Wirklichkeit
Die Deutungsmuster und die Weltbilder, die wir immer mit uns
herumtragen, sind nicht ein für allemal festgelegt. Sie
werden geformt und umgeformt durch das Handeln in der Wirklichkeit.
Helmholtz vertraut zwar auf das Kausalgesetz als der Voraussetzung
aller begrifflichen Denktätigkeit, doch zugleich weist er
auf die Begrenztheit von Symbolsystemen, in denen sich die Denktätigkeit
äußert. Der Ausschluß von Substanzen, die den
Erscheinungen zugrunde lägen, ermöglicht erst den Blick
auf Wirklichkeit. Was Wirklichkeit sei, erläutert Helmholtz
etymologisch: "Wir haben in unserer Sprache eine sehr glückliche
Bezeichnung für dieses, was hinter dem Wechsel der Erscheinungen
stehend auf uns einwirkt, nämlich 'das Wirkliche'. Hierin
ist nur das Wirken ausgesagt; es fehlt die Nebenbeziehung auf
das Bestehen als Substanz, welche der Begriff des Reellen, d.h.
des Sachlichen einschließt."1 Mit
dieser Wendung schließt sich Helmholtz fast wörtlich
Schopenhauer an, der die Verbindung zwischen Wirklichkeit und
Sein am Beispiel der Farbwahrnehmung erläuterte: "'Der
Körper ist roth' bedeutet, daß er im Auge die rothe
Farbe bewirkt. Seyn ist überhaupt mit Wirken gleichbedeutend:
daher auch im Deutschen, überaus treffend und mit unbewußtem
Tiefsinn, Alles was IST, WIRKLICH, d.i. wirkend, genannt wird."2
Mit der Beschränkung auf das Wirkliche ist viel gewonnen.
Sie erlaubt, einen Blick auf die Phänomenalität zu
werfen, die Monet im Auge hatte, ohne das Phänomenale auf
Begriffe rückführen zu müssen. Es ergibt sich
die Möglichkeit einer Hermeneutik, die auf einem nicht reduzierten,
tendenziell zweckfreien, 'sehenden' Sehen beruht; denn solches
Sehen steht nicht länger ausschließlich im Dienst
biologischen Überlebens. Die physiologischen und physikalischen
Voraussetzungen des sehenden Sehens konnten erläutert werden.
Doch naturwissenschaftliche Modelle und Kunstwerke können
nur in Form einer Analogie zueinander gesehen werden. Die Kunst
aus der Physiologie herzuleiten, das erlauben weder das Fragmentarische
naturwissenschaftlicher Bereichstheorien, noch die Phänomenalität
des Kunstwerks, das durch eine Überführung in Sprachliches
ja immer schon verändert wird.3 Solche
Deutung widerspräche wohl auch den Intentionen des Malers,
der sich gegen das Theoretisieren über Kunst gewehrt hat:
"J'ai toujours eu horreur des théories",4 schrieb Monet 1926 in einem Brief an Evan Charteris.
Und: "Ich wüßte nicht," schreibt Clemenceau,
"daß Monet sich je in den Kopf gesetzt hätte,
seine Malerei zu erklären. Nichts wäre ihm unnützer
erschienen."5 Monet legte seine Priorität
auf das Wirkliche, und die Wirklichkeit seines Gartens schien
er der Kunstwirklichkeit noch vorzuziehen. An seinen Gärtnerfreund
Mirbeau schrieb er: "Ich bin sehr froh, daß Du [den
Maler] Caillebotte mitbringst. Wir werden über Gartenbau
reden, ... denn was Kunst und Literatur angeht, ist alles Humbug.
Es gibt nichts außer der Erde... Ich habe den Punkt erreicht,
wo ich einen Klumpen Erde für etwas ganz Außerordentliches
halte, und ich kann Stunden damit zubringen, ihn zu betrachten.
Und Humus! Ich liebe Humus, wie man eine Frau liebt. Ich reibe
mich damit ein, und in den dampfenden Haufen sehe ich die wunderschönen
Formen und Farben, die daraus geboren werden! Wie wenig Kunst
daneben bedeutet! Und wie affektiert und falsch sie im Vergleich
dazu ist."6
Den Vorrang der Erfahrung der Wirklichkeit vor der Erfahrung
der Kunst beschreibt Aldous Huxley in 'Die Pforten der Wahrnehmung'.
Huxley erzählt, wie er unter Meskalineinfluß einen
Sessel wahrgenommen habe, wie ein 'Ding an sich'. Eine ähnliche
Qualität schreibt er einem von Van Gogh gemalten Sessel
zu, weist jedoch zugleich darauf hin, daß der gemalte Sessel
im Verhältnis zum wirklichen den Charakter eines Verweises
behielte: "Zwar war er unvergleichlich wirklicher als der
Sessel, den einem die gewöhnliche Wahrnehmung vor Augen
führt, dennoch blieb der Sessel auf seinem Bild nicht mehr
als ein ungewöhnlich ausdrucksvolles Symbol des tatsächlichen...
Derartige Sinnbilder sind Quellen wahrer Erkenntnis über
die Natur der Dinge, und diese wahre Erkenntnis kann dazu dienen,
den Geist, der für sie offen ist, auf eigene unmittelbare
Einblicke vorzubereiten."7 Kunst kann Naturerfahrung
nicht ersetzen. Doch die Erfahrung, die sie ermöglicht,
kann Betrachter prinzipiell befähigen, einen Blick auf die
naturwirkliche Phänomenalität zu werfen, der in der
Spur von Monets erweiterter Wahrnehmung läuft.