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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Monet und die Naturwissenschaft

 

Clemenceau fand es als Rezipient von Monets Malerei durchaus notwendig, einen Zusammenhang zu zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen herzustellen - mit denen der Maler sich nicht zu befassen brauchte. Jeder, meinte Clemenceau, "der versuchen will, die mühevollen Arbeiten der Kunst innerhalb des Gesamtwerkes der idealistischen schöpferischen Kraft der Menschheit an ihre richtige Stelle zu setzen",1 müsse sich damit abgeben. Daß es sich um ein analogiehaftes Verhältnis handelt, betont Clemenceau immer wieder: "Am bemerkenswertesten in dem Fall Claude Monet ist, daß er niemals seinen künstlerischen Rahmen verlassen hat, daß die natürliche Entwicklung seines Eindruckes von der Welt sich in Offenbarungen seines Pinsels übertrug, die wunderbar mit der modernen Entwicklung unserer physikalischen Kenntnisse auf dem Gebiet der Lichtphänomene übereinstimmen. Um einen Gemeinplatz zu gebrauchen, der aber das Richtige trifft: 'Er war auf der Höhe seiner Zeit!' Sein eigenes Sehen und die Entwicklung ästhetischer Wirksamkeiten, die sich daraus ergeben, hat bemerkenswerterweise mit den positiven Ergebnissen übereingestimmt, zu denen die moderne Wissenschaft ... gelangt ist. Die Gleichzeitigkeit ist wahrscheinlich ein einzig dastehendes Phänomen. Jedenfalls bleibt sie das 'Philosophischste', was man über das Leben Claude Monets sagen kann. Es scheint, daß es seine Bestimmung war, gleichzeitig Kunst und Wissenschaft zu fördern."2 Den Zusammenhang von physikalischen Entdeckungen mit dem Impressionismus hat auch Camille Mauclair angesprochen. Mauclair, sagt Clemenceau, habe gezeigt, "daß der Beginn der Arbeiten über das Licht von den Impressionisten genau mit den großen modernen Entdeckungen zusammenfällt, die uns die Beschaffenheit der Lichtenergie offenbart haben."3

Clemenceau war mit den naturwissenschaftlichen Neuerungen seiner Zeit wohl vertraut. Schon in einem Aufsatz von 1895 über Monets Kathedralenserie schreibt er über die Lichtwirkung: "Der an sich dunkle Gegenstand erhält alles Leben durch die Sonne, alle Möglichkeit einen visuellen Eindruck zu machen. Aber diese Lichtwellen, die ihn umhüllen, die ihn durchdringen, die ihn in die Welt ausstrahlen lassen, sind in dauernden Wirbeln leuchtende Blitzstrahlen, Sprühregen des Lichtes, Stürme an Helligkeiten. Was wird aus dem Modell unter dieser Raserei lebendiger Atome, durch die es durchsichtig wird, für uns sichtbar, für uns zur Existenz erwacht? Das muß man heute verstehen, das muß man heute durch die Malerei ausdrücken, das muß das Auge zerlegen und die Hand wieder zusammensetzen."4

Führt man sich die bedeutende Umwälzung vor Augen, die das physikalische Weltbild im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erfahren hat, wird Clemenceaus Faszination - angesichts einer naturwissenschaftlichen Bestätigung seiner pantheistischen Neigungen - verständlich. Bereits 1820 wurde die Brownsche Molekularbewegung entdeckt, 1897 etablierte J. Thomson das Elektron. Faraday griff die Vorstellung vom korpuskularen Charakter der Atome an, und James Clerk Maxwell entwickelte das elektromagnetische Bild vom Licht. Nicht viel später folgten die Quantentheorie und das Konzept der Wellenmechanik. All diese Entdeckungen trugen dazu bei, die Gültigkeit des überkommenen statischen Weltbilds radikal in Frage zu stellen. Roger Shattuck schreibt 1982: "In den Jahren, in denen Monet das eruptive Laubwerk und das Schimmern auf dem Teich in Giverny beobachtet, hörten die Physiker auf, an irgendeinem einfachen Konzept der Lokalisation in Zeit und Raum festzuhalten, und ersetzten es durch eine Vorstellung die verwandt ist mit Vibration, mit etwas Unwägbarem im Herzen der Dinge."5

Clemenceau kannte wohl die Lichtwellentheorie, beharrte aber - durchaus im Einvernehmen mit der korpuskularen Vorstellung von den Lichtquanten in der Physik - auf der Stofflichkeit jener Erscheinungen. Er wandte sich gegen Gillet, der Monets Bilder als Verneinung des Stofflichen und phantastische Erfindungen ausgelegt hatte:6 "Das heißt die Dinge gerade umgekehrt auslegen. Ein Besuch im Laboratorium von Jean Perrin würde ihn die Brownschen Bewegungen sehen lassen, sowie die Bahnspuren der Atome und ihrer Elektronen, die auf eine Glasplatte eingezeichnet sind. Dann wird er vielleicht weniger über den Hagel nervöser Ströme und über die Atomreigen staunen, aus denen sich das visuelle Bild zusammensetzt, bei dem er sich gestattet, den Stoff zugunsten der Illusion zu verspotten. Dann wird er diese allgemeine Zerstäubung verstehen, die er in den Panneaus von Monet bewundert, aber die in Wirklichkeit nur dazu geführt haben, ihn in Zweifel über die Ursache der Zerstäubung zu setzen. Dabei mache ich nicht mit. In dieser Zerstäubung der Dinge, die Monet am Ende seines Pinsels fand, sehe ich nichts weiter als eine glückliche Übertragung der kosmischen Wirklichkeiten, so wie die moderne Wissenschaft sie uns offenbart hat. Ich behaupte nicht, daß Monet die Atomreigen wiedergegeben hat. Ich sage einfach, daß er uns einen großen Schritt weitergebracht hat in der expressionistischen Darstellung der Welt und ihrer Elemente durch Lichtverteilungen, die den von der Wissenschaft entdeckten Schwingungen entsprechen."7

Den Grund für die Übereinstimmung von Monets Kunst mit den von der modernen Wissenschaft enthüllten Phänomenen sah Clemenceau in Monets besonderer Empfindungsfähigkeit für kosmische Vorgänge. Die Nymphéas beschrieb Clemenceau als Umsetzung solcher Empfindungsfähigkeit, als die "Darstellung eines Zustandes der Erregbarkeit, der uns gestattet uns den neuen Vorstellungen von universellen Energien anzugleichen, um die Welt und uns selbst besser zu verstehen."8 Und: "Unser Bewußtsein von den Dingen ist nichts anderes als das Spiegelbild der Welt in menschlicher Empfindung"9 , sagte Clemenceau in vollem Bewußtsein über den subjektiven Charakter des Sehens. Das führte ihn zur Reflexion des Sehens selbst: "Um einen Maler zu beurteilen, scheint es hinreichend zu sein, daß man sieht. Wir könnten es sogar dabei bewenden lassen, wenn wir nicht Gründe genug hätten zu wissen, daß in jedem menschlichen Wesen die Empfindungsmöglichkeiten verschieden sind."10 So wie deshalb die Beziehung zwischen Kunstwerk und Betrachter nicht zu vereindeutigen ist, ist es auch das Verhältnis des Malers zur Außenwelt nicht. Es handelt sich "stets um besondere, wechselnde Empfindungszustände, die durch den Kontakt mit der Außenwelt jeweils eine Rückwirkung erfahren."11

Künstler, meint Clemenceau, könnten alle Teile der menschlichen Empfindsamkeit im Kunstwerk vereinen. "Für mich ist es demütigend; wir sehen keineswegs die Dinge in der gleichen Weise. Ich öffne meine Augen und sehe Formen, feine Farbschattierungen, die ich, bis man mir das Gegenteil beweist, für die flüchtige Erscheinung der Dinge halte, wie sie sind. Mein Auge bleibt an der zurückstrahlenden Oberfläche haften und dringt nicht weiter. Bei Ihnen ist es anders. [Ihr Blick] durchstößt die Rinde der Scheinbarkeiten, und Sie durchdringen die Substanz, um sie in Lichtatome zu zerlegen, die Sie mit dem Pinsel wieder zusammensetzen um damit die Wirkung des Reizes auf unsere Netzhaut so nachdrücklich wie möglich in zarter Weise wiederherzustellen."12 In ähnlichem Ton schrieb Guy de Maupassant: "Das Auge, dieses bewundernswerteste aller menschlichen Organe, vermag sich immer weiter zu vervollkommnen, und wenn es klug geschult, erlangt es eine erstaunliche Schärfe. In der Antike waren nur vier oder fünf Farben bekannt. Heutzutage können wir unzählige Farbtöne differenzieren. Echte Künstler ... werden eher von den Modulationen und Harmonien berührt, die aus einem einzigen Ton hervorgehen, als von den schreienden Effekten, die den Massen gefallen... Und ich bin schwach, machtlos, und von den kaum unterscheidbaren Tönen, von den undefinierbaren Harmonien, die vielleicht nur meine Augen beobachten, ebenso gequält wie Claude Monet. Und schmerzliche Tage bringe ich damit zu, den Schatten eines Meilensteines auf einer weißen Straße zu betrachten, und mir wird klar, daß ich außerstande bin, ihn zu malen."13


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 1 Clemenceau, 1929, S. 58.

2 Clemenceau, 1929, S. 164f.

3 Clemenceau, 1929, S. 115.
Mauclair schreibt: "C'est par là que, s'il n'a pas théorisé, il a donné aux critiques et aux peintres l'occasion légitime d'établir un formulaire d'après son œuvre. Elle apparaissait insolite, d'abord jugée folle, puis comprise et admirée, et abondamment imitée: ceci entraînait un analyse et un commentaire. C'est sous cette réserve que je présenterai ici les principes chromatiques qui ont pu être déduits de l'examen du faire de Monet. Ces principes, il ne les a pas rédigés, et les exposés qu'il en a lus n'ont pas toujours dû le satisfaire pleinement: mais il les a portés en lui-même, il les a précisés et groupés en sa conscience de peintre à mesure qu'il passait de ses premières marines à ses premières études de personnages en plein air, et puisait dans son observation du ciel, de la terre, de l'eau, du soleil, des raisons d'oser une technique jusqu'alors inconnue. Il s'est passé pour Monet ce qui s'est passé pour tous les grands oseurs; ils n'ont pas appliqué une doctrine, on l'a déduite après coup. On a extériorisé et codifié par l'analyse critique ce qui avait été la cellule mère de leur génie. Lorsqu'en 1885, les cadets de Monet sont allées jusqu'à concevoir et mettre son œuvre, sous le nom de pointillisme, les observations scientifiques de Chevreul, de Rood, de Helmholtz et de Charles Henry, tentant aussi un essai inviable mais curieux, il apparut que Monet ne se souciait nullement de plier son libre tempérament à ces rigides données de spectroscopie et de chromatisme faisant du peintre un applicateur de la science. Il ne se piquait pas de comprendre ces équations et de conformer ses tableaux à ces théorèmes. Sans son exemple pourtant, le néo-impressionisme n'eût pu exister." (Mauclair, 1924, S. 21.)
In der frühen Monet-Rezeption taucht die Verbindung zu zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen noch recht häufig auf. Nicht nur Mauclair wies darauf hin, daß Monet sich um die theoretischen Erkenntnisse der zeitgenössischen Physiologie und Physik nicht gekümmert habe. Oscar Reuterswärd schrieb 1948, daß Andreas Aubert anläßlich des angekündigten Besuchs von Monet in Norwegen im 'Dagbladet' einen Artikel veröffentlicht habe, der den damals überlieferten Irrglauben von Monets 'Verbindungen zu Naturwissenschaftlern' aus den Bereichen der Optik und der Farbtheorie, 'Chevreul, Brücke, Helmholtz' und so weiter" verbreitet (Reuterswärd, zit nach Stuckey, 1994, S. 166ff). In der zweiten Rezeptionsphase, die durch André Masson im Zusammenhang mit der amerikanischen Malerei der 50er Jahren wieder in Gang gesetzt wurde, taucht der Zusammenhang nicht mehr auf. Deutlich wird die Tendenz, Kunst als geschlossenes System zu betrachten, in dem Werke vom Entstehungs- und Präsentationskontext gelöst, nur mehr mit anderen Werken verglichen werden können. Das hat sich erst im letzten Jahrzehnt wieder geändert, mit der Einführung der Rezeptionsästhetik in die Kunstwissenschaft. In jüngerer Zeit hat sich Roger Shattuck anläßlich der Monet-Ausstellung "Monet's years at Giverny. Beyond impressionism" im St. Louis Art Museum mit dem Zusammenhang von physikalischem Weltbild im 19. Jahrhundert und Monets Spätwerk beschäftigt. Monet, meint Shattuck, habe intuitiv in enger Relation zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit gearbeitet. Monet "saw the field vibrating and he painted it - painted it huge enough to force the rest of us to see it also." (Shattuck, 1982, S. 38.)

4 Clemenceau, 1929, S. 124f.
Duranty schrieb 1876 in 'Die Neue Malerei': "Im Kolorit haben sie [die Impressionisten] eine wirkliche Entdeckung gemacht... Die Entdeckung besteht eigentlich in dem Erkennen, wie das starke Licht die Töne abschwächt, daß die Sonne, wenn sie von den Gegenständen reflektiert wird, durch ihre Helligkeit die Töne zu einer leuchtenden Einheit umzuwandeln sucht, die ihre sieben Regenbogenfarben zu einem einzigen ungefärbten Glanz vereinigt, der das Licht ist. Von Intuition zu Intuition sind sie allmählich dahin gelangt, das Sonnenlicht in seine Strahlen zu zerlegen ... und es zu seiner Einheit durch die Harmonie der Regenbogenfarben wieder zusammenzusetzen, die sie über die Leinwand breiten. Was die feinste Empfindung, die zarte Durchdringung des Kolorites anbetrifft, so ist das Ergebnis außerordentlich. Der gelehrteste Physiker vermöchte nichts an ihren Lichtanalysen auszusetzen." (Duranty, zit. nach: Clemenceau, 1929, S. 131f.)

5 "During the years Monet was watching the erupting foliage and the shimmerings on the pond at Giverny, physicists had lost their hold on any simple concept of location in time and space and had replaced it with a notion akin to vibration, something imponderable at the heart of things." (Shattuck, 1982, S. 38.)

6 Im Disput zwischen Gillet und Clemenceau zeigt sich die Frage nach dem Wesen von Monets Malerei in der wohl zugespitztesten Weise. Clemenceau kritisierte den metaphysischen Aspekt von Gillets Analyse. Clemenceau sah in Monets Kunst die Erscheinung von unsichtbaren, aber dennoch realen molekularen Kräften. Gillet dagegen sah darin zu Clemenceaus Ärger "des mirages qui n'ont d'existence qu'en lui-même" (Clemenceau, zit. nach: Levine, 1976, S. 398.) "Thus what for Clemenceau constituted a repudiation of artifice for the sake of a faithful registration 'de ce qui est' ..., was for Gillet a sacrifice of nature on the altar of a personal vision of art, a vision that denied physical reality in favor of 'le miracle des apparences'" (Levine, 1976, S. 398.)

7 Clemenceau, 1929, S. 154f.
Helmholtz war die stoffliche Basis der Naturvorgänge schon nicht mehr selbstverständlich: "Früher galten Licht und Wärme als Substanzen, bis sich später herausstellte, daß sie vergängliche Bewegungsformen seien, und wir müssen immer noch auf neue Zerlegungen der jetzt bekannten chemischen Elemente gefaßt sein." (Helmholtz, 1896, S. 592.)

8 Clemenceau, 1929, S. 13.

9 Clemenceau, 1929, S. 72.

10 Clemenceau, 1929, S. 10.

11 Clemenceau, 1929, S. 11.

12 Clemenceau, 1929, S. 24f.

13 Guy de Maupassant: Das Leben eines Landschaftsmalers. Zuerst in: Le Gil-Blas, 28. September 1886. In: Stuckey, 1994, S. 123.


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