Ambivalenz des stereoskopischen Kartenbildes
Das Stereoskop nutzt die Konvergenz der beiden Augen. Das
Gehirn erhält von den Muskeln, die die Augen bewegen, Signale,
aus denen auf die Entfernung des betrachteten Objekts geschlossen
werden kann.1 Das beruht hauptsächlich
auf aus Erfahrung gewonnenem Wissen. Dieses unbewußte Vorwissen,
das wir immer mit uns tragen, bestimmt auch die Wahrnehmung nie
gesehener Dinge. Die Erde, könnten wir sie aus dem Weltraum
betrachten, wäre so weit entfernt, daß die Augen nicht
konvergierten. Nicht wahrnehmend könnten wir auf die Kugelgestalt
schließen, sondern wir haben sie gelernt, beispielsweise
am Globus (das kann man sich leicht vorstellen, wenn man den
Vollmond betrachtet).
Globen sind zwar dem ersten Anschein nach rund wie ihr Vorbild,
doch handelt es sich eher um eine Rückübertragung der
flächigen, geometrisierten Karte auf die ideale Kugelgestalt,
als um eine Nachbildung visueller Erfahrung (Globen sind älter
als die Raumfahrt, und die Erde ist nicht wirklich rund). Landkarten
und Globen sind Darstellungen von Oberflächen. Es handelt
sich um die Überführung einer dreidimensionalen Totalität
in geometrisierte Flächen, die im Falle des Globusses auf
eine Kugelgestalt projiziert werden. Boissonnet überführte
die Kugelgestalt zurück in die Fläche (indem er den
Globus plattdrückte), um diese Fläche - vollkommen
entgegen der ursprünglichen Gestalt - erneut und in ungewohnter
Weise zu verräumlichen. Denn das stereographische Verfahren
dient zugleich dazu, die verräumlichte Oberfläche in
Bewegung zu versetzen. Indem Boissonnet das als statisch angenommene
- die Kontinente - in eine gebrochene und gewissermaßen
gefaltete Bewegung versetzt, unterläuft er die Erwartungshaltung
der Betrachter, die mit Hilfe ihrer erlernten Sehstrategien versuchen,
die Wahrnehmungen vor dem Hologramm in ihr Vorwissen zu integrieren.
Die Installation Galileo ist insofern eine Einrichtung
des Sehens, als die Kulturbedingtheit der Wahrnehmung thematisiert
wird. Räumliche Wahrnehmung ist veränderlich, weil
sie - und mit ihr die Interpretation von Bildern - in vieler
Hinsicht erworben ist; darauf weisen auch physiologische Untersuchungen:
"Wir ... unterscheiden uns ... von Menschen aus anderen
Kulturkreisen in der Bereitschaft, den Kontrast zwischen Gestalt
und Hintergrund wahrzunehmen, Perspektive zu deuten, uns durch
Illusionen täuschen zu lassen oder auch in einer Zeichnung
räumliche Tiefe zu erkennen. Die Welt, die wir sehen, ist
in Wirklichkeit eine Kombination aus dem Licht, das in einem
bestimmten Augenblick in unsere Augen fällt, und aller der
Erfahrung und Struktur, die unser Gehirn schon gespeichert hat."2 Das, was wir sehen, ist nicht ein für allemal
festgelegt. Vor Galileo werden die Wahrnehmungsmuster
von Rezipienten bestätigt und infrage gestellt zugleich,
denn Boissonnet zielt auf die Veränderung der (an der Renaissanceperspektive
erlernten und immer schon deutenden) Wahrnehmungsmuster gemäß
den Implikationen eines kommunikationstechnischen Zeitalters.
Um dieses Vermittlungsziel zu erreichen, hat er in Galileo
alte und neue Medien - das Stereogramm und die Holographie -
verzahnt. Denn zum Stereogramm treten die holographischen Bilder
des aufgeblasenen Globusses und der Worte.