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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Ambivalenz des stereoskopischen Kartenbildes

 

Das Stereoskop nutzt die Konvergenz der beiden Augen. Das Gehirn erhält von den Muskeln, die die Augen bewegen, Signale, aus denen auf die Entfernung des betrachteten Objekts geschlossen werden kann.1 Das beruht hauptsächlich auf aus Erfahrung gewonnenem Wissen. Dieses unbewußte Vorwissen, das wir immer mit uns tragen, bestimmt auch die Wahrnehmung nie gesehener Dinge. Die Erde, könnten wir sie aus dem Weltraum betrachten, wäre so weit entfernt, daß die Augen nicht konvergierten. Nicht wahrnehmend könnten wir auf die Kugelgestalt schließen, sondern wir haben sie gelernt, beispielsweise am Globus (das kann man sich leicht vorstellen, wenn man den Vollmond betrachtet).

Globen sind zwar dem ersten Anschein nach rund wie ihr Vorbild, doch handelt es sich eher um eine Rückübertragung der flächigen, geometrisierten Karte auf die ideale Kugelgestalt, als um eine Nachbildung visueller Erfahrung (Globen sind älter als die Raumfahrt, und die Erde ist nicht wirklich rund). Landkarten und Globen sind Darstellungen von Oberflächen. Es handelt sich um die Überführung einer dreidimensionalen Totalität in geometrisierte Flächen, die im Falle des Globusses auf eine Kugelgestalt projiziert werden. Boissonnet überführte die Kugelgestalt zurück in die Fläche (indem er den Globus plattdrückte), um diese Fläche - vollkommen entgegen der ursprünglichen Gestalt - erneut und in ungewohnter Weise zu verräumlichen. Denn das stereographische Verfahren dient zugleich dazu, die verräumlichte Oberfläche in Bewegung zu versetzen. Indem Boissonnet das als statisch angenommene - die Kontinente - in eine gebrochene und gewissermaßen gefaltete Bewegung versetzt, unterläuft er die Erwartungshaltung der Betrachter, die mit Hilfe ihrer erlernten Sehstrategien versuchen, die Wahrnehmungen vor dem Hologramm in ihr Vorwissen zu integrieren.

Die Installation Galileo ist insofern eine Einrichtung des Sehens, als die Kulturbedingtheit der Wahrnehmung thematisiert wird. Räumliche Wahrnehmung ist veränderlich, weil sie - und mit ihr die Interpretation von Bildern - in vieler Hinsicht erworben ist; darauf weisen auch physiologische Untersuchungen: "Wir ... unterscheiden uns ... von Menschen aus anderen Kulturkreisen in der Bereitschaft, den Kontrast zwischen Gestalt und Hintergrund wahrzunehmen, Perspektive zu deuten, uns durch Illusionen täuschen zu lassen oder auch in einer Zeichnung räumliche Tiefe zu erkennen. Die Welt, die wir sehen, ist in Wirklichkeit eine Kombination aus dem Licht, das in einem bestimmten Augenblick in unsere Augen fällt, und aller der Erfahrung und Struktur, die unser Gehirn schon gespeichert hat."2 Das, was wir sehen, ist nicht ein für allemal festgelegt. Vor Galileo werden die Wahrnehmungsmuster von Rezipienten bestätigt und infrage gestellt zugleich, denn Boissonnet zielt auf die Veränderung der (an der Renaissanceperspektive erlernten und immer schon deutenden) Wahrnehmungsmuster gemäß den Implikationen eines kommunikationstechnischen Zeitalters. Um dieses Vermittlungsziel zu erreichen, hat er in Galileo alte und neue Medien - das Stereogramm und die Holographie - verzahnt. Denn zum Stereogramm treten die holographischen Bilder des aufgeblasenen Globusses und der Worte.


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1 Beim Betrachten naher Gegenstände - ca. 25 cm - beträgt der Konvergenzwinkel etwa 15 Grad, für einen 4 m entfernten nur noch ca. 10 Grad.

2 Falk u.a., 1990, S. 247.


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