Ambivalenz des Stereogramms
Die Wirkung eines holographischen Stereogramms kann mit der
des 3D-Kinos verglichen werden: Hier wie dort handelt es sich
um Raumsimulationen mittels der Projektion auf Flächen.
Das stereoskopische Sehen erfordert Sehstrategien, die auf an
der Perspektive geschulte Wahrnehmungsmuster verweisen (das Deuten
zweidimensionaler Flächenorganisation als raumzeitlichem
Geschehnis). Zugleich ist das holographische Stereogramm ein
Hologramm mit ganz eigenen Implikationen der Wahrnehmung. Von
allen Hologrammarten ist das Stereogramm wohl am vieldeutigsten
und ein Medium, in dem sich verschiedene Sehstrategien mischen.
Die Perzeption des Multiplexhologramms erfordert, wie am historischen
Medium Stereoskop gezeigt werden kann, erlernte Sehstrategien.
Zugleich ist es eine Erscheinung, die wir so rezipieren müssen
wie die 'realen Dinge', um ihre vom Träger gelöste
skulpturale Erscheinungsweise erfahren zu können.
Sehstrategien, die zur Perzeption verschiedener Medien notwendig
sind, nehmen unmittelbar Einfluß auf die Organisation der
Wahrnehmung von Rezipienten. So Jonathan Crary in seiner Untersuchung
der 'Techniken des Betrachters'. Crary beschreibt optische Geräte
als Schauplätze des Wissens und der Macht, "die unmittelbar
auf den Körper des Individuums wirken."1
Die Camera obscura dominierte den Status des Betrachters im 17.
und 18. Jahrhundert, das Stereoskop zeigt den veränderten
Status des Betrachters im 19. Jahrhundert.2
"Die betreffenden optischen Geräte sind ... Schnittpunkte,
an denen philosophische, wissenschaftliche und ästhetische
Diskurse mit mechanischen Techniken, institutionellen Erfordernissen
und sozio-ökonomischen Kräften zusammentreffen."3 Der 'realistische Effekt' des Stereoskops, meint
Crary, sei Ausdruck für das Modell des subjektiven Sehens,
das im 19. Jahrhundert vorherrschte. Das vorherige Modell, dessen
Ausdruck die Camera Obscura war, hatte eine grundsätzliche
Distanz zwischen Betrachterkörper und Bild vorausgesetzt.
Der entscheidende Unterschied ist nun, daß das Sehen erneut
im Körper angesiedelt wird. Die "Veränderung wird
durch den Übergang von der geometrischen Optik des 17. und
18. Jahrhunderts zur physiologischen Optik angezeigt, die die
wissenschaftliche wie die philosophische Betrachtung des Sehens
im 19. Jahrhundert beherrschte."4 Das Stereoskop
wurde entwickelt als man versuchte, die Prozesse des binokularen
Sehens zu formalisieren. Es ist "das Ergebnis einer komplexen
Umstrukturierung des betrachtenden Individuums zu einer meß-
und berechenbaren, regulierbaren Größe und des menschlichen
Sehens zu etwas Meßbarem und daher Austauschbarem."5 Die Erfinder des Stereoskops haben sich intensiv
mit der Erforschung des physiologischen Wahrnehmungsapparats
beschäftigt. "Charles Wheatstone und Sir David Brewster,
die mit seiner Erfindung am engsten verbundenen Namen, hatten
bereits ausführlich über optische Illusionen, Farbenlehre,
das Nachbild und andere visuelle Phänomene gearbeitet."6
In Stereoskope werden Fotografien eingesetzt, deshalb wird die
Wirkung stereoskopischer Bilder oft im Zusammenhang mit der Fotografie
gesehen. Crary hält das für eine verkürzte und
irreführende Betrachtungsweise: "Das Stereoskop ist
ein weiterer Beleg dafür, daß ein Medium mit einem
anderen, in diesem Falle der Fotografie, verwechselt und vermengt
wird."7 Für Fotos, wie für alle
flächigen Darstellungen, spielt die Binokularität keine
Rolle. "Wenn man ein Gemälde und ein Objekt mit beiden
Augen gleichzeitig anschaut, werden im Falle des Gemäldes
zwei ähnliche Objekte auf die Netzhaut projiziert, im Falle
des realen Gegenstandes zwei ungleiche Bilder. Aus diesem Grunde
besteht in diesen beiden Fällen ein wesentlicher Unterschied
zwischen den Eindrücken auf die Sinnesorgane und folglich
auch auf die Vorstellungen, die sich im Geist davon bilden. Das
Gemälde kann daher mit dem räumlichen Gegenstand nicht
verwechselt werden."8
Die Tiefenwirkung eines perspektivisch konstruierten Gemäldes
oder einer Fotografie ist verschieden von der des stereoskopischen
Bildes. Das zentralperspektivische Bild zeigt einen homogenen
und metrischen Raum. Mit der Sehtechnik des Stereoskops ist Perspektive
nicht mehr möglich. "Der Betrachter bezieht sich nicht
mehr auf ein Bild wie auf ein Objekt, das in Bezug auf seine
Position im Raum bestimmt ist, sondern er sieht zwei ungleiche
Bilder, deren Position die anatomische Struktur des menschlichen
Körpers nachahmt."9 Der Eindruck der
Dreidimensionalität des stereoskopischen Bildes beruht auf
einer Aneinanderreihung von unterschiedlichen optischen Winkeln.
"Unsere Augen folgen einem unterbrochenen und ziellosen
Weg in die Tiefe des Bildes, das eine Zusammenfügung ...
lokaler dreidimensionaler Zonen von halluzinatorischer Klarheit
ist, die aber zusammengenommen nie zu einem homogenen Sehfeld
verschmelzen."10 Das Stereogramm in Galileo
mit seiner brüchigen Räumlichkeit verdeutlicht und
verstärkt die Inhomogenität des stereoskopischen Bildes.
Als Charles Wheatstone 1838 das erste Stereoskop baute, setzte
er voraus, daß der menschliche Organismus die Fähigkeit
habe, unter fast allen Bedingungen die disparaten Netzhauteindrücke
beider Augen zu einem einzigen Bild zu synthetisieren.11
Wenn ein Objekt sich in einiger Entfernung vom Betrachter befindet,
sind beide Netzhauteindrücke wesentlich identisch. Wenn
der Gegenstand sich nahe beim Auge befindet, so "daß
die optischen Achsen sich annähern müssen, um ihn sehen
zu können ... (sic), sieht jedes Auge eine andere Projektion
des Gegenstandes".12 Der 'Realismus' des
Stereoskops "beruht auf der Erkenntnis, daß sinnliche
Erfahrung grundsätzlich ein Erfassen von Unterschieden ist.
Das Verhältnis von Betrachter und Objekt ist keines der
Identität, sondern die Erfahrung von getrennten bzw. divergenten
Bildern."13 Wheatstone und Brewster bemerkten
beide, daß die Verschmelzung der durch das Stereoskop gesehenen
Bilder erst nach einiger Zeit und nicht mit absoluter Sicherheit
auftritt. Der Reliefeindruck entsteht nach Brewster erst durch
die Bewegung "der optischen Achsen, die nacheinander
auf ähnliche, aber vom Betrachter unterschiedlich weit entfernte
Punkte auftreffen und sie miteinander in Verbindung bringen."14 Brewster bestätigte damit das stereoskopische
Bild als Trugbild, das auf der erworbenen Erfahrung des Betrachters
beruht, die Unterschiede zwischen zwei disparaten Bildern auszugleichen.