Methodik
Die vorliegende Arbeit bewegt sich im Grenzgebiet von Kunstwissenschaft
und Pädagogik. Verschiedene Blickwinkel liegen ihr zugrunde. Indem
man Kunstwerke auch als mediale Zeichenträger auffassen kann, werden
die Gegenstände dieser Arbeit faßbar in der erziehungswissenschaftlichen
Teildisziplin Medienpädagogik. Als kunstwissenschaftliche Untersuchungsmethode
habe ich die Rezeptionsästhetik gewählt. Sie steht schon durch
ihre Grundannahme, daß Betrachter 'im Bild' angelegt seien, pädagogischem
Fragen nach möglichen Erfahrungen von Subjekten nahe. Solche, von
Kunstwerken vermittelte Erfahrungen interpretiere ich im Blick auf eine
biographisch orientierte Pädagogik, die an lebensgeschichtlichem Lernen
ebenso interessiert ist wie an kognitiver Wissensvermittlung. Verbindend
über diese, den Teildisziplinen zuordenbaren Methoden stelle ich Grundannahmen
der Ethnomethodologie. Sie erlauben, Kunstwerke als kulturelle Artefakte
und als sinnstiftende Handlungen von Gesellschaftsmitgliedern aufzufassen.
Im ethnomethodologischen Sinne stehen Kunstwerke als auf Interaktion und
Kommunikation gerichtete Äußerungen gleichberechtigt neben Aussagen,
die durch wissenschaftliche Modelle begründbar sind.
Fragestellung und These
Diese Arbeit enthält vier wissenschaftliche Essays. In jedem Essay
untersuche ich einen der oben genannten Gegenstände. Gewählt
habe ich die Gegenstände unter einer bestimmten Fragestellung und
These: Daß es Ausformungen und Konstruktionen von Illusionsräumen
gibt, die kognitiv rezipier- und erfaßbar sind, und andere, die sich
wesentlich als Vollzug einer - nicht nur visuellen - Erfahrung während
der Rezeption beschreiben lassen. Dies läßt sich an den verschiedenartigen
Vermittlungsstrategien der Werke aufzeigen. Pädagogisch faßbar
wird solche Unterscheidung in einer biographisch orientierten Erziehungswissenschaft,
deren Grundzüge ich im folgenden kurz skizziere.
Kognitives und lebensgeschichtliches Lernen
Im Rahmen biographisch orientierter Erziehungswissenschaft kann man
curriculares und lebensgeschichtliches Lernen unterscheiden. Ist ersteres
an der von außen bestimmten, kognitiven Vermittlung von Faktenwissen
orientiert, so vollzieht sich letzteres als eine im Grunde selbstorganisierte
Aufeinanderfolge von Erfahrungen: Jede Erfahrung greift auf Vorerfahrungen
zurück und zieht weitere Erfahrungen nach sich. 1
Lebensgeschichtliches Lernen folgt nicht einer vorausgedachten Systematik,
sondern es erfolgt bei herausgehobenen Gelegenheiten. "Wichtige Ausgangspunkte
für lebensgeschichtliches Lernen sind die Erfahrungen von Widersprüchen
und Brüchen in der etablierten, für gültig gehaltenen Ordnung."
2 Solches Lernen, das im Widerspruch steht mit etablierten
Deutungsmustern, ermöglicht erst Traditionsbrüche. Während
sich curriculares Lernen vorwiegend in zusammengesetzten Zeichensystemen,
diskursiven Texten oder algorithmisierbaren Verfahrensweisen abspielt,
artikuliert sich lebensgeschichtliches Lernen erlebnishaft: Innenwahrnehmungen
werden mit Außenwahrnehmungen verbunden, "Vorsprachliches mit
Sprache, Unbewußtes mit Bewußtem, Gefühl mit Erkenntnis,
Individuelles mit Allgemeinem." 3 Curricular organisiertes
Lernen ist darauf gerichtet, Kognition und Affekte voneinander zu trennen,
und es zielt auf gesellschaftliche Tüchtigkeit und rationale Welterkenntnis.
Lebensgeschichtliches Lernen, dem im Grunde die Suche nach einem befriedigenden
Leben Antrieb gibt, zielt auf die Entwicklung und Gestaltung von Gefühlen.
Gefühle aber sind unter dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität
schwer zu fassen. "In älteren philosophischen und geisteswissenschaftlichen
Traditionen waren sie noch ein Gegenstand ernsthaften Nachdenkens. Heute
findet man über sie am ehesten noch Aussagen in der nichtwissenschaftlichen
Literatur und Kunst" 4 Diesen offensichtlichen Mangel
hat Aldous Huxley in einem ganz anderen Kontext (in einer Untersuchung
über Wahrnehmungen unter dem Einfluß von bewußtseinserweiternden
Drogen) beklagt. Huxley wirbt in seinem Zusammenhang vehement für
eine ganzheitliche Bildung und Ausbildung: "Wir müssen unsere
Fähigkeit bewahren und womöglich verstärken, die Welt unmittelbar
und nicht durch das nur halb durchsichtige Medium von Begriffen anzuschauen,
das jede gegebene Tatsache zu einer nur allzu vertrauten Ähnlichkeit
mit irgendeinem klassifizierenden Etikett oder einer erklärenden Abstraktion
verzerrt. Unsere ganze Bildung, sei sie geistes- oder naturwissenschaftlich,
allgemein oder spezialisiert, basiert vorwiegend auf Sprache und verfehlt
daher den Zweck, den sie erreichen soll. Statt Kinder in voll entwickelte
Erwachsene zu verwandeln, erzeugt sie Studierende der Naturwissenschaften,
die sich nicht bewußt sind, daß die Natur die Grundlage aller
Erfahrung ist." 5 Huxleys Äußerungen implizit
ist, daß er das Verhältnis von unmittelbarer Erfahrung und begrifflichem
Erkenntnisvermögen nicht hierarchisch auffaßt.
Ethnomethodologische Grundannahmen
Die erkenntnistheoretische Grundfrage, wie menschliche Erkenntnis überhaupt
möglich sei, legt die Ethnomethodologie auf alltägliches Handeln
an. Alltagshandeln begreift der ethnomethodologische Ansatz neben theoretischen
Ideen als gleichberechtigt bedeutungskonstituierend, erkenntnis- und sinnstiftend.
Im alltäglichen Handeln konstituiert sich die Gesellschaft durch die
Hervorbringung von Strukturen durch die Gesellschaftsmitglieder. Strukturierungsleistungen
bestehen im Treffen von Unterscheidungen. Voraussetzung dafür ist
ein System von intersubjektiv geteilten Bedeutungen, das es erlaubt, Mehrdeutigkeiten
so zu reduzieren, daß Kommunikation und gegenseitiges Verständnis
überhaupt möglich werden. Die Gemeinsamkeiten, die Bedingung
sind für die gesellschaftliche Interaktion, sind auch deren Resultat:
sie sind eine gesellschaftliche Konstruktion. Solche Konstruktionen unterliegen
prozeßhaften Veränderungen - andernfalls wären weder gesellschaftliches
Handeln noch Individuation möglich. Der Blick auf gesellschaftliche
Wirklichkeit und auf kulturelle Artefakte zeigt deren Komplexität
und Verschiedenheit, die die Ausbildung von Verständigungssystemen
notwendig machen. "Ohne Gemeinsamkeiten ist der gesellschaftliche
Prozeß nicht möglich, ohne Verschiedenheit nicht nötig.
Der gesellschaftliche Prozeß besteht in der Darstellung und Gegenüberstellung
individueller Realitätskonstruktionen auf der Basis gemeinsam geteilter
und vertrauter Wissens- und Verfahrensbestände. Dieser gesellschaftliche
Prozeß ist Gegenstand der Ethnomethodologie." 6
Im Zusammenhang dieser Untersuchung werden die Grundannahmen der Ethnomethodologie
auf folgende Gegenstände angelegt: zunächst auf Kunstwerke als
kulturelle Artefakte, dann auf deren Produktion im Sinne einer bedeutungsstiftenden
Vermittlungsleistung des Künstlers und schließlich auf deren
Rezeption. Die Rezeption von Kunstwerken kann, im Falle der weitgehenden
Übereinstimmung von Wahrnehmungsangebot und Erwartungshaltung, bedeutungsbestätigende
Einordnung in bestehende Wissenszusammenhänge von Betrachtern zur
Folge haben. Oder Rezeption kann bedeutungsstiftende Umordung von
Wissen bewirken, nämlich wenn die Wirklichkeitsauffassung des Betrachters
sich von dem, was sich im Werk vermittelt zeigt, unterscheidet. Im ersten
Falle werden neue Informationen in erlernter Weise interpretiert, im zweiten
können Interpretationsmuster verändert werden. Der Pädagoge
Hermann Giesecke nennt Lernen, das die Veränderung von Mustern nach
sich zieht, eine Erfahrung. Erfahrungen machen ist nicht leicht, denn der
Lernende gerät in eine kognitive Dissonanz, in der Neues den bisherigen
Vorstellungen widerspricht und in deren Folge zumindest partiell neue Selbstdefinitionen
notwendig werden. 7
Kunstwerke - ich spreche hier von visuell, taktil oder akustisch wahrnehmbaren
Gebilden - nehmen als kulturelle Artefakte eine eigentümliche Zwischenstellung
ein. Sie haben bedeutend zu sein - und läge ihre Bedeutung in der
Ablehnung jener Zumutung, so wäre das noch immer Bedeutung. Kunstwerke
sind ihrem Wesen nach irreduzibel, denn was immer sie an Bedeutungen in
sich tragen, ist an ihre komplexe Erscheinungsweise gebunden. Als Erscheinungen
werden Kunstwerke rezipiert wie alles andere auch, und die Vermittlung
von kognitiv Erfaßbarem wird von ihnen durchaus erwartet. Als Artefakte
sind Kunstwerke also keine Naturdinge und insofern per se Bedeutungsträger,
und als erscheinende Wirklichkeit, die Erfahrungen evoziert, sind sie nicht
ohne Verlust übersetzbar.
Kunstwerke bilden auch nicht etwa Wahrnehmungen von Künstlern ab.
Sie sind Interpretationen. Die Differenz zwischen Wahrnehmung und künstlerischer
Niederschrift betrifft gleichfalls den Rezeptionsvorgang. Rezipienten sehen
weder unmittelbar abgebildete Wirklichkeit noch vermittelt sich ihnen unmittelbar
die Wahrnehmung des Künstlers. Der Rezeptionsvorgang, und viel mehr
noch seine Niederschrift, ist deutend.
Rezeption von Kunstwerken ist keine Feststellung objektiver Tatsachen,
sondern Teilnahme an einem Rezeptionsgeschehen - unter der Voraussetzung,
daß die Werkhaftigkeit der Werke im Vollzug der Rezeption angesiedelt
wird. Aus objektivierender Distanz sind sinnliche Erfahrungen unmöglich
zu machen. Deutungen aus solcher Distanz sind streng genommen gegenstandslos.
Reagenzglasbefruchtungen mögen Embryonen erzeugen, doch ersetzen sie
keine Orgasmen. Schlimmer noch glichen so erzeugte Kinder Klonen, denn
Erfahrungen entstehen aus der Begegnung mit Anderem. Für die Beschreibung
und Beurteilung von Kunstwerken ergibt sich das Problem, daß Kunstbetrachter
als Teilnehmer am Geschehen durch ihre subjektive Sicht von Wirklichkeit
die Wirklichkeit beeinflussen. Sie bringen sich ein im wörtlichen
Sinne, und sie bringen immer schon Vorwissen und Deutungsmuster mit, die
ihre Wahrnehmungen bestimmen. Um dennoch Unterscheidungen treffen zu können,
um Aussagen zu ermöglichen, bedarf es der Reflexivität der eigenen
Rolle im Rezeptions- und Deutungsprozeß. Die Notwendigkeit der reflektierten
Partizipation des Forschers am Forschungsgegenstand ist eine weitere Grundannahme
der Ethnomethodologie. Die Reflexivität "markiert eine Position,
die darauf besteht, daß jede Untersuchung der Prozesse des Verstehens
und Herstellens von Sinn selbst wieder ein zu analysierender Vorgang solchen
Prozesses ist." 8
Clifford Geertz legt reflexive Partizipation seiner Methode ethnographischer
Beschreibung zugrunde. Mit 'Thinking of Thoughts' könne man, sagt
Geertz, "das komplizierte intellektuelle Wagnis der 'dichten Beschreibung'"
9 überschreiben. Während 'dünne' Beschreibung
bloße Daten registriert, sucht 'dichte Beschreibung' nach Bedeutungen.
Denn was als Daten bezeichnet wird, ist deren Auslegung. Welche Gegenstände
man im Zusammenhang mit Alltagshandlungen und kulturellen Artefakten auch
untersucht, immer handelt es sich um eine Vielzahl komplexer Strukturen,
die bedeutungstragend und deutungsbedürftig zugleich sind.
Ist es Ethnologen wie Kunstbetrachtern schon nicht möglich, objektive
Daten aufzufinden, so ist es erst recht nicht möglich, Bedeutungen,
an deren Herstellung man partizipiert, in allgemeingültige Begrifflichkeit
zu überführen. Die Theorie ist von den unmittelbaren Momenten
der Beschreibung nicht zu trennen. Im Gegenteil verstellte solcher Versuch
den Blick auf die Gegenstände: "Wenn man Bedeutungskristalle
herausarbeitet, denen nichts mehr von der Komplexität der Materie
anhaftet, aus der sie stammen, und ihre Existenz dann auf autogene Ordnungsprinzipien
... zurückführt, so spiegelt man eine Wissenschaft vor, die es
nicht gibt, und entwirft eine Wirklichkeit, die nicht vorhanden ist. Die
Untersuchung von Kultur besteht darin ..., Vermutungen über Bedeutungen
anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen
erklärende Schlüsse zu ziehen; nicht aber darin, den Kontinent
Bedeutung zu entdecken." 10
Die Zugrundelegung von Partizipation und Deutung führte in der Ethnologie
zur Diskussion, ob Einzelanalysen das reflektieren, was beispielsweise
Eingeborene 'wirklich' denken, oder ob sie ihrem Wesen nach verschiedene
Simulationen ihres Denkens sind. Clifford Geertz unterscheidet zwischen
dem Ereignis und dessen Niederschrift. Niedergeschrieben werden Bedeutungen
von Ereignissen, nicht die Ereignisse selbst. Die Niederschrift ist etwas
aus einer bestimmten Perspektive Gemachtes, insofern ist sie fiktiv. Niederschriften
ist ebensowenig unverfälschter Sinn zu entreißen wie einem Gemälde,
so daß, zöge man die Darstellungsweise von der Darstellung ab,
der Inhalt rein zutage träte. Darstellungsweise und Dargestelltes
stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit. Ludwig Wittgenstein
schrieb im Tractatus logico-philosophicus, wir benützten das wahrnehmbare
Zeichen für die Projektion einer Sachlage. Dazu gehöre "alles
was zur Projektion gehört; aber nicht das Projizierte." 11
Solche Abwesenheit weist auf die grundsätzliche Subjektivität
und Singularität aller Empfindungen: Wir sind, schreibt Aldous Huxley,
"immer und unter allen Umständen ... einsam... In ihren Umarmungen
versuchen Liebende verzweifelt, ihre jeweilige Ekstase in einer gemeinsamen
Transzendenz zu vereinigen - jedoch vergebens... Empfindungen, Gefühle,
Einsichten, Einbildungen - sie alle sind etwas Privates und nur durch Symbole
und aus zweiter Hand mitteilbar. Wir können Berichte über Erfahrungen
austauschen und sammeln, niemals aber die Erfahrungen selbst." 12 Trotzdem haben Menschen so viel Ähnlichkeit miteinander,
daß Verständnis und wechselseitige Einfühlung möglich
sind. Ein wenig können wir darauf vertrauen, daß unser Erlebnis
der Möglichkeit nach von anderen - in nie identischer, aber doch ähnlicher
Weise - geteilt werden kann. Deshalb ist das Sprechen über Erfahrungen
im Angesicht von Kunstwerken sinnvoll.
Medienpädagogische Implikationen
Die verschiedenen Ausformungen der hier untersuchten Illusionsräume
kann man als verschiedenartige Vermittlungsstrategien im Blick auf mögliche
Erfahrungen von Betrachtern lesen. Die Lernprozesse, die derartige Erfahrungen
hervorrufen, sind medial geprägt. Der Rezeptionsvorgang kann als Praxis
medialen Lernens verstanden werden. Im weiteren Sinne sind auch sich entwickelnde
und verändernde Produktionsprozesse, sowie die individuelle und gesellschaftliche
Prägung des Künstlers als medial geprägte Lernprozesse begreifbar.
Die Persönlichkeitsstruktur des Künstlers wird mit ausgebildet
durch seine individuelle Lerngeschichte, durch Kenntnis anderer Werke beispielsweise
oder durch mediengeprägten 'Zeitgeist'. Dazu gehört auch seine
Interaktion mit dem eigenen Werk: Der Künstler ist sein erster Betrachter.
Solche Praxis ist Gegenstand der Medienpädagogik: "Medienpädagogik
ist die erziehungswissenschaftliche Teildisziplin, deren zentraler Gegenstand
medial geprägte individuelle und gesellschaftliche Lernprozesse sind.
Menschliches Kommunizieren, das ganz oder teilweise mittels materieller
Zeichen- und Informationsträger geschieht, ist die Sphäre, in
der sich mediales Lernen abspielt." 13 Um dieses
Lernen aufzuspüren, sind Interpretationsverfahren erforderlich, denn
wie alle Lernvorgänge sind mediale Lernprozesse direkter Beobachtung
unzugänglich. Zugänglich ist das Lernfeld und dessen je besondere
Kommunikationsstruktur, die auf potentielle Lernprozesse verweist. Die
Vorklärung der spezifischen Medienstrukturen ist notwendig, um die
realen Lerngeschichten von Individuen und Gruppen in mediengeprägten
Kommunikationssituationen erforschen zu können. Im Zusammenhang dieser
Arbeit geschieht dies, indem die je medienspezifischen Vermittlungsstrategien
der Werke untersucht werden.
Untersuchungsmethode: Rezeptionsästhetik
Die Erforschung spezifischer Medienstrukturen im Blick auf mögliche
Lernprozesse ist nicht Gegenstand der Kunstwissenschaft. Die Rezeptionsästhetik
als kunstwissenschaftliche Teildisziplin kommt dieser Fragestellung jedoch
sehr nahe, denn sie fragt nach dem im Werk angelegten Betrachter. Werke
werden nicht als isolierte Einheiten betrachtet; vielmehr werden die Bedingungen
reflektiert, unter denen Werk und Betrachter zusammenkommen. Vorgehensweisen
und Interpretationsziele der Rezeptionsästhetik seien hier etwas ausführlicher
beschrieben.
In der Literaturwissenschaft, von der die Kunstwissenschaft die rezeptionsästhetische
Methodik weitgehend übernommen hat, ist die Rezeptionsästhetik
seit Mitte der 70er Jahre etabliert. Wolfgang Iser unterscheidet in 'Die
Appellstruktur der Texte' (1974) 14 herkömmliche
Textinterpretation von jener der Rezeptionsästhetik: Herkömmliche
Interpretation untersucht Texte unabhängig von den verschiedenartigen
Reaktionen der Leser auf in ihnen verborgene Bedeutungen. Dagegen vertritt
Iser die Position, im Lesevorgang, durch die Interaktion zwischen Text
und Leser, erwache der Text zum Leben; durch die im Leser verursachte Reaktion
gelange die komponierte Textgestalt zur Wirkung.
Da Bedeutungen im Lesevorgang entstehen und Produkt der Interaktion zwischen
Text und Leser sind, sind sie zwangsläufig individuell. Texte haben
Spielräume von möglichen Bedeutungen, sie illustrieren nicht
ein für allemal festlegbaren 'Sinn'. Voraussetzung für die Wirkungsmöglichkeit
von Texten ist, daß sie grundlegend unbestimmt sind. Die Unbestimmtheit
von Texten begründet Iser damit - und da stimmt er mit den Implikationen
der Ethnomethodologie überein -, daß literarische Texte keine
empirischen Entsprechungen haben. In Texten vermitteln sich immer Reaktionen
(von Autoren) auf 'Wirkliches'. Texte bieten Ansichten von Wirklichkeiten.
Zwischen den verschiedenen Ansichten sind Schnitte, die Iser 'Leerstellen'
nennt. Leerstellen bieten Auslegungsspielräume, sie werden von Lesern
gefüllt, indem letztere, die ja selbst immer schon eine Beziehung
zur Wirklichkeit haben, Beziehungen zwischen verschiedenen Ansichten herstellen.
Die Schnitt- bzw. Leerstellen sind das Beteiligungs- und Deutungsangebot
an Leser bzw. Betrachter: dort entzünden sich Lernprozesse, dort machen
Leser und Betrachter ihre Erfahrungen. Aus dem Vorhandensein von Leerstellen
schließt Iser auf die Appellstruktur der Texte. In den Leerstellen
ist der Leser im Text impliziert.
Wolfgang Kemp übertrug Mitte der achtziger Jahre den 'impliziten Leser'
von der Literaturwissenschaft auf die Kunstwissenschaft und übersetzte
'Leerstelle' mit 'Betrachterfunktion'. Kemp erklärt die Betrachterfunktion
von Kunstwerken damit, daß der Betrachter in der inneren Organisation
des Werks vorgesehen sei: Der Betrachter ist im Bild. 15
So gibt das Bild mögliche Erfahrungen gleichsam vor: seine Betrachterfunktion
ist die Tür zu möglichen Erfahrungen von Rezipienten.
Im Unterschied beispielsweise zum ikonologischen Kunstverständnis,
das fordert, ein Werk müsse als in sich vollkommene Einheit verstanden
werden, fragt Rezeptionsästhetik nach dem Betrachteranteil im Kunstwerk.
Daß das Werk für jemand gemacht ist, ist konstitutives Moment
des Werks. Die Ikonologie versucht dagegen, den einstigen Sinn des Kunstwerks
mit Hilfe aller erreichbaren bildlichen oder schriftlichen Quellen zu rekonstruieren.
Ziel ist es, das Verständnis des Bildes vom zeitgenössischen
Verständnis ausgehen zu lassen. Der Ikonologe befindet sich damit
in der Nähe des Historikers. Sein Interesse zielt auf eine Geschichte
von Motivwandlungen.
Doch es gibt auch Parallelen in der methodischen Vorgehensweise von Rezeptionsästhetikern
und Ikonologen: unter verschiedenen Gesichtspunkten versuchen beide, historischen
Kontext zu rekonstruieren. Nach der Auswertung der Informationen käme
der Ikonologe zu einem Ergebnis, das sprichwortartig formuliert werden
kann: Das Werk ist unter ikonologischen Gesichtspunkten die Illustration
eines begrifflichen Inhalts. Für den Rezeptionsästhetiker ist
die Rekonstruktion des ursprünglichen Kontextes dagegen deshalb notwendig,
weil er ihn als Vermittlungsstrategie begreift, mit deren Hilfe Kunst als
Kommunikationsmedium Bedeutungen vermittelt. Rezeptionsästhetiker
gehen davon aus, daß ohne Kontext keine Kommunikation möglich
ist, bzw. daß der Kontext - oder die intendierte Abwesenheit von
Kontext - wesentlich zur Vermittlung von Bedeutungen beiträgt. Die
Rezeptionsästhetik hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Zeichen und
Mittel zu erkennen, mit denen Werke in Kontakt mit Betrachtern treten,
um sie deuten zu können im Blick auf ihre möglichen sozialgeschichtlichen
und ästhetischen Aussagen.
In der Kunstwissenschaft und Ästhetik erfährt der Betrachter
im Laufe der Geschichte unterschiedliche Beachtung. Er gerät in den
Blick, wenn z.B. die gesellschaftlichen Anforderungen an die Kunst steigen,
wie etwa zur Zeit der Gegenreformation. Gegenreformatorische Ästhetik
verlangte, daß Kunst den Geschmack aller auf entsprechende Weise
befriedigen solle, da sie den Anspruch hatte, die Trennung in eine elitäre
und eine populäre Kunstsprache aufzuheben, die die Renaissance bewirkt
hatte. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte geriet der Betrachter zunehmend
aus dem Blick. In der Autonomieästhetik des 18. Jahrhunderts hatte
er seinen Platz - zumindest in der Theorie - verloren. Das Kunstwerk kennt
jetzt keinen äußeren Zweck mehr, es ist in sich selbst vollendet.
Für den Betrachter gibt es jetzt keinen Weg mehr zum Bild, sondern
nur noch das meditative Sich-Versenken in etwas von ihm völlig Verschiedenes.
Das Nicht-Wirken-Wollen wurde zum Merkmal echter Kunst. Betrachter sind
nur noch insofern notwendig, als das Schöne ihrer bedarf, um erkannt
zu werden. Das sind die Kerngedanken idealistischer Ästhetik.
Die Rezeptionsästhetik will das von der Autonomieästhetik verschüttete
Verhältnis zwischen Bild und Betrachter freilegen. Sie geht davon
aus, daß Künstler ihre Werke - trotz allen ästhetischen
Vorgaben - zu jeder Zeit auch auf Wirkung, das heißt in Bezug auf
Betrachter angelegt haben. Diese Bezüge will sie thematisieren und
heutigen Betrachtern zugänglich machen. Darin erweist sich zugleich
der pädagogische Impuls der Rezeptionsästhetik, denn ihr Interesse
ist auf potentielle Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten von Betrachtern
im Angesicht von Kunstwerken beziehbar.
Kemp unterscheidet für die rezeptionsästhetische Interpretation
zwischen äußeren Zugangsbedingungen zum Werk und inneren Rezeptionsvorgaben
des Werks. Innere Rezeptionsvorgaben geschehen formal mittels der Komposition
oder der Darstellung einer Handlung. Beispielsweise wird der Betrachter
durch die räumliche Einrichtung von Bildern - durch die An- oder Abwesenheit
perspektivischer Konstruktionen - zum Bild hin situiert: Standpunkte werden
vorgegeben. Äußere Zugangsbedingungen können sein architektonische
Zusammenhänge oder kultische Rituale. Das Werk reagiert auf seinen
räumlichen und funktionalen Kontext durch die Eigenheiten des jeweiligen
Mediums (Plastik, Malerei), durch seine Größe und durch die
Gestaltung des Übergangs zwischen Bild- und Betrachterraum.
Solche Kontextmarkierungen zeigen auf das dialogische, interaktive, also
auch pädagogische Potential der Werke. Kontextmarkierungen, Unbestimmtheits-
oder Leerstellen sind Orientierungsformen, die Werke ihren Betrachtern
bieten. Schließlich existieren auch auf der Seite des Betrachters
Zugangsbedingungen zum Werk: seine sozialen und biographischen Voraussetzungen,
seine Lerngeschichte. Unter diesen Bedingungen (das ist sein Anteil am
Dialog) erscheint ihm das - deshalb historisch veränderliche - Werk.
Insofern können, vom Werk bzw. Künstler aus betrachtet, Betrachter
als Unbestimmtheits- oder Leerstellen angesehen werden.
Die Gegenstände im Zusammenhang mit Fragestellung und These
Im Zusammenhang mit meiner These, daß schlichtes Rezipieren von
bedeutungsstiftenden Erfahrungen unterschieden werden kann - also begriffliches
von nichtbegrifflichem Verstehen - beschreibe ich zwei Tendenzen bei der
Ausformung von Illusionsräumen. Es gibt Formen, die ich 'konstruierte
Räume' nenne und die tendenziell auf Begriffliches reduzierbar sind
- nicht allerdings die damit mögliche Erfahrung, auf die sie zwar
lenkend einwirken, die sie jedoch nicht vollständig determinieren.
Und es gibt Erscheinungsweisen, bei denen solche Reduktion nicht möglich
ist, denn sie gründen vielmehr auf einem bestimmten Gewahrsein der
Welt: Auf der Apperzeption des Künstlers, der sein Sehen und Fühlen
seinem Werk einschreibt. Solche Räume vermitteln ihren Rezipienten
eine andere, weit weniger im Kognitiven gründende, Erfahrung. Ich
nenne sie 'visionäre Räume'.
Unter den Gegenständen dieser Untersuchung, den verschiedenen Ausformungen
von Illusionsräumen, verstehe ich reale, betretbare Räume, in
denen in verschiedener Weise illusionistische Darstellungen und/oder Medien
im weiteren Sinne installiert sind. Zur Sprache kommen Werke, die entweder
als 'konstruierte' oder als 'visionäre' Räume charakterisiert
werden können, und solche, in denen beide Formen auftreten.
Die konstruierte Form führe ich im weitesten Sinne zurück auf
das 'geöffnete Fenster' der Renaissance, also auf die perspektivische
Konstruktion, die in letzter Konsequenz in das newtonisch-cartesianische
Weltbild mündet. 16 Charakteristisch für den
visionären Raum ist beispielsweise eine nicht gegenstandsgebundene
Farbwirkung. Die visionären Räume werden zu erläutern sein
anhand älterer und aktueller Wahrnehmungsmodelle und Weltbilder: Das
ist das Modell des subjektiven Sehens und das sind Modelle, die aus der
neueren Naturwissenschaft hervorgingen.
Der konstruierte entgegen dem visionären Raum: Mesdag und Monet
In den ersten beiden Kapiteln untersuche ich als antipodische Beispiele
Hendrik Willem Mesdags 'Panorama von Scheveningen' in Scheveningen
bei Den Haag (eröffnet 1881) und Claude Monets 'Nymphéas'
in der Orangerie zu Paris (eröffnet 1927). Beide Anlagen sind als
den Betrachter umgebende Räume konzipiert. Das Panorama ist kreisrund
und bietet dem in seiner Mitte stehenden Betrachter eine vollkommene Illusion
dar. Monets 'Nymphéas', das sind acht sehr große Leinwände,
die in zwei hintereinanderliegenden ovalen Räumen an den Wänden
installiert sind. In beiden Fällen sind die Betrachter von Leinwänden
umgeben, die Blicke in Landschaften zeigen. Mesdag zeigt von einer Düne
aus den Rundumblick auf die zeitgenössische Szenerie: den Meeresstrand
und das Dorf Scheveningen. Monet malte seinen Seerosengarten in Giverny.
Der Blick beider Maler auf die Natur ist grundverschieden. Mesdag bietet
auf der konstruktiven Basis einer modifizierten Zentralperspektive den
Überblick über eine Kulturlandschaft. Monets Malerei gründet
dagegen in einem Wahrnehmungsvermögen, das ich gegenüber der
utilitaristischen Erfassung von Gegenständen und deren Einordnung
in einen vorgefertigten Raum als erweitert bezeichnet möchte.
Der Kunstkritiker Roger Fry bemerkte in einem Gespräch mit Aldous
Huxley, Monets Seerosen hätten kein Recht darauf, so schockierend
unorganisiert zu sein, so völlig eines ordentlichen kompositorischen
Gerüsts zu entbehren. Und doch, mußte er zugeben, wirkten sie
entrückend. Monet malte eine Großaufnahme natürlicher Gegenstände
in ihrem eigenen Zusammenhang und ohne Beziehung auf ausschließlich
menschliche Vorstellungen davon, wie die Dinge sind oder sein sollten.
Nur der Mittelgrund und der entfernte Vordergrund seien, meint Huxley,
ausschließlich menschlich: "Sobald wir in große Nähe
oder große Ferne blicken, verschwindet der Mensch ganz und gar oder
verliert seinen Vorrang... Etwas Ähnliches widerfährt dem kurzsichtigen
Künstler", meint Huxley in Anspielung auf Monets Augenleiden,
"und dem glücklich Liebenden. In der vermählenden Umarmung
zerschmilzt die Persönlichkeit, das Einzelwesen ... hört auf,
es selbst zu sein und wird Teil des riesigen unpersönlichen Weltalls.
Und so ist es auch mit dem Maler, der sich dazu entschlossen hat, seine
Augen auf die unmittelbare Nähe zu richten. In seinem Werk verliert
die Menschheit ihre Wichtigkeit." 17
Damit ist skizziert, was Monets Seerosen von panoramatischen Landschaftsdarstellungen
unterscheidet. Das Panorama bezieht sich, auf der Basis eines Blickes,
der analog den Abbildungen der Camera obscura verstanden wurde, auf den
aufrecht seiner Welt gegenüberstehenden Menschen. Symptomatisch für
das Panorama ist die virtuelle Linie des Horizonts. Der Begriff 'Horizont'
tauchte zuerst in wissenschaftlichen Zusammenhängen auf, nicht als
reales Faktum. Der Horizont ist Teil einer technisch-mathematischen Konstruktion
zum Zweck der Erschließung neuer Räume. Als mathematische Konstruktion
wirkte der Horizont zurück auf die Organisation des Sehens: "Erst
mit dem 'Einklinken' des Gewirrs perspektivischer Flucht- und Konstruktionslinien
im Augenpunkt auf dem Horizont gewann der bis dahin schwankende Sehraum
Solidität." 18 Das Panorama begreift Oettermann
als Simulator solchen Blickens, als 'Sehmaschine': "Im Rundgemälde
etabliert sich das Erlebnis des Horizonts als Kunstform; indem es so an
Dauer gewann, wurde das Panorama zur Schule des Blicks, zum optischen Simulator,
in der der extreme Sinneseindruck, das sensationelle, weil ungewohnte Erlebnis
immer wieder und wieder geübt werden konnte, bis es zur Selbstverständlichkeit
und zum alltäglichen Bestandteil menschlichen Sehens wurde. Geprägt
vom panoramatischen Blick beginnt das Panorama den panoramatischen Blick
zu prägen. So wird es zum Muster, nach dem sich von nun an die Seherfahrungen
organisieren." 19 Der Illusionsraum Panorama hätte
also pädagogische Qualitäten eines Massenmedium, welches individuelles
Blicken gleichsam verallgemeinert: Die panoramatische Welt ist ein Aktionsfeld
zweckgebundenen menschlichen Handelns. Seerosen wären, kämen
sie vor, bloße Dekoration.
Monets Welt ist, obgleich dem Panorama gegenüber mikroskopisch, nicht
überschaubar. Der Horizont kommt nicht vor. Seerosen, Wasseroberflächen
und Spiegelungen sind in einem Farbraum verbunden. Seiner erlernten
Fixpunkte beraubt, gleitet der Blick des Betrachters an den Farbwolken
vorüber. Während im Rund des Panoramas der Betrachter in stets
gleichbleibender Distanz zur Leinwand gehalten wird, wechseln im ovalen
Raum für den sich bewegenden Betrachter Nah- und Fernsicht kontinuierlich.
In der Nahsicht tritt der abbildende Charakter der Seerosen beinah ganz
zurück und weicht reinen Farbräumen. 20 Solche
Farbräume verweisen nicht länger auf Objekte außer uns,
sie führen vielmehr nach innen. Monets Farbräume vermitteln Erfahrungen,
die nicht, wie jene vom Panorama ermöglichten, erlernte und zweckgebundene
Sehmuster bestätigen, sondern Begriffsrahmen gerade sprengen. Indem
sie derartige, unter utilitaristischen Gesichtspunkten nutzlose, Erfahrungen
bereithalten, ermöglichen sie zugleich die Reflexion der Begrenztheit
solcher Schemata. Das ist nicht leicht. Konstruktionen, die wie die Zentralperspektive
auf Ideen basieren, sind planbar und ihr Ergebnis ist vorhersehbar. Arnold
Gehlen beschreibt treffend unsere Schwierigkeiten, mit Erfahrungen, wie
sie visionäre Räume bereithalten, umzugehen: "Der Gegenwart
ist sehr weitgehend das Gefühl dafür abhanden gekommen, daß
es Erfahrungen geben könnte, die nicht in der Vorstellung vorwegzunehmen
sind." 21 Dabei betrifft die Unmöglichkeit
vorstellender Vorwegnahme im Grunde alle emotionalen und körperlichen
Erlebnisse. Es gibt, um ein harmloseres Beispiel anzuführen, eine
fundamentale Abweichung zwischen der Vorstellung von Zahnschmerz und Zahnschmerz.
22 Emotionale und körperliche Erlebnisse sind jedoch
lebensgeschichtlich zweifellos relevant: Sie prägen den Bildungsgang
von Individuen.
Der konstruierte und der visionäre Raum: Holographie und barocker
Kirchenraum
Bezüglich meiner Ausgangsthese, daß es Illusionsräume
gibt, in denen Konstruiertes neben Visionärem besteht, schien mir
eine Verwandtschaft zu bestehen zwischen holographischen Räumen und
barocken Kirchenräumen. In beiden Ausformungen finden sich, in verschiedener
Weise, die konstruierten und visionären Tendenzen, die ich bei Mesdag
und Monet beschreibe. Im Zusammenhang mit den rezeptionsästhetischen
Implikationen, daß Werke kontextgebunden sind und Betrachter immer
schon in sich tragen, wird angesichts des holographischen Raums und des
Kirchenraums besonders deutlich, daß sie nicht reproduzierbar sind.
23 Das barocke Raumerlebnis ist wesentlich Umraumerlebnis,
die Rezeption von Hologrammen ist an die raumzeitliche Anwesenheit und
Bewegung von Betrachtern eng gebunden.
Philippe Boissonnet
Die holographische Aufzeichnungsweise ähnelt auf den ersten Blick
der fotografischen: Ein Objekt wird - mit einem Laser allerdings - beleuchtet,
und das vom Objekt gestreute Licht wird auf einer lichtempfindlichen Platte
registriert. Aufgezeichnet wird aber nicht ein Bild des Objekts, sondern
ein sehr feines Interferenzmuster. Mit Hilfe dieses Interferenzmusters
kann die Form des Objekts rekonstruiert werden. Hologramme sind immaterielle
optische Erscheinungen, die nur sichtbar werden, wenn man die Positionen
von Hologramm, Licht und möglichen Betrachterstandpunkten bedenkt
und plant. Abbildende Hologramme zeigen die dreidimensionale Erscheinung
holographierter Objekte. Um die gesamte gespeicherte Information lesen
zu können, müssen sich Betrachter vor Hologrammen bewegen, und
es gibt keine Stelle, von der aus die holographische Erscheinung in ihrer
Gesamtheit überschaubar wäre.
Den besonderen Eigenschaften des Mediums entsprechend, bedenken die meisten
Künstler, die mit Hologrammen arbeiten, schon bei der Planung ihrer
Werke mögliche Betrachterstandpunkte - die Betrachter sind gleichsam
bereits konzeptuell im Bild vorgesehen. Das setzt sich auf der theoretischen
Ebene fort. Den meisten Betrachtern ist die Holographie (wenn überhaupt)
bekannt als ein Medium, mit dessen Hilfe dreidimensionale Illusionen hergestellt
werden können. Viele Künstler begreifen dies als Mißverständnis
und reagieren darauf, indem sie selbst Theorien entwickeln, mit deren Hilfe
das Medium in ihrem Sinne angemessen rezipiert werden kann. Aus Äußerungen
von Holographiekünstlern ist immer wieder herauszulesen, daß
sie ihr Medium nicht als Vervollkommnung illusionistischer Medien verstanden
wissen wollen, sondern es beispielsweise kunsthistorisch in Verbindung
setzen mit der Lichtkunst der sechziger Jahre. Auch Philippe Boissonnet,
dessen interaktive Installationen ich im dritten Kapitel untersuche, reflektiert
die Potentiale des Mediums in Form von Aufsätzen und Vorträgen.
Boissonnet (der davon abgesehen das Schriftmedium zur Klärung und
Reflexion seiner eigenen Positionen nutzt) bringt das Medium - seiner Herkunft
als Lichterscheinung entsprechend - in Verbindung mit naturwissenschaftlichen
Modellen, denen die Abkehr vom kausal-linearen Denken implizit ist, und
die vielmehr auf der Relativität von Standpunkten und auf der begrenzten
Reichweite von Modellen bestehen.
In den holographischen Installationen Philippe Boissonnets gibt es zwei
Aspekte, die auf das Ineinandergreifen konstruierter und visionärer
Elemente weisen. Boissonnet bietet den Betrachtern Repräsentationen
mentaler Konstrukte dar: in den untersuchten Installationen ist das der
medial bearbeitete und modifizierte Globus. Der kognitive Strang geht einher
mit der erlebnishaften Rezeption der Installationen. Zudem präsentiert
Boissonnet Hologramme, die einen spezifisch holographischen Raum in Verbindung
mit der schattenhaften Anwesenheit menschlicher Körper zeigen. Die
erlebnishafte Rezeption und die Präsentation des holographischen Raums
legen Spuren aus zu den Gedankenmodellen des holographischen Universums.
Aus ihnen kann man den Versuch herauslesen, die harten Daten der Naturwissenschaft
auf die Wirklichkeit von Alltagswahrnehmungen zu beziehen.
Die Brüder Asam
Das Nebeneinander konstruierter und visionärer Räume erläutere
ich anhand der spätbarocken Klosterkirche St. Ursula in Straubing,
die, 1736 begonnen, das letzte Gemeinschaftswerk der Brüder Asam darstellt.
Das barocke Deckengemälde reißt die Decke auf. Der Ausblick
ist visionär. Gezeigt wird das Visionäre mittels perspektivischer
Konstruktion. 24 Die Konstruktion fungiert als Wahrnehmungsbrücke
für Betrachter: Das Visionäre erscheint in vertrauter, leicht
entzifferbarer Weise. Entschieden getrennt werden müssen solche, mit
Hilfe perspektivischer Konstruktion erzeugten Raumgefüge von visionären
Räumen, die bewirkt werden durch das goldene und farbige Geflimmer
der barocken Innenräume. Die Farbräume wirken in ganz anderer
Weise als die konstruierten Ausblicke. Ist das perspektivische Bild gekennzeichnet
durch Überblick, so das visionäre durch Einblick. Dem visionären
Raum steht der Betrachter nicht gegenüber. Er wird von ihm umfangen.
Aldous Huxley weist in 'Die Pforten der Wahrnehmung' auf eine Parallele
zu Wahrnehmungen, wie sie mit Hilfe bewußtseinserweiternder Drogen
gemacht werden können: Wie Drogen befördern die flimmernden Farbräume
eine andere als die überblickende Weltwahrnehmung. Solche Wahrnehmungsweise
ist im utilitaristischen Sinne nutzlos. Visionäre Räume, behaupte
ich, zeigen (und das läßt sich vielleicht mit dem Überschuß
sensorischer Stimulanz erklären, der kognitiv nicht genutzt wird 25) eine entgrenztere Welt. Wir blicken auf sie staunend
wie ein Kind auf ein leuchtendes Blütenblatt. Dem Kind erscheint das
Blatt beseelt. Es trägt ein Geheimnis, gleich dem märchenhaften
Karfunkelstein. Charakteristisch für den visionären Räum
sind Licht und Farben, charakteristisch für den konstruierten ist
die eindeutige Lesbarkeit symbolhafter Zeichen. Die visionäre Welt
ist irreduzibel, und sie erscheint in einer Weise, in der der Betrachter
Anteil an ihr hat. Sie ist nicht etwas von der Alltagswahrnehmung vollständig
Getrenntes, vielmehr gründet sie in ihr.
Im barocken Kirchenraum weisen die visionären Flimmerräume auf
lichthafte göttliche Anwesenheit - genau genommen sind sie nicht zeichenhafter
Hinweis, sondern erzeugen solche Anwesenheit als Erfahrung -, während
der im aufgerissenen Himmel dargestellte Gott seinen hinweisenden
Zeichencharakter behält. Die konstruierten und die visionären
Räume sind im barocken Gesamtkunstwerk so ineinander verschränkt,
daß die verschiedenartigen Wahrnehmungsweisen sich gegenseitig verstärken.
Auf diese Weise wird im gegenreformatorischen Sinne die Gemeinde zum Glauben
hingezogen. Das kann man auch als den größeren oder raffinierteren
Betrug ansehen. Ohne Zweifel wollte das barocke Gesamtkunstwerk den Betrachter
- im Dienste der Kirche - überwältigen. Zu diesem Zweck nutzt
es beides: die Lesbarkeit der Zeichen und die überwältigende
Erlebnisqualität des flimmernden visionären Raums. Für diese
These spricht, daß barocke Kirchenräume im Sinne der gegenreformatorischen
Ästhetik eng betrachterbezogen, geradezu erzieherisch konzipiert wurden.
Barocke Maler hatten verschiedene Sorten von Betrachtern zu bedenken: den
Laien, der durch die Bilder erbaut und belehrt werden sollte, den Geistlichen,
dem sie Hinweis auf theologische Gehalte sein sollten und den Künstlerkollegen
beziehungsweise Kunstexperten, der die malerische Leistung anerkennen sollte.
Barocke Maler mußten ihre Vermittlungsstrategien also so ausrichten,
daß all diese Anforderungen erfüllt wurden.
Die vier Gegenstände und ihre Analogien
Aus der Beschreibung der Gegenstände wird deutlich, daß ich
hier nicht nur die Gegenstände innerhalb eines bestimmten methodischen
Rahmens untersuche, sondern in je verschiedener Weise Beziehungen herzustellen
suche zu theoretischen Ansätzen, die ich ihrerseits mit den Vermittlungsstrategien
der Werke eng verbunden sehe. Im Falle von Mesdags Panorama handelt es
sich um die historische Rekonstruktion des perspektivischen Weltbildes
mit seinen Auswirkungen auf Wahrnehmungsmodelle. Im Zusammenhang mit Monets
Werk kommt zur Sprache die zeitgenössische, aus der physiologischen
Optik von Johannes Müller und Hermann von Helmholtz hervorgegangene
Theorie des subjektiven Sehens und, damit verbunden, die Erläuterung
erweiterter Wahrnehmung anhand von Huxleys Analyse von Wahrnehmungen unter
dem Einfluß von Halluzinogenen. Auch für die Interpretation
von Boissonnets Werken habe ich zeitgenössische Theorien verwendet,
das legen nicht zuletzt die Äußerungen des Künstlers nahe,
der sich solchen Theorien verbunden fühlt. Naturwissenschaftlich fundierte
'holistischen' Theorien sind schon in Bezug auf die optisch-technischen
Voraussetzungen zur Herstellung von Hologrammen relevant und viel mehr
noch in Bezug auf deren Rezeption. Im letzten Kapitel spreche ich, neben
der ikonologisch angehauchten Interpretation der flimmernden Erscheinungen,
die Rezeptionsgeschichte barocker Kunst an. Im Rahmen der methodologischen
und methodischen Vorgaben meiner Untersuchungen ist es nicht intendiert,
die zeitgenössische Deutung des Kirchenraums freizulegen. Vielmehr
geht es im rezeptionsästhetischen Sinne um die Aktualisierung des
Werks unter heutigen Interessen und Blicken, die von ganz anderen - mentale
Konstruktionen wie die Wahrnehmung betreffenden - Einflüssen und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen geprägt sind. Deshalb steht hier - entgegen der
historischen Abfolge - das älteste Werk an letzter Stelle.
Vorgehensweise und Textgestalt: der Essay
Es geht in dieser Untersuchung nicht darum, aus Gegenständen Bedeutungen
herauszulesen, die in vorgeformte Begriffssysteme eingeordnet werden könnten.
Vielmehr suche ich in interpretierender Annäherung nach Spuren, die
sich aus der Perzeption der Werke ebenso ergeben wie aus analogiehaft aufgefaßten
wissenschaftlichen Modellen und Entwürfen. Mit Hilfe dieser Modelle
versuche ich, im Sinne von Clifford Geertz' 'dichter Beschreibung', eine
deutende Annäherung an die Phänomene der Kunst und an die von
ihnen vermittelten Erfahrungen. Da die theoretischen Aspekte ganz eng an
die Gegenstände gebunden sind und nicht in einem übergreifenden
Entwurf aufgehen, sind die Untersuchungsergebnisse von ihren Gegenständen
nur schwer zu abstrahieren. Bezüglich der Theoriebildung in der Ethnologie
sagt Geertz, man könne keine allgemeine Theorie der Kultur schreiben,
"weil die Hauptaufgabe der Theoriebildung in der Ethnologie nicht
darin besteht, abstrakte Regelmäßigkeiten festzuschreiben, sondern
darin, 'dichte Beschreibung' zu ermöglichen. Es werden keine allgemeinen
Aussagen angestrebt, die sich auf verschiedene Fälle beziehen, sondern
nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalls." 26
In diesem Sinne verstehe ich die Interpretationen in meinen Kapiteln. Geertz
sieht den Essay als das natürliche Genre kultureller Interpretationen
an. Angesichts meiner Orientierung an der Ethnomethodologie begreife ich
die Gegenstände meiner Arbeit (die Kunstwerke) als kulturelle Artefakte
und betrachte ihre Rezeption als eng mit dem Alltagshandeln und der Alltagswahrnehmung
von Rezipienten verbunden. Die vier Kapitel haben deshalb, in Anlehnung
an Geertz, die Form wissenschaftlicher Essays.
In jedem Essay finden sich zwei Stränge wieder: zum einen die Beschreibung
der vor den Kunstwerken möglichen Erfahrungen, und zum anderen Analogien
aus wissenschaftlicher Theoriebildung zur Entstehungsgeschichte oder medialen
Besonderheit des jeweiligen Werks. Der Kontrast beider Stränge verweist
auf die Unterscheidung von lebensgeschichtlichem und curricularem Lernen.
Nun spielen sich individuelle Lerngeschichten auf vielerlei Ebenen ab.
In der Wirklichkeit ist curricular erworbenes von lebensgeschichtlich erfahrenem
Wissen nie vollständig getrennt. Beides greift ineinander, beeinflußt
sich gegenseitig und bildet so den gesamten Wissens- und Erfahrungszusammenhang
aus. Für die vorliegende Untersuchung ist das in folgender Hinsicht
von Relevanz: Die Erfahrungen im Angesicht von Kunstwerken berühren
fast immer beides: Kognitiv erlernte Zusammenhänge und lebensgeschichtlich
Erfahrenes - auch auf ganz anderen Ebenen als jenen der Kunst. Zugleich
ist in den Vermittlungsstrategien der Werke beides aufzufinden: die Anknüpfung
an erlernte Wissenszusammenhänge und die Ermöglichung von Erfahrungen,
die in ganz anderen Bereichen fußen - beispielsweise auf der körperlich-sensorischen
Verfassung der Betrachter. Diese Verbindung hat Auswirkungen auf den Bildungsgang
von Individuen, und sie ist für eine ganzheitliche Entwicklung geradezu
notwendig: "Ohne systematisches vernunftgemäßes Denken",
schreibt Aldous Huxley, "könnten wir als Spezies oder Individuen
unmöglich auskommen. Aber wenn wir geistig gesund bleiben wollen,
können wir auch unmöglich ohne unmittelbare Wahrnehmung - je
unsystematischer, desto besser - der inneren und der äußeren
Welt, in die wir geboren wurden, auskommen. Diese gegebene Wirklichkeit
ist ein Unendliches, das sich allem Verständnis entzieht und sich
doch auf eine unmittelbare Weise gewissermaßen in seiner Gesamtheit
erfassen läßt. Sie ist etwas Transzendentes, das nicht der menschlichen
Ordnung angehört. Und doch kann sie uns gegenwärtig sein als
eine empfundene Immanenz, ein erlebtes Teilhaben. Erleuchtet zu sein heißt,
der gesamten Wirklichkeit als eines immanenten Andersseins gewahr zu sein
- ihrer gewahr zu sein und doch in dem Zustand zu verbleiben, wo man sich
als Lebewesen am Leben erhalten muß, als Mensch denkt und fühlt
und, sofern es erforderlich ist, mit Vernunft systematisch handelt. Unser
Ziel ist es, zu entdecken, daß wir immer schon dort waren, wo wir
sein sollten." 27 Das Ineinandergreifen von kognitiv-curricularem
und lebensgeschichtlichem Lernen scheint eine versteckte pädagogische
Intentionalität von Kunstwerken zu sein - insofern bestimmt es die
Fragestellung meines Textes wie seine Gestalt.