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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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SCHLUSS

 

 

                                                                          Nur dem Anschein nach ist die Zeit ein Fluß.
                                                                          Sie ist eher eine grenzenlose Landschaft,
                                                                         und was sich bewegt,
                                                                         ist das Auge des Betrachters.
                  
                                                                                                                          Thornton Wilder

 

Einzelergebnisse

Die Untersuchung der Konstruktionen und Vermittlungsstrategien der Kunstwerke hat im Rahmen der Essays zu Ergebnissen geführt, die eng mit den einzelnen Werken verbunden sind. Wie eingangs erläutert, habe ich mit der rezeptionsästhetischen Untersuchung der Werke natur- und geisteswissenschaftliche Entwürfe verknüpft, die nun als analogiehafte Deutungsmöglichkeiten die Werke umgeben. Die spezifischen Kombinationen der Analogien greifen als Verständnismodelle für die erscheinenden Phänomene nur in den je untersuchten Kontexten. In diesem Sinne sind die Untersuchungsergebnisse nicht generalisierbar. Die Auswahl der Modelle resultiert teils aus den Konstruktionsweisen der Werke, teils aus ihrer Medienspezifik und teils - insbesondere im Falle der holographischen Werke Boissonnets - aus ihren Vermittlungszielen. Inwiefern die Wahl der Modelle aus der Erscheinungsweise der Werke resultierte, sei hier nochmals kurz zusammengefaßt:

Im Falle des Panoramas führte die perspektivische Konstruktionsweise auf die Spur analogiehafter Verständnismodelle. Die besondere Weise, in der Mesdag das perspektivische Verfahren einsetzt, führte zur Untersuchung des perspektivischen Weltbilds. Damit verbunden sind die Geschichte des Horizonts und das Wahrnehmungsmodell der Camera obscura.

Im Falle Monets lag es nahe, ausgehend von der malerischen Erscheinungsweise das zeitgenössische Wahrnehmungsmodell des subjektiven Sehens zu erläutern. Mit dessen Hilfe kann das Verständnis der geschauten Phänomene vertieft werden, vor allem im Blick auf Erfahrungsmöglichkeiten von Rezipienten. Inwiefern Monets Werk dieses Wahrnehmungsmodell in ganz eigensinniger Weise spiegelt, erhellte die Erläuterung erweitert verstandener Wahrnehmung. Schließlich hat die Untersuchung des veränderten Präsentationskontextes von Monets Seerosen zur Analyse von Rezipientenhaltungen geführt und zu der sich wandelnden Deutung des Werks.

Im Zusammenhang mit den holographischen Installationen Boissonnets habe ich ausführlich das holographische Weltbild referiert. Die enge Verbindung von Boissonnets Werken mit diesem Modell hängt mit der Wahl seines Mediums zusammen, das schon als technologisches Verfahren mit dem gegenwärtigen Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis verbunden ist. Zugleich hängen die Implikationen des holographischen Universums eng mit den Vermittlungszielen des Künstlers zusammen. Insofern ist solche Analogiesetzung nicht auf andere Künstler übertragbar, die mit dem Medium arbeiten. Im Falle der Holographie, deren Grundlagen und deren Zusammenhänge mit naturwissenschaftlichen Modellvorstellungen dem breiten Publikum weitgehend unbekannt sind, schien es sinnvoll, anhand der Erläuterung dieser Vorstellungen Wege zum tieferen Verständnis von Boissonnets Werk zu eröffnen.

Der zeitgenössische Mythos von der Geburt der Perle aus dem Blitz, den ich im Zusammenhang mit der Straubinger Asamkirche zur Deutung hinzuzog, ist ganz eng mit der Erscheinungsweise dieser besonderen Kirche verbunden. Die enge Verzahnung der (irdisch) konstruierten und (himmlisch) visionären Räume, die so nur in den Werken der Asams vorkommt, legte diese Deutung nahe. Zugleich ist solche Deutung mit dem gegenwärtig möglichen Barockverständnis verbunden. Das spiegelt die Erörterung der Wandlung des Barockbegriffs.

 

These und Vermittlungsstrategien

Eingangs habe ich die These aufgestellt, bei der Rezeption von Werken der Kunst sei begriffliches Verstehen von begriffslosem unterscheidbar. Das eine charakterisierte ich als Nachvollzug kognitiv beziehungsweise curricular vermittelter Wissensbestände, das andere als Erlebnis, als Erfahrung in der sich lebensgeschichtliches Lernen vollzieht. Erkenntnis- und Erfahrungsmöglichkeiten zeigte ich anhand der Vermittlungsstrategien der Werke.

Die Vermittlungsstrategien sind bestimmt durch mediale Eigenheiten und durch verwendete Techniken. Als Vermittlungsstrategie im rezeptionsästhetischen Sinne kann die Einbettung der Werke in bestimmte Präsentationskontexte gelten, die für die Deutung von Belang sind. Es hat sich bei der Hinzuziehung zeitgenössischer und späterer Interpretationen herausgestellt, daß als Kontext nicht nur die buchstäbliche Umgebung der Werke gelten kann, sondern zugleich die historische Gegenwart von Betrachtern. Die Wirkung der Werke wird bestimmt durch ihre Vermittlungsstrategien und die Art und Weise, wie diese an den Wissens- und Erfahrungshorizont von Rezipienten anknüpfen. Zugleich resultiert die Wirkung aus den Wirklichkeitskonstruktionen, den Erwartungshaltungen und dem Vorwissen, das die Betrachter mitbringen. Die kulturell bedingten Wahrnehmungsmuster und der Wissenszusammenhang von Rezipienten verändern sich laufend. Die Betrachter in ihren historisch veränderlichen Wissens- und Erfahrungszusammenhängen und mit ihren subjektiven Bildungsgeschichten bilden im rezeptionsästhetischen Sinne eine wesentliche Betrachterfunktion für die Werke, so daß deren Vermittlungsstrategien und -ziele verschiedene Interpretationen erfahren. Verschiedene Erlebnisse sind zu verschiedenen Zeiten möglich. Insofern sind Interpretationen und sinnstiftende Aneignungen singular, und Deutungen sind nur aufgrund der Ähnlichkeiten, die Rezipienten in bestimmten Kulturkontexten und in bestimmten historischen Zeiträumen miteinander haben, vorsichtig generalisierbar. Die Bandbreite möglicher Interpretationen und Lesarten habe ich versucht, in den Essays zum Vorschein zu bringen.

Verknüpft mit der Palette möglicher Lesarten habe ich den engeren Blickwinkel, der sich aus meiner eingangs aufgestellten These ergibt - daß es konstruierte und visionäre Illusionsräume gibt. Unter diesem Blickwinkel lassen sich Ergebnisse in Bezug auf den Zusammenhang von Vermittlungsstrategien der Werke und Erfahrungsmöglichkeiten von Rezipienten formulieren.

 

Mesdag und der konstruierte Raum: Aktualisierung des ursprünglichen Vermittlungsziels

Die Vermittlungsstrategien von Mesdags Panorama von Scheveningen zielten auf überblickende Weltwahrnehmung. Ihre medialen Fundierungen - die Perspektive und der Horizont - können als curricular vermittelte Wissensfiguren gelten, die Betrachter gelernt haben zu lesen als Repräsentationsformen der Wirklichkeit, die einen gewissen Wahrheitsgehalt in sich tragen. Sie sind nicht selbstverständlich (für jedes Kind ist es schwer, perspektivisches Zeichnen zu lernen und als 'richtige' Wiedergabe der Dinge zu akzeptieren). Inwiefern solche vermittelte Wirklichkeit im Kontrast steht zu erfahrener Wirklichkeit spiegelten die autobiographischen Reflexionen von Toonders und Verhoeven, deren Beschreibung der 'gefrorenen Wirklichkeit' im Panorama als bruchhaft erfahrenes lebensgeschichtliches Lernen gefaßt werden kann.

Seit seiner Entstehung 1881 hat sich zwar nicht das Werk, doch sein Kontext im urbanen Umfeld wesentlich verändert. Heute blickt man nicht mehr auf eine stets real verfügbare Szenerie, sondern auf Vergangenes. Geändert haben sich auch die Sehstrategien der Betrachter. Angesichts virtueller Computerwelten haben sie längst gelernt, Illusionsräume, wie das Panorama sie repräsentiert, als Simulationen zu erkennen und medienkompetent und -spezifisch damit umzugehen. Die Vermittlungsstrategien von Mesdags Panorama wirken auch deshalb heute in anderer Weise. Die Illusion der Wirklichkeit birgt keinen Wahrheitsgehalt mehr. Vielmehr ermöglicht sie dem aufgeklärten Betrachter des späten 20. Jahrhunderts die Reflexion seines Sehens selbst - vielleicht eher als den zeitgenössischen Betrachtern (denen derartige Reflexionen prinzipiell auch möglich waren). Die Äußerungen von James Turrell beschreiben den veränderten Umgang mit dem Medium. Sie können als Aktualisierung der ursprünglichen Vermittlungsziele gelten. An die Stelle der Aufnahme von kognitiv faßbaren Inhalten ist die meditative Versenkung in die Wahrnehmungswirklichkeit getreten. Mesdags Panorama ermöglicht solche Erfahrungen auch deshalb, weil die Szenerie in ihrer einfach lesbaren Darstellungsweise besonders leicht erfaßbar ist.

Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Charakter der im Panorama vermittelten Illusion sind die Vermittlungsstrategien - Perspektive und Horizont - maßgeblich als kognitiv fundierte Konstruktionen benennbar. Insofern erscheint die Illusion im Panorama als konstruierter Raum, als curriculare Vermittlungsmaschine eines bestimmten Weltbildes. Der Betrachter als fundamentale Leerstelle verhindert, daß solche Weltbilder bruchlos vermittelt werden können.

 

Monet und der visionäre Raum: veränderter Kontext verändert die Vermittlungsstrategie

Die Vermittlungsstrategien von Monets Nymphéas sind weniger leicht zu fassen wie die des Panoramas. Die farbigen Erscheinungen weisen eher auf empatisch geschaute Wirklichkeit, als daß hier Phänomene in einem vorgeordneten, intellektualisierbaren Raum verortet würden. Es kann nicht ohne weiteres an curricular vermittelte und verfügbare Wissensbestände angeknüpft werden, in die das Sichtbare leicht eingeordnet werden könnte. Bestimmt man das Gewahrsein der Welt, das ich als erweiterte Wahrnehmung charakterisiert habe, als Vermittlungsziel Monets, und begreift man die subtile und komplexe Umsetzung solchen Gewahrseins als Vermittlungsstrategie, so ist der Nachvollzug für Betrachter nur erlebnismäßig möglich, als Vollzug einer sinnlichen Erfahrung.

Solches Erleben zur Grundlage der Rezeption zu machen, ist im Kontext Kunst nicht selbstverständlich. Die Veränderung der Rezeptionsweise von Monets Werken spiegelt sich sehr deutlich im veränderten Kontext, in den die Panneaux seit den sechziger Jahren eingebunden sind: an die Stelle der Anbindung an den urbanen Raum und an das Tageslicht mit seinen wechselnden Bedingungen ist die Präsentation in einem homogenen Raum getreten, der seinen Ursprung im weißen Galerieraum der Moderne hat. Die Kunstwissenschaft hat mittlerweile auf solchen Umgang und seine Folgen für die Deutung von Werken reagiert, indem deren Kontextgebundenheit innerhalb des rezeptionsästhetischen Ansatzes thematisiert wird. Inwiefern die vom Kontext isolierte Präsentation von Werken zugleich die Isolation vom Betrachter und seinem raumgreifenden Körper zur Folge hatte, zeigten die Untersuchungen O'Dohertys, der in ironischer Weise den 'white cube' kritisierte.

Indem man Monets Tafeln analog den gestischen Tafeln der amerikanischen Malerei der sechziger Jahre rezipierte, glaubte man, den Kontext der Werke verändern zu dürfen. Die zeitgenössischen Betrachter dagegen nahmen vielmehr die geschaute Illusion einer Wasserlandschaft wahr, die teils als phantastisch angesehen wurde, teils - besonders von Clemenceau - mit zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Verbindung gebracht wurde. Gemeinsam ist den disparaten Interpretationen, daß die Erscheinungsweise der Tafeln eng mit Monets außerordentlichem Sehvermögen verbunden wurde. In diesem Sinne kann man von visionären Illusionsräumen sprechen.

 

Boissonnet: die Verknüpfung des konstruierten und des visionären Raums und das Vermittlungsziel des auratischen Erlebnisses

Komplizierter und komplexer als die Vermittlungsstrategien und -ziele von Mesdags und Monets Werk sind jene, die aus Philippe Boissonnets hochtechnologischer, im Grunde konzeptioneller und gleichwohl visionärer Kunst abgeleitet werden können. Mit Boissonnets Installationen läßt sich eine Reihe beschreiben, in der Galileo steht für eine tendenziell kognitiv basierte Wissensvermittlung. Das zeigte sich im Medium Stereogramm wie im Motiv des Globusses und den beigefügten Worten. In-Between steht für eine Wahrnehmung der Welt, die im Sinne des holographischen Paradigmas als wesentlich erweitert verstanden werden kann. Doch gibt Boissonnet anhand der Einfügung von Worten Hinweise, die den Betrachtern die Anbindung an ihre alltäglichen Kommunikationsstrukturen ermöglichen. Mit Gaia präsentiert Boissonnet die Konfrontation zweier Modelle: das sind das wissenschaftlich-konstruierte (der aufblasbare Erdball und die Stahlstruktur, die die Meridiane nachbildet stehen dafür) und das mythisch-visionäre (die Frauenköpfe und der Titel weisen darauf). Letzteres ist wortlos, wie das auratische Hologramm in In-Between. Die singulare, nur symbolisch mitteilbare Ereignishaftigkeit, die allen drei interaktiven Installationen wesentlich immanent ist, ist deutlichste Vermittlungsstrategie für solches Vermittlungsziel.

In den Installationen Boissonnets greifen in besonderer Weise kognitive Wissensvermittlung und Erfahrungspotentiale ineinander. Boissonnet vermittelt - curricular könnte man sagen - abstrakte Erkenntnisse der neueren Naturwissenschaften, indem er Phänomene wie das der Delokalisierung inszeniert. Die zunächst leicht erfaßbaren holographischen Erscheinungen knüpfen an die gewohnten Rezeptionsweisen von Betrachtern an, irritieren jedoch zugleich durch eine Vielzahl von Ambivalenzen (die gleichzeitige An- und Abwesenheit holographischer Erscheinungen beispielsweise). Derartige Irritationen dienen im Werk Boissonnets als Vermittlungsstrategien, die Betrachtern die Reflexion ihrer Alltagswahrnehmung ermöglichen. Die performative Rezeptionsweise, die seine Inszenierungen nahelegen, ist nur erlebnishaft vollziehbar.

Doch bleibt es nicht beim Nebeneinander von curricular Vermitteltem und lebensgeschichtlich Erfahrenem. Die theoretischen Konzepte, die Boissonnets Kunst analog sind, reflektieren das Verhältnis von Wissen und Erfahrung, von den Grenzen des objektiv Bestimmbaren und der grundlegenden Rolle von Betrachtern, von der Beschränktheit des Denkens und der fundamentalen Einheit der Erfahrungswelt, die uns erlebnismäßig zugänglich sein kann. Die Äußerungen von Bohm und Grof gaben Hinweise auf ein partizipatorisches Wissenschaftsverständnis. In Verbindung mit Boissonnets Werk erzeugt solches Verständnis neuartige Vermittlungsstrategien im Blick auf mögliche Erfahrungen von Betrachtern. Dieses Erleben habe ich als auratisch bezeichnet. Damit wird nicht das Erlebnis transzendiert, sondern das Auratische im gegenwärtigen Erleben verortet.

 

Gebrüder Asam: die Verknüpfung des konstruierten und des visionären Raums. Aktualisierung der zeitgenössischen Vermittlungsstrategien

Die ineinandergreifenden Rezeptionsangebote von kognitiv Lesbarem und erlebnismäßig Erfahrbarem bietet auch der Kirchenraum der Gebrüder Asam. Die Vermittlungsstrategien in Straubing knüpfen an die Forderungen der gegenreformatorischen Ästhetik an, indem theologische Gehalte in Wort und Bild präsentiert werden und zugleich in der sinnenaffizierenden Ausstattung des Gesamtraums aufscheinen. Auf beiden Ebenen geht es um die Verankerung des Heilsgeschehens im Betrachter. Als curriculares Angebot kann man die perspektivisch konstruierten Illusionsräume in den Fresken bezeichnen. Als visionären Erlebnisraum die flimmernde Lichtgestalt des Gesamtraums. Verbunden sind beide Räume durch die golden schimmernden Worte. Im subtilen Ineinandergreifen aller Elemente bestärken sich die Einzelelemente gegenseitig: Das flimmernde Licht bekräftigt das Wort, das Wort lenkt die Wirkung des Lichts in die gewollte theologische Richtung.

Heute hat der Kirchenraum nichts von seiner überwältigenden und sinnesaffizierenden Kraft verloren. Verändert hat sich der Glaubenskontext vieler Besucher, und verändert hat sich der kunst- und naturwissenschaftliche Blickwinkel auf das Phänomen. Weniger mit der Lichtmetaphysik vergangener Jahrhunderte wird nun die Wirkung des barocken Flimmerraums verbunden, sondern sie kann in Beziehung gesetzt werden zu aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die ihrerseits Verbindung zu einer mystischen Dimension suchen. Solche Veränderung der Aneignung barocker Werke spiegelten die Äußerungen des Kunsthistorikers Eberhard Roters, der sich im Zusammenhang mit holographischer Kunst zu barocken Phänomenen äußerte. Insofern kann die dichte Beschreibung des Phänomens in Straubing als aktualisierende Deutung der gefundenen Vermittlungsstrategien gelten, nicht aber als Interpretation, die zeitgenössischen Sinn freilegte.

 

Kunstwissenschaft und Naturwissenschaft: Versuch einer Kommunikation

Die Untersuchung der holographischen Installationen Boissonnets und die Untersuchung der Straubinger Kirche zeigten beide eine Nähe der Werke zum Mystischen und zum Spirituellen. Das sind Bereiche, die von einer positivistischen Kunstwissenschaft gewöhnlich ausgeklammert werden. Hans Sedlmayr hat in seiner Schrift 'Das Licht in seinen künstlerischen Manifestationen' darauf hingewiesen, daß die Entkleidung historischer Werke von ihrer spirituellen Lichttransparenz hieße, die Werke zu verstümmeln. Sedlmayr meinte, nur eine erneute Hinwendung der Philosophie und Phänomenologie zur Ontologie des Lichts schüfe Raum für das Spirituelle, und er wendete sich gegen ein positivistisches Verständnis des Lichts: "Der Glaube, daß man eine Lichttheorie rein von den Erfahrungen der neuen Physik aufbauen könnte," schreibt Sedlmayr 1960, "ist erschüttert. Nicht nur die Theorie der Zeit, auch die Theorie des Lichts ist bei einem Philosophen ein Tiefenmesser seines Geistes. Erst von einer solchen Theorie können an die Geschichte der Kunst die fruchtbaren Fragen herangetragen werden."1

Der Zusammenhang von naturwissenschaftlichen Modellvorstellungen und geisteswissenschaftlichen Interpretationsmodellen ist in meinen Untersuchungen wiederholt gestreift worden. Der Physiologe Helmholtz hat die Untersuchung der Art und Weise, wie unsere Sinneswahrnehmungen zustande kommen, für wesentlich gehalten für theoretische Einsichten in die Leistungen der Bildenden Kunst und ihre Verfahrensweisen. Seinen Aufsatz 'Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens' von 1868 leitete Helmholtz so ein: "Die Physiologie der Sinne bildet ein Grenzgebiet, wo die beiden grossen Abtheilungen menschlichen Wissens, welche man unter dem Namen der Natur- und Geisteswissenschaften zu scheiden pflegt, wechselseitig in einander greifen, wo sich Probleme aufdrängen, welche beide gleich sehr interessiren, und welche auch nur durch die gemeinsame Arbeit beider zu lösen sind."2 Eine bemerkenswerte Parallele zu Helmholtz liegt darin, daß der Kunstwissenschaftler Gottfried Boehm 1997 schrieb, er hoffe, die Rede von der subjektiven Interpretation visueller Reize könne dazu helfen, "die alte Kontroverse bzw. Gesprächsunfähigkeit zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer historischen Erörterung des gleichen visuellen Vorganges langsam zu beheben".3

 

Wissenschaftliche Methodik und Erlebnis: Versuch einer Integration

Möglich wird solches Gespräch, wenn die Horizonte von Teilwissenschaften überschritten werden, und ich habe deshalb im Rahmen der Einzeluntersuchungen immer wieder versucht, Verbindungen zwischen disparaten Betrachtungsweisen herzustellen. Hilfreich war dabei, daß natur- und geisteswissenschaftliche Wissenschaftsbereiche ihrerseits solche Verbindungen in ihren methodischen Rahmen integriert haben: das ist die Ethnomethodologie im Bereich der Geisteswissenschaft, und das sind die physikalischen und psychologischen Modelle im Zusammenhang mit dem holographischen Universum. Diese Modelle sind partizipatorisch und in ihnen ist die Verbindung zum alltäglich gelebten Leben und den darin gemachten Erfahrungen berücksichtigt, die in engerem Methodenverständnis oft unbeachtet bleiben müssen, da sie mit dem erlaubten Methodenbesteck nicht erfaßt werden können. Für Künstler sind solche Grenzen nicht von Belang. Die pädagogische Sichtweise, die ich für die Erfassung solch lebensgeschichtlichen Lernens zu Hilfe nahm, ermöglicht die Zusammenschau von curricularen Lehrinhalten und ebenso sinnstiftenden Erfahrungen in ganz anderen Kontexten, hier in dem der Kunst.

Mit solchem Theorieverständnis einher geht, daß der methodische Rahmen relativ nachgiebig sein muß, denn anders können in hohem Maße subjektive Erfahrungen und Interpretationen nicht aufgenommen werden. Derartige Äußerungen scheinen jedoch für Individuen sinnstiftend zu sein, denn hier scheint die Verbindung auf zwischen rationalem Modellentwurf und emotionalem Erleben. Der Ethnologe Hans Peter Duerr sieht in der Trennung streng wissenschaftlicher Methodik vom erlebten Leben den Grund für die Überschreitung streng methodischer Verfahrensweisen: "Das, was heutzutage gerne 'kritische Selbstreflexion' genannt wird", schreibt Duerr in 'Traumzeit', "... hat durch seine Folgenlosigkeit für unser Leben und für unsere Erfahrung zu einem solchen Überdruß geführt, daß die neuerliche Hinwendung zu einer verhältnismäßig 'theoriefreien' Wissenschaft verständlich wird."4 Im Zusammenhang mit den Theorien des holographischen Universums bedeutet 'theoriefrei' gerade nicht unreflektiert. Vielmehr werden Grenzen des dem vernunftmäßigen Denken Zugänglichen formuliert, und denkend nicht überschritten, sondern wesensmäßig erlebnishafter 'Einsicht' gegenübergestellt.

 

Ergebnis und Fazit

In dieser Arbeit bin ich zu folgendem, thesenartig formulierbaren Ergebnis gekommen: Kunstwerke, deren Vermittlungsstrategien sowohl auf kognitiv vermittelbare Wissensgehalte als auch auf erlebnismäßige Erfahrung gerichtet sind, ermöglichen mehr als andere lebensgeschichtliches Lernen und zugleich die Reflexion curricular vermittelten Wissens. Solches Lernen vermag erst die bestätigende Funktion von bereitgehaltenen Deutungsmustern zu überschreiten. In solchem Lernen erst kann der Gefahr begegnet werden, das Irreduzible der Kunstwerke in einsinniger Interpretation verkümmern zu lassen. In der Einleitung schrieb ich, daß in der Wirklichkeit von Subjekten kognitiv erworbenes von lebensgeschichtlich erfahrenem Wissen nicht vollständig getrennt ist. Beides greift ineinander, beeinflußt sich gegenseitig und bildet zusammen den gesamten Wissens- und Erfahrungszusammenhang aus. Für diesen Zusammenhang sind Werke, in denen beide Vermittlungsstränge zusammenlaufen, gleichsam Spiegel.

Damit einher geht, daß das Erfahrene und Erlernte nicht vollständig in Worte überführt werden kann, und es ist nicht leicht, derartige Unmöglichkeit nicht als Mangel, sondern als Zugewinn zu betrachten. "In einer Welt, in der Erziehung und Unterricht vorwiegend durch Sprache erfolgen," schreibt Huxley, "finden es hochgebildete Menschen fast ganz unmöglich, irgend etwas anderem als Worten und Begriffen ernste Aufmerksamkeit zu widmen... Die Gefühle des Menschen, die sich nicht so leicht in Worten ausdrücken lassen, die Fähigkeit, die Gegebenheiten unserer Existenz unmittelbar wahrzunehmen, bleiben fast völlig unbeachtet."5 Der Physiologe Helmholtz hat wortlose Erkenntnis als 'Kennen' positiv bestimmt und nachdrücklich betont, daß er die verschiedenartigen Formen des Wissenserwerbs und der Erkenntnis nicht hierarchisch auffaßt: "Der Unterschied zwischen den Schlüssen der Logiker und den Inductionsschlüssen, deren Resultat in den durch die Sinnesempfindungen gewonnenen Anschauungen der Aussenwelt zu Tage kommt, scheint mir in der That nur ein äusserlicher zu sein, und hauptsächlich darin zu bestehen, dass jene ersteren des Ausdrucks in Worten fähig sind, letztere nicht, weil bei ihnen statt der Worte nur die Empfindungen und die Erinnerungsbilder der Empfindungen eintreten. Eben darin, dass die letzteren sich nicht in Worten beschreiben lassen, liegt aber auch die grosse Schwierigkeit, von diesem ganzen Gebiete von Geistesoperationen überhaupt nur zu reden."6 Trotz dieser Schwierigkeiten halte ich es für notwendig, lebensgeschichtliches, in hohem Maße subjektives und singulares Lernen als sinnkonstituierend zu begreifen, und unter Zuhilfenahme aller in diesem Zusammenhang erfolgsversprechenden Methoden und Äußerungen zu versuchen, solche Erfahrungen anzusprechen und damit diskursfähig werden zu lassen.

 

Ausblick

Die eigentliche Schwierigkeit, tiefgreifende lebensgeschichtliche Erfahrungen zu erfassen, liegt darin, daß oft der kulturell bestimmte, allgemein anerkannte und geteilte zivilisatorische Rahmen überschritten wird.

Hans Peter Duerr hat im ethnologischen Zusammenhang ausgeführt, daß Psychiater in den meisten Fällen die Grenzen, welche die moderne Zivilisation zwischen sich und der Wildnis zieht, mit den Grenzen zwischen Wirklichkeit und Schein gleichsetzen. Duerr beschreibt anhand der Gebräuche heutiger Naturvölker eine 'archaischere' Einstellung: Jenseits zivilisatorischer Grenzen liegt für die Bakweri am Kamerun-Berg die Welt der Seejungfrauen. Die Männer züchten innerhalb eines Zaunes das Vieh, während die Frauen draußen anpflanzen und Brennholz holen. Wenn eine Frau von einem Geisterwesen besessen wird, verläßt sie den Bereich der Kultur und wird zu einer Seejungfrau. Sie spricht mit den anderen Frauen die den Männern unverständliche Sprache der Seejungfrauen, sie sei völlig wild geworden. "Weil sie aber rituell, d.h. mit Bewußtsein wild geworden ist, ist sie der Wildnis zugleich nicht ausgeliefert. Jetzt erst, nachdem sie draußen gewesen ist, ist sie bereit zum Drinnen: Sie ist nun kulturfähig in einem viel elementareren Sinne."7 Duerr glaubt, daß nur der, der das 'Draußen' erlebt hat, imstande ist, wahrhaft zivilisiert zu sein. Ein Lernprozeß, der sich außerhalb curricular organisierter Strukturen vollzieht, ermöglicht die Reflexion dieser Strukturen und ermöglicht vielleicht erst den kompetenten Umgang mit ihnen.

Im Zusammenhang mit den von mir untersuchten Kunstwerken liegt jenseits kulturell festgelegter Codes ihr mythisches, mystisches und visionäres Potential, all das Irreduzible, das auf partizipatorischer Teilnahme an der Erscheinungswelt basiert. Faßt man Kulturtechniken, wie beispielsweise die perspektivische Konstruktion, als gesellschaftliche Konstrukte, so geht das Visionäre in den Konstrukten nicht auf, noch kann es mit ihnen vollständig erfaßt werden. Das mag der Grund sein, weshalb die Gebrüder Asam die perspektivisch konstruierten Illusionen in den umfassenderen flimmernden Lichtraum einbetteten. Die Erfahrung dieses Raums ist irreduzibel. Als Vermittlungsstrategie knüpft sie an bereits vollzogene Erfahrungen in der gelebten Wirklichkeit an, und als Modell verstanden kann sie die Erfahrungen in der Wirklichkeit der Möglichkeit nach erweitern und vertiefen. Solche Möglichkeit wird durch die Anknüpfung an curricular vermittelte Wissensbestände der Reflexion zugänglich und zugleich bedeutsam für den Bildungsgang des Individuums - vorausgesetzt, die reflektierte Erfahrung wird mit der Erfahrung selbst nicht verwechselt. "Rechte Erfahrung", schreibt Prentice Mulford, "ist das, was man vergessen hat."8


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1 Sedlmayr, 1960, S. 45.

2 Helmholtz, 1868, S. 235.

3 Boehm, 1997, S. 284.
Derselbe Sachverhalt scheint in einer von Clemenceau überlieferten, oft zitierten Äußerung Monets auf: "Könnte ich noch den leicht autoritativen Ton dieser Freundesstimme vor den Naturdarstellungen seines Wassergartens hören: 'Während Sie philosophisch das Ding an sich suchen', sagte er mit seinem gütigen Lächelns, 'richte ich mein Bestreben einfach auf ein Maximum von Scheinbarem in enger Wechselbeziehung mit den unbekannten Wirklichkeiten... Ich habe weiter nichts getan als das anzusehen, was die Welt mir gezeigt hat, um mit meinem Pinsel davon Zeugnis abzulegen. Ist das also nichts? Ihr Fehler ist, die Welt auf Ihren Maßstab zurückführen zu wollen, während doch mit Ihrer wachsenden Erkenntnis der Dinge auch Ihre Selbsterkenntnis wächst. Lassen Sie Hand in Hand uns gegenseitig helfen, immer besser sehen zu lernen.'" (Clemenceau, 1929, S. 145f.)

4 Duerr, 1985, S. 369.

5 Huxley, 1954, S. 59.

6 Helmholtz, 1868, S. 324.

7 Duerr, 1985, S. 80f.

8 Mulford, 1885-90, S. 198.


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