SCHLUSS
Nur
dem Anschein nach ist die Zeit ein Fluß.
Sie
ist eher eine grenzenlose Landschaft,
und
was sich bewegt,
ist
das Auge des Betrachters.
Thornton
Wilder
Einzelergebnisse
Die Untersuchung der Konstruktionen und Vermittlungsstrategien
der Kunstwerke hat im Rahmen der Essays zu Ergebnissen geführt,
die eng mit den einzelnen Werken verbunden sind. Wie eingangs
erläutert, habe ich mit der rezeptionsästhetischen
Untersuchung der Werke natur- und geisteswissenschaftliche Entwürfe
verknüpft, die nun als analogiehafte Deutungsmöglichkeiten
die Werke umgeben. Die spezifischen Kombinationen der Analogien
greifen als Verständnismodelle für die erscheinenden
Phänomene nur in den je untersuchten Kontexten. In diesem
Sinne sind die Untersuchungsergebnisse nicht generalisierbar.
Die Auswahl der Modelle resultiert teils aus den Konstruktionsweisen
der Werke, teils aus ihrer Medienspezifik und teils - insbesondere
im Falle der holographischen Werke Boissonnets - aus ihren Vermittlungszielen.
Inwiefern die Wahl der Modelle aus der Erscheinungsweise der
Werke resultierte, sei hier nochmals kurz zusammengefaßt:
Im Falle des Panoramas führte die perspektivische Konstruktionsweise
auf die Spur analogiehafter Verständnismodelle. Die besondere
Weise, in der Mesdag das perspektivische Verfahren einsetzt,
führte zur Untersuchung des perspektivischen Weltbilds.
Damit verbunden sind die Geschichte des Horizonts und das Wahrnehmungsmodell
der Camera obscura.
Im Falle Monets lag es nahe, ausgehend von der malerischen Erscheinungsweise
das zeitgenössische Wahrnehmungsmodell des subjektiven Sehens
zu erläutern. Mit dessen Hilfe kann das Verständnis
der geschauten Phänomene vertieft werden, vor allem im Blick
auf Erfahrungsmöglichkeiten von Rezipienten. Inwiefern Monets
Werk dieses Wahrnehmungsmodell in ganz eigensinniger Weise spiegelt,
erhellte die Erläuterung erweitert verstandener Wahrnehmung.
Schließlich hat die Untersuchung des veränderten Präsentationskontextes
von Monets Seerosen zur Analyse von Rezipientenhaltungen geführt
und zu der sich wandelnden Deutung des Werks.
Im Zusammenhang mit den holographischen Installationen Boissonnets
habe ich ausführlich das holographische Weltbild referiert.
Die enge Verbindung von Boissonnets Werken mit diesem Modell
hängt mit der Wahl seines Mediums zusammen, das schon als
technologisches Verfahren mit dem gegenwärtigen Stand naturwissenschaftlicher
Erkenntnis verbunden ist. Zugleich hängen die Implikationen
des holographischen Universums eng mit den Vermittlungszielen
des Künstlers zusammen. Insofern ist solche Analogiesetzung
nicht auf andere Künstler übertragbar, die mit dem
Medium arbeiten. Im Falle der Holographie, deren Grundlagen und
deren Zusammenhänge mit naturwissenschaftlichen Modellvorstellungen
dem breiten Publikum weitgehend unbekannt sind, schien es sinnvoll,
anhand der Erläuterung dieser Vorstellungen Wege zum tieferen
Verständnis von Boissonnets Werk zu eröffnen.
Der zeitgenössische Mythos von der Geburt der Perle aus
dem Blitz, den ich im Zusammenhang mit der Straubinger Asamkirche
zur Deutung hinzuzog, ist ganz eng mit der Erscheinungsweise
dieser besonderen Kirche verbunden. Die enge Verzahnung der (irdisch)
konstruierten und (himmlisch) visionären Räume, die
so nur in den Werken der Asams vorkommt, legte diese Deutung
nahe. Zugleich ist solche Deutung mit dem gegenwärtig möglichen
Barockverständnis verbunden. Das spiegelt die Erörterung
der Wandlung des Barockbegriffs.
These und Vermittlungsstrategien
Eingangs habe ich die These aufgestellt, bei der Rezeption
von Werken der Kunst sei begriffliches Verstehen von begriffslosem
unterscheidbar. Das eine charakterisierte ich als Nachvollzug
kognitiv beziehungsweise curricular vermittelter Wissensbestände,
das andere als Erlebnis, als Erfahrung in der sich lebensgeschichtliches
Lernen vollzieht. Erkenntnis- und Erfahrungsmöglichkeiten
zeigte ich anhand der Vermittlungsstrategien der Werke.
Die Vermittlungsstrategien sind bestimmt durch mediale Eigenheiten
und durch verwendete Techniken. Als Vermittlungsstrategie im
rezeptionsästhetischen Sinne kann die Einbettung der Werke
in bestimmte Präsentationskontexte gelten, die für
die Deutung von Belang sind. Es hat sich bei der Hinzuziehung
zeitgenössischer und späterer Interpretationen herausgestellt,
daß als Kontext nicht nur die buchstäbliche Umgebung
der Werke gelten kann, sondern zugleich die historische Gegenwart
von Betrachtern. Die Wirkung der Werke wird bestimmt durch ihre
Vermittlungsstrategien und die Art und Weise, wie diese an den
Wissens- und Erfahrungshorizont von Rezipienten anknüpfen.
Zugleich resultiert die Wirkung aus den Wirklichkeitskonstruktionen,
den Erwartungshaltungen und dem Vorwissen, das die Betrachter
mitbringen. Die kulturell bedingten Wahrnehmungsmuster und der
Wissenszusammenhang von Rezipienten verändern sich laufend.
Die Betrachter in ihren historisch veränderlichen Wissens-
und Erfahrungszusammenhängen und mit ihren subjektiven Bildungsgeschichten
bilden im rezeptionsästhetischen Sinne eine wesentliche
Betrachterfunktion für die Werke, so daß deren Vermittlungsstrategien
und -ziele verschiedene Interpretationen erfahren. Verschiedene
Erlebnisse sind zu verschiedenen Zeiten möglich. Insofern
sind Interpretationen und sinnstiftende Aneignungen singular,
und Deutungen sind nur aufgrund der Ähnlichkeiten, die Rezipienten
in bestimmten Kulturkontexten und in bestimmten historischen
Zeiträumen miteinander haben, vorsichtig generalisierbar.
Die Bandbreite möglicher Interpretationen und Lesarten habe
ich versucht, in den Essays zum Vorschein zu bringen.
Verknüpft mit der Palette möglicher Lesarten habe ich
den engeren Blickwinkel, der sich aus meiner eingangs aufgestellten
These ergibt - daß es konstruierte und visionäre Illusionsräume
gibt. Unter diesem Blickwinkel lassen sich Ergebnisse in Bezug
auf den Zusammenhang von Vermittlungsstrategien der Werke und
Erfahrungsmöglichkeiten von Rezipienten formulieren.
Mesdag und der konstruierte Raum: Aktualisierung des ursprünglichen
Vermittlungsziels
Die Vermittlungsstrategien von Mesdags Panorama von Scheveningen
zielten auf überblickende Weltwahrnehmung. Ihre medialen
Fundierungen - die Perspektive und der Horizont - können
als curricular vermittelte Wissensfiguren gelten, die Betrachter
gelernt haben zu lesen als Repräsentationsformen der Wirklichkeit,
die einen gewissen Wahrheitsgehalt in sich tragen. Sie sind nicht
selbstverständlich (für jedes Kind ist es schwer, perspektivisches
Zeichnen zu lernen und als 'richtige' Wiedergabe der Dinge zu
akzeptieren). Inwiefern solche vermittelte Wirklichkeit im Kontrast
steht zu erfahrener Wirklichkeit spiegelten die autobiographischen
Reflexionen von Toonders und Verhoeven, deren Beschreibung der
'gefrorenen Wirklichkeit' im Panorama als bruchhaft erfahrenes
lebensgeschichtliches Lernen gefaßt werden kann.
Seit seiner Entstehung 1881 hat sich zwar nicht das Werk, doch
sein Kontext im urbanen Umfeld wesentlich verändert. Heute
blickt man nicht mehr auf eine stets real verfügbare Szenerie,
sondern auf Vergangenes. Geändert haben sich auch die Sehstrategien
der Betrachter. Angesichts virtueller Computerwelten haben sie
längst gelernt, Illusionsräume, wie das Panorama sie
repräsentiert, als Simulationen zu erkennen und medienkompetent
und -spezifisch damit umzugehen. Die Vermittlungsstrategien von
Mesdags Panorama wirken auch deshalb heute in anderer Weise.
Die Illusion der Wirklichkeit birgt keinen Wahrheitsgehalt mehr.
Vielmehr ermöglicht sie dem aufgeklärten Betrachter
des späten 20. Jahrhunderts die Reflexion seines Sehens
selbst - vielleicht eher als den zeitgenössischen Betrachtern
(denen derartige Reflexionen prinzipiell auch möglich waren).
Die Äußerungen von James Turrell beschreiben den veränderten
Umgang mit dem Medium. Sie können als Aktualisierung der
ursprünglichen Vermittlungsziele gelten. An die Stelle der
Aufnahme von kognitiv faßbaren Inhalten ist die meditative
Versenkung in die Wahrnehmungswirklichkeit getreten. Mesdags
Panorama ermöglicht solche Erfahrungen auch deshalb, weil
die Szenerie in ihrer einfach lesbaren Darstellungsweise besonders
leicht erfaßbar ist.
Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Charakter der im Panorama
vermittelten Illusion sind die Vermittlungsstrategien - Perspektive
und Horizont - maßgeblich als kognitiv fundierte Konstruktionen
benennbar. Insofern erscheint die Illusion im Panorama als konstruierter
Raum, als curriculare Vermittlungsmaschine eines bestimmten Weltbildes.
Der Betrachter als fundamentale Leerstelle verhindert, daß
solche Weltbilder bruchlos vermittelt werden können.
Monet und der visionäre Raum: veränderter Kontext
verändert die Vermittlungsstrategie
Die Vermittlungsstrategien von Monets Nymphéas sind
weniger leicht zu fassen wie die des Panoramas. Die farbigen
Erscheinungen weisen eher auf empatisch geschaute Wirklichkeit,
als daß hier Phänomene in einem vorgeordneten, intellektualisierbaren
Raum verortet würden. Es kann nicht ohne weiteres an curricular
vermittelte und verfügbare Wissensbestände angeknüpft
werden, in die das Sichtbare leicht eingeordnet werden könnte.
Bestimmt man das Gewahrsein der Welt, das ich als erweiterte
Wahrnehmung charakterisiert habe, als Vermittlungsziel Monets,
und begreift man die subtile und komplexe Umsetzung solchen Gewahrseins
als Vermittlungsstrategie, so ist der Nachvollzug für Betrachter
nur erlebnismäßig möglich, als Vollzug einer
sinnlichen Erfahrung.
Solches Erleben zur Grundlage der Rezeption zu machen, ist im
Kontext Kunst nicht selbstverständlich. Die Veränderung
der Rezeptionsweise von Monets Werken spiegelt sich sehr deutlich
im veränderten Kontext, in den die Panneaux seit den sechziger
Jahren eingebunden sind: an die Stelle der Anbindung an den urbanen
Raum und an das Tageslicht mit seinen wechselnden Bedingungen
ist die Präsentation in einem homogenen Raum getreten, der
seinen Ursprung im weißen Galerieraum der Moderne hat.
Die Kunstwissenschaft hat mittlerweile auf solchen Umgang und
seine Folgen für die Deutung von Werken reagiert, indem
deren Kontextgebundenheit innerhalb des rezeptionsästhetischen
Ansatzes thematisiert wird. Inwiefern die vom Kontext isolierte
Präsentation von Werken zugleich die Isolation vom Betrachter
und seinem raumgreifenden Körper zur Folge hatte, zeigten
die Untersuchungen O'Dohertys, der in ironischer Weise den 'white
cube' kritisierte.
Indem man Monets Tafeln analog den gestischen Tafeln der amerikanischen
Malerei der sechziger Jahre rezipierte, glaubte man, den Kontext
der Werke verändern zu dürfen. Die zeitgenössischen
Betrachter dagegen nahmen vielmehr die geschaute Illusion einer
Wasserlandschaft wahr, die teils als phantastisch angesehen wurde,
teils - besonders von Clemenceau - mit zeitgenössischen
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Verbindung gebracht
wurde. Gemeinsam ist den disparaten Interpretationen, daß
die Erscheinungsweise der Tafeln eng mit Monets außerordentlichem
Sehvermögen verbunden wurde. In diesem Sinne kann man von
visionären Illusionsräumen sprechen.
Boissonnet: die Verknüpfung des konstruierten und des
visionären Raums und das Vermittlungsziel des auratischen
Erlebnisses
Komplizierter und komplexer als die Vermittlungsstrategien
und -ziele von Mesdags und Monets Werk sind jene, die aus Philippe
Boissonnets hochtechnologischer, im Grunde konzeptioneller und
gleichwohl visionärer Kunst abgeleitet werden können.
Mit Boissonnets Installationen läßt sich eine Reihe
beschreiben, in der Galileo steht für eine tendenziell
kognitiv basierte Wissensvermittlung. Das zeigte sich im Medium
Stereogramm wie im Motiv des Globusses und den beigefügten
Worten. In-Between steht für eine Wahrnehmung der
Welt, die im Sinne des holographischen Paradigmas als wesentlich
erweitert verstanden werden kann. Doch gibt Boissonnet anhand
der Einfügung von Worten Hinweise, die den Betrachtern die
Anbindung an ihre alltäglichen Kommunikationsstrukturen
ermöglichen. Mit Gaia präsentiert Boissonnet
die Konfrontation zweier Modelle: das sind das wissenschaftlich-konstruierte
(der aufblasbare Erdball und die Stahlstruktur, die die Meridiane
nachbildet stehen dafür) und das mythisch-visionäre
(die Frauenköpfe und der Titel weisen darauf). Letzteres
ist wortlos, wie das auratische Hologramm in In-Between.
Die singulare, nur symbolisch mitteilbare Ereignishaftigkeit,
die allen drei interaktiven Installationen wesentlich immanent
ist, ist deutlichste Vermittlungsstrategie für solches Vermittlungsziel.
In den Installationen Boissonnets greifen in besonderer Weise
kognitive Wissensvermittlung und Erfahrungspotentiale ineinander.
Boissonnet vermittelt - curricular könnte man sagen - abstrakte
Erkenntnisse der neueren Naturwissenschaften, indem er Phänomene
wie das der Delokalisierung inszeniert. Die zunächst leicht
erfaßbaren holographischen Erscheinungen knüpfen an
die gewohnten Rezeptionsweisen von Betrachtern an, irritieren
jedoch zugleich durch eine Vielzahl von Ambivalenzen (die gleichzeitige
An- und Abwesenheit holographischer Erscheinungen beispielsweise).
Derartige Irritationen dienen im Werk Boissonnets als Vermittlungsstrategien,
die Betrachtern die Reflexion ihrer Alltagswahrnehmung ermöglichen.
Die performative Rezeptionsweise, die seine Inszenierungen nahelegen,
ist nur erlebnishaft vollziehbar.
Doch bleibt es nicht beim Nebeneinander von curricular Vermitteltem
und lebensgeschichtlich Erfahrenem. Die theoretischen Konzepte,
die Boissonnets Kunst analog sind, reflektieren das Verhältnis
von Wissen und Erfahrung, von den Grenzen des objektiv Bestimmbaren
und der grundlegenden Rolle von Betrachtern, von der Beschränktheit
des Denkens und der fundamentalen Einheit der Erfahrungswelt,
die uns erlebnismäßig zugänglich sein kann. Die
Äußerungen von Bohm und Grof gaben Hinweise auf ein
partizipatorisches Wissenschaftsverständnis. In Verbindung
mit Boissonnets Werk erzeugt solches Verständnis neuartige
Vermittlungsstrategien im Blick auf mögliche Erfahrungen
von Betrachtern. Dieses Erleben habe ich als auratisch bezeichnet.
Damit wird nicht das Erlebnis transzendiert, sondern das Auratische
im gegenwärtigen Erleben verortet.
Gebrüder Asam: die Verknüpfung des konstruierten
und des visionären Raums. Aktualisierung der zeitgenössischen
Vermittlungsstrategien
Die ineinandergreifenden Rezeptionsangebote von kognitiv Lesbarem
und erlebnismäßig Erfahrbarem bietet auch der Kirchenraum
der Gebrüder Asam. Die Vermittlungsstrategien in Straubing
knüpfen an die Forderungen der gegenreformatorischen Ästhetik
an, indem theologische Gehalte in Wort und Bild präsentiert
werden und zugleich in der sinnenaffizierenden Ausstattung des
Gesamtraums aufscheinen. Auf beiden Ebenen geht es um die Verankerung
des Heilsgeschehens im Betrachter. Als curriculares Angebot kann
man die perspektivisch konstruierten Illusionsräume in den
Fresken bezeichnen. Als visionären Erlebnisraum die flimmernde
Lichtgestalt des Gesamtraums. Verbunden sind beide Räume
durch die golden schimmernden Worte. Im subtilen Ineinandergreifen
aller Elemente bestärken sich die Einzelelemente gegenseitig:
Das flimmernde Licht bekräftigt das Wort, das Wort lenkt
die Wirkung des Lichts in die gewollte theologische Richtung.
Heute hat der Kirchenraum nichts von seiner überwältigenden
und sinnesaffizierenden Kraft verloren. Verändert hat sich
der Glaubenskontext vieler Besucher, und verändert hat sich
der kunst- und naturwissenschaftliche Blickwinkel auf das Phänomen.
Weniger mit der Lichtmetaphysik vergangener Jahrhunderte wird
nun die Wirkung des barocken Flimmerraums verbunden, sondern
sie kann in Beziehung gesetzt werden zu aktuellen naturwissenschaftlichen
Erkenntnissen, die ihrerseits Verbindung zu einer mystischen
Dimension suchen. Solche Veränderung der Aneignung barocker
Werke spiegelten die Äußerungen des Kunsthistorikers
Eberhard Roters, der sich im Zusammenhang mit holographischer
Kunst zu barocken Phänomenen äußerte. Insofern
kann die dichte Beschreibung des Phänomens in Straubing
als aktualisierende Deutung der gefundenen Vermittlungsstrategien
gelten, nicht aber als Interpretation, die zeitgenössischen
Sinn freilegte.
Kunstwissenschaft und Naturwissenschaft: Versuch einer Kommunikation
Die Untersuchung der holographischen Installationen Boissonnets
und die Untersuchung der Straubinger Kirche zeigten beide eine
Nähe der Werke zum Mystischen und zum Spirituellen. Das
sind Bereiche, die von einer positivistischen Kunstwissenschaft
gewöhnlich ausgeklammert werden. Hans Sedlmayr hat in seiner
Schrift 'Das Licht in seinen künstlerischen Manifestationen'
darauf hingewiesen, daß die Entkleidung historischer Werke
von ihrer spirituellen Lichttransparenz hieße, die Werke
zu verstümmeln. Sedlmayr meinte, nur eine erneute Hinwendung
der Philosophie und Phänomenologie zur Ontologie des Lichts
schüfe Raum für das Spirituelle, und er wendete sich
gegen ein positivistisches Verständnis des Lichts: "Der
Glaube, daß man eine Lichttheorie rein von den Erfahrungen
der neuen Physik aufbauen könnte," schreibt Sedlmayr
1960, "ist erschüttert. Nicht nur die Theorie der Zeit,
auch die Theorie des Lichts ist bei einem Philosophen ein Tiefenmesser
seines Geistes. Erst von einer solchen Theorie können an
die Geschichte der Kunst die fruchtbaren Fragen herangetragen
werden."1
Der Zusammenhang von naturwissenschaftlichen Modellvorstellungen
und geisteswissenschaftlichen Interpretationsmodellen ist in
meinen Untersuchungen wiederholt gestreift worden. Der Physiologe
Helmholtz hat die Untersuchung der Art und Weise, wie unsere
Sinneswahrnehmungen zustande kommen, für wesentlich gehalten
für theoretische Einsichten in die Leistungen der Bildenden
Kunst und ihre Verfahrensweisen. Seinen Aufsatz 'Die neueren
Fortschritte in der Theorie des Sehens' von 1868 leitete Helmholtz
so ein: "Die Physiologie der Sinne bildet ein Grenzgebiet,
wo die beiden grossen Abtheilungen menschlichen Wissens, welche
man unter dem Namen der Natur- und Geisteswissenschaften zu scheiden
pflegt, wechselseitig in einander greifen, wo sich Probleme aufdrängen,
welche beide gleich sehr interessiren, und welche auch nur durch
die gemeinsame Arbeit beider zu lösen sind."2
Eine bemerkenswerte Parallele zu Helmholtz liegt darin, daß
der Kunstwissenschaftler Gottfried Boehm 1997 schrieb, er hoffe,
die Rede von der subjektiven Interpretation visueller Reize könne
dazu helfen, "die alte Kontroverse bzw. Gesprächsunfähigkeit
zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer historischen
Erörterung des gleichen visuellen Vorganges langsam zu beheben".3
Wissenschaftliche Methodik und Erlebnis: Versuch einer Integration
Möglich wird solches Gespräch, wenn die Horizonte
von Teilwissenschaften überschritten werden, und ich habe
deshalb im Rahmen der Einzeluntersuchungen immer wieder versucht,
Verbindungen zwischen disparaten Betrachtungsweisen herzustellen.
Hilfreich war dabei, daß natur- und geisteswissenschaftliche
Wissenschaftsbereiche ihrerseits solche Verbindungen in ihren
methodischen Rahmen integriert haben: das ist die Ethnomethodologie
im Bereich der Geisteswissenschaft, und das sind die physikalischen
und psychologischen Modelle im Zusammenhang mit dem holographischen
Universum. Diese Modelle sind partizipatorisch und in ihnen ist
die Verbindung zum alltäglich gelebten Leben und den darin
gemachten Erfahrungen berücksichtigt, die in engerem Methodenverständnis
oft unbeachtet bleiben müssen, da sie mit dem erlaubten
Methodenbesteck nicht erfaßt werden können. Für
Künstler sind solche Grenzen nicht von Belang. Die pädagogische
Sichtweise, die ich für die Erfassung solch lebensgeschichtlichen
Lernens zu Hilfe nahm, ermöglicht die Zusammenschau von
curricularen Lehrinhalten und ebenso sinnstiftenden Erfahrungen
in ganz anderen Kontexten, hier in dem der Kunst.
Mit solchem Theorieverständnis einher geht, daß der
methodische Rahmen relativ nachgiebig sein muß, denn anders
können in hohem Maße subjektive Erfahrungen und Interpretationen
nicht aufgenommen werden. Derartige Äußerungen scheinen
jedoch für Individuen sinnstiftend zu sein, denn hier scheint
die Verbindung auf zwischen rationalem Modellentwurf und emotionalem
Erleben. Der Ethnologe Hans Peter Duerr sieht in der Trennung
streng wissenschaftlicher Methodik vom erlebten Leben den Grund
für die Überschreitung streng methodischer Verfahrensweisen:
"Das, was heutzutage gerne 'kritische Selbstreflexion' genannt
wird", schreibt Duerr in 'Traumzeit', "... hat durch
seine Folgenlosigkeit für unser Leben und für unsere
Erfahrung zu einem solchen Überdruß geführt,
daß die neuerliche Hinwendung zu einer verhältnismäßig
'theoriefreien' Wissenschaft verständlich wird."4 Im Zusammenhang mit den Theorien des holographischen
Universums bedeutet 'theoriefrei' gerade nicht unreflektiert.
Vielmehr werden Grenzen des dem vernunftmäßigen Denken
Zugänglichen formuliert, und denkend nicht überschritten,
sondern wesensmäßig erlebnishafter 'Einsicht' gegenübergestellt.
Ergebnis und Fazit
In dieser Arbeit bin ich zu folgendem, thesenartig formulierbaren
Ergebnis gekommen: Kunstwerke, deren Vermittlungsstrategien sowohl
auf kognitiv vermittelbare Wissensgehalte als auch auf erlebnismäßige
Erfahrung gerichtet sind, ermöglichen mehr als andere lebensgeschichtliches
Lernen und zugleich die Reflexion curricular vermittelten Wissens.
Solches Lernen vermag erst die bestätigende Funktion von
bereitgehaltenen Deutungsmustern zu überschreiten. In solchem
Lernen erst kann der Gefahr begegnet werden, das Irreduzible
der Kunstwerke in einsinniger Interpretation verkümmern
zu lassen. In der Einleitung schrieb ich, daß in der Wirklichkeit
von Subjekten kognitiv erworbenes von lebensgeschichtlich erfahrenem
Wissen nicht vollständig getrennt ist. Beides greift ineinander,
beeinflußt sich gegenseitig und bildet zusammen den gesamten
Wissens- und Erfahrungszusammenhang aus. Für diesen Zusammenhang
sind Werke, in denen beide Vermittlungsstränge zusammenlaufen,
gleichsam Spiegel.
Damit einher geht, daß das Erfahrene und Erlernte nicht
vollständig in Worte überführt werden kann, und
es ist nicht leicht, derartige Unmöglichkeit nicht als Mangel,
sondern als Zugewinn zu betrachten. "In einer Welt, in der
Erziehung und Unterricht vorwiegend durch Sprache erfolgen,"
schreibt Huxley, "finden es hochgebildete Menschen fast
ganz unmöglich, irgend etwas anderem als Worten und Begriffen
ernste Aufmerksamkeit zu widmen... Die Gefühle des Menschen,
die sich nicht so leicht in Worten ausdrücken lassen, die
Fähigkeit, die Gegebenheiten unserer Existenz unmittelbar
wahrzunehmen, bleiben fast völlig unbeachtet."5
Der Physiologe Helmholtz hat wortlose Erkenntnis als 'Kennen'
positiv bestimmt und nachdrücklich betont, daß er
die verschiedenartigen Formen des Wissenserwerbs und der Erkenntnis
nicht hierarchisch auffaßt: "Der Unterschied zwischen
den Schlüssen der Logiker und den Inductionsschlüssen,
deren Resultat in den durch die Sinnesempfindungen gewonnenen
Anschauungen der Aussenwelt zu Tage kommt, scheint mir in der
That nur ein äusserlicher zu sein, und hauptsächlich
darin zu bestehen, dass jene ersteren des Ausdrucks in Worten
fähig sind, letztere nicht, weil bei ihnen statt der Worte
nur die Empfindungen und die Erinnerungsbilder der Empfindungen
eintreten. Eben darin, dass die letzteren sich nicht in Worten
beschreiben lassen, liegt aber auch die grosse Schwierigkeit,
von diesem ganzen Gebiete von Geistesoperationen überhaupt
nur zu reden."6 Trotz dieser Schwierigkeiten
halte ich es für notwendig, lebensgeschichtliches, in hohem
Maße subjektives und singulares Lernen als sinnkonstituierend
zu begreifen, und unter Zuhilfenahme aller in diesem Zusammenhang
erfolgsversprechenden Methoden und Äußerungen zu versuchen,
solche Erfahrungen anzusprechen und damit diskursfähig werden
zu lassen.
Ausblick
Die eigentliche Schwierigkeit, tiefgreifende lebensgeschichtliche
Erfahrungen zu erfassen, liegt darin, daß oft der kulturell
bestimmte, allgemein anerkannte und geteilte zivilisatorische
Rahmen überschritten wird.
Hans Peter Duerr hat im ethnologischen Zusammenhang ausgeführt,
daß Psychiater in den meisten Fällen die Grenzen,
welche die moderne Zivilisation zwischen sich und der Wildnis
zieht, mit den Grenzen zwischen Wirklichkeit und Schein gleichsetzen.
Duerr beschreibt anhand der Gebräuche heutiger Naturvölker
eine 'archaischere' Einstellung: Jenseits zivilisatorischer Grenzen
liegt für die Bakweri am Kamerun-Berg die Welt der Seejungfrauen.
Die Männer züchten innerhalb eines Zaunes das Vieh,
während die Frauen draußen anpflanzen und Brennholz
holen. Wenn eine Frau von einem Geisterwesen besessen wird, verläßt
sie den Bereich der Kultur und wird zu einer Seejungfrau. Sie
spricht mit den anderen Frauen die den Männern unverständliche
Sprache der Seejungfrauen, sie sei völlig wild geworden.
"Weil sie aber rituell, d.h. mit Bewußtsein
wild geworden ist, ist sie der Wildnis zugleich nicht ausgeliefert.
Jetzt erst, nachdem sie draußen gewesen ist, ist sie bereit
zum Drinnen: Sie ist nun kulturfähig in einem viel elementareren
Sinne."7 Duerr glaubt, daß nur der,
der das 'Draußen' erlebt hat, imstande ist, wahrhaft zivilisiert
zu sein. Ein Lernprozeß, der sich außerhalb curricular
organisierter Strukturen vollzieht, ermöglicht die Reflexion
dieser Strukturen und ermöglicht vielleicht erst den kompetenten
Umgang mit ihnen.
Im Zusammenhang mit den von mir untersuchten Kunstwerken liegt
jenseits kulturell festgelegter Codes ihr mythisches, mystisches
und visionäres Potential, all das Irreduzible, das auf partizipatorischer
Teilnahme an der Erscheinungswelt basiert. Faßt man Kulturtechniken,
wie beispielsweise die perspektivische Konstruktion, als gesellschaftliche
Konstrukte, so geht das Visionäre in den Konstrukten nicht
auf, noch kann es mit ihnen vollständig erfaßt werden.
Das mag der Grund sein, weshalb die Gebrüder Asam die perspektivisch
konstruierten Illusionen in den umfassenderen flimmernden Lichtraum
einbetteten. Die Erfahrung dieses Raums ist irreduzibel. Als
Vermittlungsstrategie knüpft sie an bereits vollzogene Erfahrungen
in der gelebten Wirklichkeit an, und als Modell verstanden kann
sie die Erfahrungen in der Wirklichkeit der Möglichkeit
nach erweitern und vertiefen. Solche Möglichkeit wird durch
die Anknüpfung an curricular vermittelte Wissensbestände
der Reflexion zugänglich und zugleich bedeutsam für
den Bildungsgang des Individuums - vorausgesetzt, die reflektierte
Erfahrung wird mit der Erfahrung selbst nicht verwechselt. "Rechte
Erfahrung", schreibt Prentice Mulford, "ist
das, was man vergessen hat."8