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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Monets Auge

 

Zum Gemeinplatz unter Kunsthistorikern geworden ist Paul Cézannes Äußerung, Monet sei nichts als ein Auge: "Monet, ce n'est qu'un œil... Mais, bon Dieu, quel œil!"1 Guy de Maupassant legt Monet eine Bestätigung in den Mund: "Es ist wahr, ich lebe nur durch meine Augen. Von morgens bis abends wandere ich durch Wald und Feld, über Felsen und durch Steinginster, bin ich auf der Suche nach reinen Farbtönen und übersehenen Nuancen - nach allem, wovon wir in der Schule nichts lernten, wo wir unserer klassischen Bildung ausgeliefert waren, die uns Scheuklappen aufsetzte und uns davon abhielt, zu erfahren und zu erforschen."2 So setzt Monet lebensgeschichtlich wahrnehmendes Lernen gegen curricular verstandenes Lernen in Bildungseinrichtungen.

Über Monets Sehvermögen ist viel geschrieben und spekuliert worden. Es wurde versucht, seine Bilder auf ein außerordentlich empfindliches Wahrnehmungsvermögen zurückzuführen. Zugleich wurde eben dieses Wahrnehmungsvermögen als im psychischen und physischen Sinne krankhaft bezeichnet. Clemenceau schrieb, daß M. Huysmans 1880 Monet und seine Freunde an Dr. Charcot verwiesen habe, "'den erfahrenen Fachmann über Farbenwahrnehmungen bei den Hysterischen und Nervenkranken der Salpétrière'."3 Nicht zuletzt wurden vor allem die Nymphéas in Zusammenhang mit Monets Augenerkrankung im fortgeschrittenen Alter gebracht.

Alfred de Lostalot schrieb in einer Ausstellungskritik von 1883 die ambivalente Reaktion auf Monets Bilder einem physiologisch außerordentlichen Empfindungsvermögen zu: "Unserer Ansicht nach malt Monet sozusagen in einer fremden Sprache, zu der nur er und einige Eingeweihte Zugang haben. Es ist keine Sprache, die erlernbar wäre, es handelt sich um etwas Instinktives, und diejenigen, die sie verstehen, sind sich über das Ausmaß ihrer Gabe nicht im klaren, wenn es denn tatsächlich eine ist. Vielleicht gelingt es uns, mit Hilfe einer rein physikalischen Begründung, alle auf einmal zu erklären, den Maler, seine Bewunderer und seine Kritiker. Die Sehkraft von Monet ist außergewöhnlich. Er sieht anders als die meisten, und da er aufrichtig ist, versucht er, das Gesehene wiederzugeben. Es ist bekannt, daß innerhalb des Lichtspektrums ein Strahlenbereich existiert, der von der Hornhaut abgehalten wird, so daß die Netzhaut ihn nicht empfängt. Dieser Strahlenbereich heißt ultraviolett, weil er über den von jedermann wahrnehmbaren violetten Strahlenbereich hinausreicht. In der Natur spielt dieser Strahlenbereich eine wesentliche Rolle, aber seine Wirkung ist nicht optischer Art. Jüngste Versuche ... haben jedoch bewiesen, daß manche Menschen auf diesen unsichtbaren Teil des Spektrums heftig reagieren. Monet zählt unzweifelhaft zu dieser Gruppe; er und seine Freunde sehen ultraviolett, während die Masse etwas anderes sieht. Daher das Mißverständnis."4

Schließlich wird Monets Spätwerk häufig in Zusammenhang mit einer Starerkrankung gebracht. Monet war sich den Veränderungen seines Sehvermögens in hohem Maße bewußt. Er zeigte sogar Interesse an den dadurch hervorgerufenen Erscheinungen: "Ich hatte gut begonnen, begeistert wie immer, und erwartete wohl, zu etwas besserem zu kommen, aber ich musste meine Hoffnungen und manchen glücklichen Anfang aufgeben und die anderen Sachen verlieren; dazu kommt, dass mich meine schlechte Sicht alles in einem totalen Nebel erscheinen lässt. Das ist zwar recht schön, und ich hätte dies auch wiedergeben wollen".5 Schließlich fand Monet zu einem pragmatischen Umgang mit seiner Erkrankung. "Wenn ich den Sinn für Farben bei den großen Gemälden ... wiedergefunden habe, so liegt es an der Tatsache, daß ich meine Arbeitsweise meinem Sehvermögen angepaßt und meistens den Farbton auf gut Glück gewählt habe, indem ich mich einzig und allein auf die Etiketten meiner Tuben einerseits und auf die unveränderliche Reihenfolge verlassen habe, die ich mir beim Auftragen meiner Farben auf die Palette angewöhnt habe. Ich habe mich schnell daran gewöhnt, und es ist mir noch nie passiert, daß ich mich geirrt habe. Ich muß übrigens hinzufügen, daß mein Sehvermögen sich manchmal erholt und ich mehrfach die Farben erkennen konnte wie früher, was ich genutzt habe, um mich entsprechend zu kontrollieren."6

Über Monets Starerkrankung gibt es eine umfangreiche Bibliographie, gestützt auf medizinische Untersuchungen und zahlreiche Briefe.7 Monets Sichtweise und die spekulative Annahme einer Verbindung mit seiner Augenkrankheit sind noch immer aktuelle Forschungsgegenstände, wie eine aktuelle Untersuchung von John S. Werner 8 zeigt. Das weist auf eine grundsätzliche Problematik, die mit dem Verhältnis von Sichtweise, Malweise und dargestellter Gegenständlichkeit zu tun hat. Veränderungen in der künstlerischen Gestaltungsweise werden weniger auf die Veränderung historisch determinierter Wahrnehmungsmuster zurückgeführt, als auf organische Abweichungen im Körper des Künstlers. "So wurde ...", schreibt Boehm, "Monets Spätwerk auf eine tatsächliche Starerkrankung zurückbezogen, die ihn jene amorphen Farbwirbel der späten Gartenbilder zu gestalten veranlaßt habe."9 So selbstverständlich es ist, daß physiologische Gegebenheiten (auch Besonderheiten, man denke an synästhetische Wahrnehmungen) in Zusammenhang stehen können mit dem, was in der Malerei erscheint, so halte ich doch eine Deutung inhaltlicher Art im Zusammenhang mit Monet für nicht fruchtbar. Roger Shattuck spricht sich gegen die Tendenz aus, die Sichtweise des alten, augenkranken Monet als eine Verschleierung der Dinge zu betrachten, "als ein gefärbtes Glas, durch das er in den letzten 15 Jahren entschlossen blickte. Wir wären besser beraten, sie [Monets Sichtweise] als die fortgeschrittenen Stadien einen Trainingsprozesses zu betrachten".10 Eine Betrachtungsweise, die in Monets Alterswerk solchen Zuwachs sieht, ermöglicht erst den Einbezug der Betrachter, ihre Teilnahme am Sehereignis und die Anbindung der malerischen Erscheinung an ihre Seherfahrungen. Erst wenn Monets Malweise als Folge eines Lernprozesses gefaßt wird, kann die Malerei prinzipiell solches Lernen als Vermittlungspotential bereithalten.


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 1 Cézanne, zit. nach: Patin, 1991, S. 178.

2 Monet nach Guy de Maupassant: "Das Leben eines Landschaftsmalers". Zuerst in: "Le Gil-Blas" vom 28. September 1886. In: Stuckey, 1994, S. 122.)

3 Huysmans, zit nach: Clemenceau, 1929, S. 99.

4 Alfred de Lostalot in: Stuckey, 1994, S. 102f.
Helmholtz beschreibt im 'Handbuch der physiologischen Optik' die Reihe der sichtbaren Spektralfarben von Rot zu Violett. Über das Ultraviolett sagt er: "Schließlich folgt als Ende des Spectrum auf der brechbarsten Seite das Ultraviolett. Dieser Theil ... kann nur gesehen werden, wenn die ... helleren Theile des Spectrum sehr sorgfältig abgeblendet sind. Die Anwesenheit von Lichtstrahlen besonderer Art an dieser Stelle lernte man zuerst durch die chemischen Wirkungen derselben kennen, und nannte sie deshalb unsichtbare chemische Strahlen. In Wahrheit sind diese Strahlen aber nicht unsichtbar, wenn sie auch allerdings das Auge verhältnißmäßig viel schwächer afficiren, als die Strahlen des mittleren leuchtenden Theils des Spectrum ... Sobald man die letzteren durch geeignete Apparate vollständig entfernt, sind die ultravioletten Strahlen dem Auge ohne Schwierigkeit sichtbar, und zwar bis zum Ende des Sonnenspectrum. Ihre Farbe ist bei geringer Lichtintensität indigblau, bei größerer Intensität bläulich grau." (Helmholtz, 1896, S. 287)

5 Monet im Sommer 1922 an die Brüder Bernheim. Zit. nach: Geelhaar, 1986, S. 98.

6 Monet nach Thiébault-Sisson. In: Stuckey, 1994, S. 292.

7 Schon 1919 empfahl Clemenceau Monet die Operation seines Stars. Monet lehnte aus Angst vor den möglichen Folgen ab. Um 1920 nahmen die Klagen Monets über den Zustand seines Sehvermögens zu: "Ich sah die Farben nicht mehr mit der gleichen Intensität, ich malte das Licht nicht mehr so naturgetreu. Die Rottöne kamen mir schmutzig vor, die Rosatöne fade und die Zwischentöne oder die dunkleren Töne entgingen mir völlig. Was die Formen anging, so sah ich sie immer noch genauso klar und ich hielt sie mit der gleichen Genauigkeit fest... Ich malte immer finsterer, immer mehr in der Art 'alter Gemälde'... Es kam jedoch der Tag, ... an dem ich zu spüren glaubte, die Krankheit sei vorübergehend zum Stillstand gekommen. Ich versuchte eine Reihe von Experimenten, die ausschließlich darauf abzielten, mir die Grenzen und Möglichkeiten meines Sehvermögens zu zeigen, und ich stellte mit Freuden fest, daß ich zwar unempfänglich für die Feinheiten und Modulationen der Farben in nächster Nähe blieb, daß meine Augen mich aber zumindest nicht täuschten, wenn ich zurücktrat und das Motiv im Großen betrachtete ... Ich stellte meine Fähigkeiten anhand unzähliger Skizzen auf die Probe, die mich zunächst überzeugten, daß sich für mich Studien heller Lichtwirkungen endgültig verboten, die mir jedoch auch die Gewißheit gaben, daß zwar zarte Farbspiele und -übergänge nicht mehr mein Fall waren, ich aber so deutlich wie eh und je sah, wenn es um lebhafte Farben ging, die sich von einer Masse dunkler Töne abhoben." (Monet zit. nach: Thiébault-Sisson in: Stuckey, 1994, S. 290f.) Nach weiteren Verschlimmerungen konsultierte Monet 1922 einen Arzt in Paris, der ihm zu baldiger Operation des schlechteren Auges riet. Im Januar 1923 wurde Monet operiert. Die Operation führte zur "Wiedergewinnung der Farbenwahrnehmung, aber mit einer vorläufigen Änderung: unmittelbar nach der Entfernung des Linsenstars äußert sich das plötzliche Fehlen dieses Filters in einer sehr intensiven Schau der Farben, die hellstrahlend und beherrscht durch blaue Tönung wahrgenommen werden; ... Monet klagte auch über eine Überbetonung des Gelben oder 'Xanthopsie' ... Entsprechend der Diagnose der Ärzte Coutela und Maawas ... schwächt sich diese farbenbetonte Sicht nach einigen Monaten der Wiederanpassung an die neue Art des Sehens und dank der Benutzung von entsprechend angepaßten Brillengläsern ab." (S. Gache-Patin, Katalog 1980, S. 325. Zit. nach: Hoog, 1984, S. 49.) 1925 schrieb Monet an Marc Elder, er habe nun endlich seine wirkliche Sehkraft wiedergefunden.

8 John S. Werner: Altern mit den Augen Monets. Berlin - New York (Walter de Gruyter) 1997. Sonderveröffentlichung.

9 Boehm, 1997, S. 283.

10 "We tend to see that vision as a kind of veil thrown over the motif, a coloured glass, through which he peered resolutely for the last 15 years. Yet we would do better to interpret it as the advanced stages of a process of training". (Shattuck, 1982, S. 38f.)


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