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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Ambivalenz des Stereogramms

 

Die Wirkung eines holographischen Stereogramms kann mit der des 3D-Kinos verglichen werden: Hier wie dort handelt es sich um Raumsimulationen mittels der Projektion auf Flächen. Das stereoskopische Sehen erfordert Sehstrategien, die auf an der Perspektive geschulte Wahrnehmungsmuster verweisen (das Deuten zweidimensionaler Flächenorganisation als raumzeitlichem Geschehnis). Zugleich ist das holographische Stereogramm ein Hologramm mit ganz eigenen Implikationen der Wahrnehmung. Von allen Hologrammarten ist das Stereogramm wohl am vieldeutigsten und ein Medium, in dem sich verschiedene Sehstrategien mischen. Die Perzeption des Multiplexhologramms erfordert, wie am historischen Medium Stereoskop gezeigt werden kann, erlernte Sehstrategien. Zugleich ist es eine Erscheinung, die wir so rezipieren müssen wie die 'realen Dinge', um ihre vom Träger gelöste skulpturale Erscheinungsweise erfahren zu können.

Sehstrategien, die zur Perzeption verschiedener Medien notwendig sind, nehmen unmittelbar Einfluß auf die Organisation der Wahrnehmung von Rezipienten. So Jonathan Crary in seiner Untersuchung der 'Techniken des Betrachters'. Crary beschreibt optische Geräte als Schauplätze des Wissens und der Macht, "die unmittelbar auf den Körper des Individuums wirken."1 Die Camera obscura dominierte den Status des Betrachters im 17. und 18. Jahrhundert, das Stereoskop zeigt den veränderten Status des Betrachters im 19. Jahrhundert.2 "Die betreffenden optischen Geräte sind ... Schnittpunkte, an denen philosophische, wissenschaftliche und ästhetische Diskurse mit mechanischen Techniken, institutionellen Erfordernissen und sozio-ökonomischen Kräften zusammentreffen."3 Der 'realistische Effekt' des Stereoskops, meint Crary, sei Ausdruck für das Modell des subjektiven Sehens, das im 19. Jahrhundert vorherrschte. Das vorherige Modell, dessen Ausdruck die Camera Obscura war, hatte eine grundsätzliche Distanz zwischen Betrachterkörper und Bild vorausgesetzt. Der entscheidende Unterschied ist nun, daß das Sehen erneut im Körper angesiedelt wird. Die "Veränderung wird durch den Übergang von der geometrischen Optik des 17. und 18. Jahrhunderts zur physiologischen Optik angezeigt, die die wissenschaftliche wie die philosophische Betrachtung des Sehens im 19. Jahrhundert beherrschte."4 Das Stereoskop wurde entwickelt als man versuchte, die Prozesse des binokularen Sehens zu formalisieren. Es ist "das Ergebnis einer komplexen Umstrukturierung des betrachtenden Individuums zu einer meß- und berechenbaren, regulierbaren Größe und des menschlichen Sehens zu etwas Meßbarem und daher Austauschbarem."5 Die Erfinder des Stereoskops haben sich intensiv mit der Erforschung des physiologischen Wahrnehmungsapparats beschäftigt. "Charles Wheatstone und Sir David Brewster, die mit seiner Erfindung am engsten verbundenen Namen, hatten bereits ausführlich über optische Illusionen, Farbenlehre, das Nachbild und andere visuelle Phänomene gearbeitet."6

In Stereoskope werden Fotografien eingesetzt, deshalb wird die Wirkung stereoskopischer Bilder oft im Zusammenhang mit der Fotografie gesehen. Crary hält das für eine verkürzte und irreführende Betrachtungsweise: "Das Stereoskop ist ein weiterer Beleg dafür, daß ein Medium mit einem anderen, in diesem Falle der Fotografie, verwechselt und vermengt wird."7 Für Fotos, wie für alle flächigen Darstellungen, spielt die Binokularität keine Rolle. "Wenn man ein Gemälde und ein Objekt mit beiden Augen gleichzeitig anschaut, werden im Falle des Gemäldes zwei ähnliche Objekte auf die Netzhaut projiziert, im Falle des realen Gegenstandes zwei ungleiche Bilder. Aus diesem Grunde besteht in diesen beiden Fällen ein wesentlicher Unterschied zwischen den Eindrücken auf die Sinnesorgane und folglich auch auf die Vorstellungen, die sich im Geist davon bilden. Das Gemälde kann daher mit dem räumlichen Gegenstand nicht verwechselt werden."8

Die Tiefenwirkung eines perspektivisch konstruierten Gemäldes oder einer Fotografie ist verschieden von der des stereoskopischen Bildes. Das zentralperspektivische Bild zeigt einen homogenen und metrischen Raum. Mit der Sehtechnik des Stereoskops ist Perspektive nicht mehr möglich. "Der Betrachter bezieht sich nicht mehr auf ein Bild wie auf ein Objekt, das in Bezug auf seine Position im Raum bestimmt ist, sondern er sieht zwei ungleiche Bilder, deren Position die anatomische Struktur des menschlichen Körpers nachahmt."9 Der Eindruck der Dreidimensionalität des stereoskopischen Bildes beruht auf einer Aneinanderreihung von unterschiedlichen optischen Winkeln. "Unsere Augen folgen einem unterbrochenen und ziellosen Weg in die Tiefe des Bildes, das eine Zusammenfügung ... lokaler dreidimensionaler Zonen von halluzinatorischer Klarheit ist, die aber zusammengenommen nie zu einem homogenen Sehfeld verschmelzen."10 Das Stereogramm in Galileo mit seiner brüchigen Räumlichkeit verdeutlicht und verstärkt die Inhomogenität des stereoskopischen Bildes.

Als Charles Wheatstone 1838 das erste Stereoskop baute, setzte er voraus, daß der menschliche Organismus die Fähigkeit habe, unter fast allen Bedingungen die disparaten Netzhauteindrücke beider Augen zu einem einzigen Bild zu synthetisieren.11 Wenn ein Objekt sich in einiger Entfernung vom Betrachter befindet, sind beide Netzhauteindrücke wesentlich identisch. Wenn der Gegenstand sich nahe beim Auge befindet, so "daß die optischen Achsen sich annähern müssen, um ihn sehen zu können ... (sic), sieht jedes Auge eine andere Projektion des Gegenstandes".12 Der 'Realismus' des Stereoskops "beruht auf der Erkenntnis, daß sinnliche Erfahrung grundsätzlich ein Erfassen von Unterschieden ist. Das Verhältnis von Betrachter und Objekt ist keines der Identität, sondern die Erfahrung von getrennten bzw. divergenten Bildern."13 Wheatstone und Brewster bemerkten beide, daß die Verschmelzung der durch das Stereoskop gesehenen Bilder erst nach einiger Zeit und nicht mit absoluter Sicherheit auftritt. Der Reliefeindruck entsteht nach Brewster erst durch die Bewegung "der optischen Achsen, die nacheinander auf ähnliche, aber vom Betrachter unterschiedlich weit entfernte Punkte auftreffen und sie miteinander in Verbindung bringen."14 Brewster bestätigte damit das stereoskopische Bild als Trugbild, das auf der erworbenen Erfahrung des Betrachters beruht, die Unterschiede zwischen zwei disparaten Bildern auszugleichen.


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1 Crary, 1996, S. 19.

2 Vgl. Kap. I.13: Camera Obscura und Natureindruck

3 Crary, 1996, S. 19.

4 Crary, 1996, S. 27.

5 Crary, 1996, S. 28.

6 Crary, 1996, S. 122.

7 Crary, 1996, S. 122.

8 Wheatstone, zit. nach: Crary, 1996, S. 126.

9 Crary, 1996, S. 133.

10 Crary, 1996, S. 130.
Dieses homogene Sehfeld ist auch beim Betrachten eines Gemäldes nicht gegeben, sondern wird uns von der Zweidimensionalität nur suggeriert. Immer nehmen wir nur Ausschnitte im Wechsel mit der überblickenden Schau wahr (Vgl. Boehm, 1997 und 1989.), die Gesamtschau gelingt nur dem 'unscharfen', schweifenden Blick. Die 'halluzinatorische Klarheit' stereoskopischer Bilder resultiert vielleicht aus dem Paradoxon, daß wir wissen, daß wir Bilder betrachten, deren Oberflächen aber nicht wahrnehmen können.

11 Wheatstone prägte den Ausdruck 'pseudoskopisch', mit dem das umgestülpte reelle Bild in der Holographie bezeichnet wird. Der Eindruck eines pseudoskopischen Bildes entsteht auch dann, wenn man in einem Stereoskop die beiden Bilder vertauscht. Allerdings interpretiert man pseudoskopische Bilder meist als orthoskopische, da sie der Erwartungshaltung zuwiderlaufen. Auch Hohlformen von Gesichtern beispielsweise kann man nur mit größter Anstrengung als solche wahrnehmen, da das Gehirn auf der gewohnten Deutung besteht.

12 Wheatstone, zit. nach: Crary, 1996, S. 124.

13 Crary, 1996, S. 124.

14 Brewster, zit. nach: Crary, 1996, S. 126.


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