffassung, daß
die Menschen besser über das Auge als über das Ohr
zu beeinflussen seien."5 Die Protestanten
hatten dem geschriebenen Wort magische Kräfte zugeschrieben
und visionäre Ereignisse mißbilligt. Helle Kirchen
wurden gebaut, die das Lesen der Bibel und der Gesangbücher
ermöglichten. "Die Anhänger der Gegenreformation
unter den Katholiken befanden sich in einem Zwiespalt. Sie hielten
zwar das visionäre Erlebnis für etwas Gutes, aber sie
glaubten auch an den unübertrefflichen Wert des gedruckten
Wortes. In den neuen Kirchen wurde nur selten buntes Glas verwendet,
und in vielen der alten wurde es ganz oder teilweise durch farbloses
Glas ersetzt. Das ungedämpfte Licht erlaubte es den Gläubigen,
dem Gottesdienst in ihren Gebetbüchern zu folgen und gleichzeitig
die Werke der neuen Generation von Bildhauern und Architekten
des Barock zu betrachten, die ebenfalls zu Visionen anregten.
Die Werke, die nun eine Entrückung ermöglichten, waren
aus Metall und poliertem Stein. Wohin der Andächtige den
Blick wandte, er sah das Schimmern von Bronze, das üppige
Glänzen farbigen Marmors, das überirdische Weiß
von Statuen."6