Zurück
Gabriele Schmid:  Illusionsräume
Home

 

EINLEITUNG

 

                                                                                     Ein Kunstwerk ist
                                                                                     wirklich, weil es wirkt.
                                                                                     Wie nichts anderes.
                                                                                             

Max. J. Kobbert          

 

Die Gegenstände


In der vorliegenden Arbeit untersuche ich Kunstwerke auf ihre Konstruktionen und Vermittlungsstrategien und im Blick auf in letzteren aufscheinende mögliche Erfahrungen von Betrachtern. Die Gegenstände, das sind vier verschiedene Ausformungen von Illusionsräumen.

 

 

 

Im ersten Kapitel untersuche ich das Panorama von Scheveningen bei Den Haag des Landschaftsmalers Hendrik Willem Mesdag (1881). Ein Panorama ist ein Rundbau, in den eine umlaufende Leinwand so eingebracht ist, daß Betrachter eine vollkommene Illusion des Dargestellten präsentiert bekommen. Panoramen waren im 19. Jahrhundert sehr populär.

 

 

 

 

 

 

 

 

 Im zweiten Kapitel kommt eine Installation impressionistischer Gemälde zur Sprache, und zwar Claude Monets 'Nymphéas' in der Orangerie der Tuileriengärten in Paris (1927). Dort sind in zwei eigens dafür entworfenen ovalen Räumen sehr großformatige Leinwände, die Wasserlandschaften zeigen, auf den Wänden angebracht. Monets Seerosen erfahren erst seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts größere Beachtung.

 

 

 

 

 

 

 

 

Im dritten Kapitel untersuche ich drei interaktive Installationen mit Hologrammen des kanadischen Künstlers Philippe Boissonnet (1992-1996). Hologramme zeigen die abgebildeten Objekte als dreidimensionale, immaterielle Lichterscheinungen. Hologramme sind heute hauptsächlich bekannt im angewandten Bereich - auf Scheckkarten beispielsweise - und als Kitsch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 Im vierten Kapitel schließlich kommt ein barocker Kirchenraum zur Sprache,
dieKlosterkirche St. Ursula in Straubing von den Brüdern Cosmas Damian und Egid Quirin Asam (1741). Barocke Illusionsräume sind als Gesamtkunstwerke im Blick auf die Vermittlung theologischer Programme angelegt. Als eigenständige Kunstformen werden sie erst seit dem späten 19. Jahrhundert angesehen.

 

 

 

 

 

 

Methodik

Die vorliegende Arbeit bewegt sich im Grenzgebiet von Kunstwissenschaft und Pädagogik. Verschiedene Blickwinkel liegen ihr zugrunde. Indem man Kunstwerke auch als mediale Zeichenträger auffassen kann, werden die Gegenstände dieser Arbeit faßbar in der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin Medienpädagogik. Als kunstwissenschaftliche Untersuchungsmethode habe ich die Rezeptionsästhetik gewählt. Sie steht schon durch ihre Grundannahme, daß Betrachter 'im Bild' angelegt seien, pädagogischem Fragen nach möglichen Erfahrungen von Subjekten nahe. Solche, von Kunstwerken vermittelte Erfahrungen interpretiere ich im Blick auf eine biographisch orientierte Pädagogik, die an lebensgeschichtlichem Lernen ebenso interessiert ist wie an kognitiver Wissensvermittlung. Verbindend über diese, den Teildisziplinen zuordenbaren Methoden stelle ich Grundannahmen der Ethnomethodologie. Sie erlauben, Kunstwerke als kulturelle Artefakte und als sinnstiftende Handlungen von Gesellschaftsmitgliedern aufzufassen. Im ethnomethodologischen Sinne stehen Kunstwerke als auf Interaktion und Kommunikation gerichtete Äußerungen gleichberechtigt neben Aussagen, die durch wissenschaftliche Modelle begründbar sind.

Fragestellung und These

Diese Arbeit enthält vier wissenschaftliche Essays. In jedem Essay untersuche ich einen der oben genannten Gegenstände. Gewählt habe ich die Gegenstände unter einer bestimmten Fragestellung und These: Daß es Ausformungen und Konstruktionen von Illusionsräumen gibt, die kognitiv rezipier- und erfaßbar sind, und andere, die sich wesentlich als Vollzug einer - nicht nur visuellen - Erfahrung während der Rezeption beschreiben lassen. Dies läßt sich an den verschiedenartigen Vermittlungsstrategien der Werke aufzeigen. Pädagogisch faßbar wird solche Unterscheidung in einer biographisch orientierten Erziehungswissenschaft, deren Grundzüge ich im folgenden kurz skizziere.

Kognitives und lebensgeschichtliches Lernen

Im Rahmen biographisch orientierter Erziehungswissenschaft kann man curriculares und lebensgeschichtliches Lernen unterscheiden. Ist ersteres an der von außen bestimmten, kognitiven Vermittlung von Faktenwissen orientiert, so vollzieht sich letzteres als eine im Grunde selbstorganisierte Aufeinanderfolge von Erfahrungen: Jede Erfahrung greift auf Vorerfahrungen zurück und zieht weitere Erfahrungen nach sich. 1 Lebensgeschichtliches Lernen folgt nicht einer vorausgedachten Systematik, sondern es erfolgt bei herausgehobenen Gelegenheiten. "Wichtige Ausgangspunkte für lebensgeschichtliches Lernen sind die Erfahrungen von Widersprüchen und Brüchen in der etablierten, für gültig gehaltenen Ordnung." 2 Solches Lernen, das im Widerspruch steht mit etablierten Deutungsmustern, ermöglicht erst Traditionsbrüche. Während sich curriculares Lernen vorwiegend in zusammengesetzten Zeichensystemen, diskursiven Texten oder algorithmisierbaren Verfahrensweisen abspielt, artikuliert sich lebensgeschichtliches Lernen erlebnishaft: Innenwahrnehmungen werden mit Außenwahrnehmungen verbunden, "Vorsprachliches mit Sprache, Unbewußtes mit Bewußtem, Gefühl mit Erkenntnis, Individuelles mit Allgemeinem." 3 Curricular organisiertes Lernen ist darauf gerichtet, Kognition und Affekte voneinander zu trennen, und es zielt auf gesellschaftliche Tüchtigkeit und rationale Welterkenntnis. Lebensgeschichtliches Lernen, dem im Grunde die Suche nach einem befriedigenden Leben Antrieb gibt, zielt auf die Entwicklung und Gestaltung von Gefühlen. Gefühle aber sind unter dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität schwer zu fassen. "In älteren philosophischen und geisteswissenschaftlichen Traditionen waren sie noch ein Gegenstand ernsthaften Nachdenkens. Heute findet man über sie am ehesten noch Aussagen in der nichtwissenschaftlichen Literatur und Kunst" 4 Diesen offensichtlichen Mangel hat Aldous Huxley in einem ganz anderen Kontext (in einer Untersuchung über Wahrnehmungen unter dem Einfluß von bewußtseinserweiternden Drogen) beklagt. Huxley wirbt in seinem Zusammenhang vehement für eine ganzheitliche Bildung und Ausbildung: "Wir müssen unsere Fähigkeit bewahren und womöglich verstärken, die Welt unmittelbar und nicht durch das nur halb durchsichtige Medium von Begriffen anzuschauen, das jede gegebene Tatsache zu einer nur allzu vertrauten Ähnlichkeit mit irgendeinem klassifizierenden Etikett oder einer erklärenden Abstraktion verzerrt. Unsere ganze Bildung, sei sie geistes- oder naturwissenschaftlich, allgemein oder spezialisiert, basiert vorwiegend auf Sprache und verfehlt daher den Zweck, den sie erreichen soll. Statt Kinder in voll entwickelte Erwachsene zu verwandeln, erzeugt sie Studierende der Naturwissenschaften, die sich nicht bewußt sind, daß die Natur die Grundlage aller Erfahrung ist." 5 Huxleys Äußerungen implizit ist, daß er das Verhältnis von unmittelbarer Erfahrung und begrifflichem Erkenntnisvermögen nicht hierarchisch auffaßt.

Ethnomethodologische Grundannahmen

Die erkenntnistheoretische Grundfrage, wie menschliche Erkenntnis überhaupt möglich sei, legt die Ethnomethodologie auf alltägliches Handeln an. Alltagshandeln begreift der ethnomethodologische Ansatz neben theoretischen Ideen als gleichberechtigt bedeutungskonstituierend, erkenntnis- und sinnstiftend. Im alltäglichen Handeln konstituiert sich die Gesellschaft durch die Hervorbringung von Strukturen durch die Gesellschaftsmitglieder. Strukturierungsleistungen bestehen im Treffen von Unterscheidungen. Voraussetzung dafür ist ein System von intersubjektiv geteilten Bedeutungen, das es erlaubt, Mehrdeutigkeiten so zu reduzieren, daß Kommunikation und gegenseitiges Verständnis überhaupt möglich werden. Die Gemeinsamkeiten, die Bedingung sind für die gesellschaftliche Interaktion, sind auch deren Resultat: sie sind eine gesellschaftliche Konstruktion. Solche Konstruktionen unterliegen prozeßhaften Veränderungen - andernfalls wären weder gesellschaftliches Handeln noch Individuation möglich. Der Blick auf gesellschaftliche Wirklichkeit und auf kulturelle Artefakte zeigt deren Komplexität und Verschiedenheit, die die Ausbildung von Verständigungssystemen notwendig machen. "Ohne Gemeinsamkeiten ist der gesellschaftliche Prozeß nicht möglich, ohne Verschiedenheit nicht nötig. Der gesellschaftliche Prozeß besteht in der Darstellung und Gegenüberstellung individueller Realitätskonstruktionen auf der Basis gemeinsam geteilter und vertrauter Wissens- und Verfahrensbestände. Dieser gesellschaftliche Prozeß ist Gegenstand der Ethnomethodologie." 6

Im Zusammenhang dieser Untersuchung werden die Grundannahmen der Ethnomethodologie auf folgende Gegenstände angelegt: zunächst auf Kunstwerke als kulturelle Artefakte, dann auf deren Produktion im Sinne einer bedeutungsstiftenden Vermittlungsleistung des Künstlers und schließlich auf deren Rezeption. Die Rezeption von Kunstwerken kann, im Falle der weitgehenden Übereinstimmung von Wahrnehmungsangebot und Erwartungshaltung, bedeutungsbestätigende Einordnung in bestehende Wissenszusammenhänge von Betrachtern zur Folge haben. Oder Rezeption kann bedeutungsstiftende Umordung von Wissen bewirken, nämlich wenn die Wirklichkeitsauffassung des Betrachters sich von dem, was sich im Werk vermittelt zeigt, unterscheidet. Im ersten Falle werden neue Informationen in erlernter Weise interpretiert, im zweiten können Interpretationsmuster verändert werden. Der Pädagoge Hermann Giesecke nennt Lernen, das die Veränderung von Mustern nach sich zieht, eine Erfahrung. Erfahrungen machen ist nicht leicht, denn der Lernende gerät in eine kognitive Dissonanz, in der Neues den bisherigen Vorstellungen widerspricht und in deren Folge zumindest partiell neue Selbstdefinitionen notwendig werden. 7

Kunstwerke - ich spreche hier von visuell, taktil oder akustisch wahrnehmbaren Gebilden - nehmen als kulturelle Artefakte eine eigentümliche Zwischenstellung ein. Sie haben bedeutend zu sein - und läge ihre Bedeutung in der Ablehnung jener Zumutung, so wäre das noch immer Bedeutung. Kunstwerke sind ihrem Wesen nach irreduzibel, denn was immer sie an Bedeutungen in sich tragen, ist an ihre komplexe Erscheinungsweise gebunden. Als Erscheinungen werden Kunstwerke rezipiert wie alles andere auch, und die Vermittlung von kognitiv Erfaßbarem wird von ihnen durchaus erwartet. Als Artefakte sind Kunstwerke also keine Naturdinge und insofern per se Bedeutungsträger, und als erscheinende Wirklichkeit, die Erfahrungen evoziert, sind sie nicht ohne Verlust übersetzbar.

Kunstwerke bilden auch nicht etwa Wahrnehmungen von Künstlern ab. Sie sind Interpretationen. Die Differenz zwischen Wahrnehmung und künstlerischer Niederschrift betrifft gleichfalls den Rezeptionsvorgang. Rezipienten sehen weder unmittelbar abgebildete Wirklichkeit noch vermittelt sich ihnen unmittelbar die Wahrnehmung des Künstlers. Der Rezeptionsvorgang, und viel mehr noch seine Niederschrift, ist deutend.

Rezeption von Kunstwerken ist keine Feststellung objektiver Tatsachen, sondern Teilnahme an einem Rezeptionsgeschehen - unter der Voraussetzung, daß die Werkhaftigkeit der Werke im Vollzug der Rezeption angesiedelt wird. Aus objektivierender Distanz sind sinnliche Erfahrungen unmöglich zu machen. Deutungen aus solcher Distanz sind streng genommen gegenstandslos. Reagenzglasbefruchtungen mögen Embryonen erzeugen, doch ersetzen sie keine Orgasmen. Schlimmer noch glichen so erzeugte Kinder Klonen, denn Erfahrungen entstehen aus der Begegnung mit Anderem. Für die Beschreibung und Beurteilung von Kunstwerken ergibt sich das Problem, daß Kunstbetrachter als Teilnehmer am Geschehen durch ihre subjektive Sicht von Wirklichkeit die Wirklichkeit beeinflussen. Sie bringen sich ein im wörtlichen Sinne, und sie bringen immer schon Vorwissen und Deutungsmuster mit, die ihre Wahrnehmungen bestimmen. Um dennoch Unterscheidungen treffen zu können, um Aussagen zu ermöglichen, bedarf es der Reflexivität der eigenen Rolle im Rezeptions- und Deutungsprozeß. Die Notwendigkeit der reflektierten Partizipation des Forschers am Forschungsgegenstand ist eine weitere Grundannahme der Ethnomethodologie. Die Reflexivität "markiert eine Position, die darauf besteht, daß jede Untersuchung der Prozesse des Verstehens und Herstellens von Sinn selbst wieder ein zu analysierender Vorgang solchen Prozesses ist." 8

Clifford Geertz legt reflexive Partizipation seiner Methode ethnographischer Beschreibung zugrunde. Mit 'Thinking of Thoughts' könne man, sagt Geertz, "das komplizierte intellektuelle Wagnis der 'dichten Beschreibung'" 9 überschreiben. Während 'dünne' Beschreibung bloße Daten registriert, sucht 'dichte Beschreibung' nach Bedeutungen. Denn was als Daten bezeichnet wird, ist deren Auslegung. Welche Gegenstände man im Zusammenhang mit Alltagshandlungen und kulturellen Artefakten auch untersucht, immer handelt es sich um eine Vielzahl komplexer Strukturen, die bedeutungstragend und deutungsbedürftig zugleich sind.

Ist es Ethnologen wie Kunstbetrachtern schon nicht möglich, objektive Daten aufzufinden, so ist es erst recht nicht möglich, Bedeutungen, an deren Herstellung man partizipiert, in allgemeingültige Begrifflichkeit zu überführen. Die Theorie ist von den unmittelbaren Momenten der Beschreibung nicht zu trennen. Im Gegenteil verstellte solcher Versuch den Blick auf die Gegenstände: "Wenn man Bedeutungskristalle herausarbeitet, denen nichts mehr von der Komplexität der Materie anhaftet, aus der sie stammen, und ihre Existenz dann auf autogene Ordnungsprinzipien ... zurückführt, so spiegelt man eine Wissenschaft vor, die es nicht gibt, und entwirft eine Wirklichkeit, die nicht vorhanden ist. Die Untersuchung von Kultur besteht darin ..., Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen; nicht aber darin, den Kontinent Bedeutung zu entdecken." 10

Die Zugrundelegung von Partizipation und Deutung führte in der Ethnologie zur Diskussion, ob Einzelanalysen das reflektieren, was beispielsweise Eingeborene 'wirklich' denken, oder ob sie ihrem Wesen nach verschiedene Simulationen ihres Denkens sind. Clifford Geertz unterscheidet zwischen dem Ereignis und dessen Niederschrift. Niedergeschrieben werden Bedeutungen von Ereignissen, nicht die Ereignisse selbst. Die Niederschrift ist etwas aus einer bestimmten Perspektive Gemachtes, insofern ist sie fiktiv. Niederschriften ist ebensowenig unverfälschter Sinn zu entreißen wie einem Gemälde, so daß, zöge man die Darstellungsweise von der Darstellung ab, der Inhalt rein zutage träte. Darstellungsweise und Dargestelltes stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit. Ludwig Wittgenstein schrieb im Tractatus logico-philosophicus, wir benützten das wahrnehmbare Zeichen für die Projektion einer Sachlage. Dazu gehöre "alles was zur Projektion gehört; aber nicht das Projizierte." 11

Solche Abwesenheit weist auf die grundsätzliche Subjektivität und Singularität aller Empfindungen: Wir sind, schreibt Aldous Huxley, "immer und unter allen Umständen ... einsam... In ihren Umarmungen versuchen Liebende verzweifelt, ihre jeweilige Ekstase in einer gemeinsamen Transzendenz zu vereinigen - jedoch vergebens... Empfindungen, Gefühle, Einsichten, Einbildungen - sie alle sind etwas Privates und nur durch Symbole und aus zweiter Hand mitteilbar. Wir können Berichte über Erfahrungen austauschen und sammeln, niemals aber die Erfahrungen selbst." 12 Trotzdem haben Menschen so viel Ähnlichkeit miteinander, daß Verständnis und wechselseitige Einfühlung möglich sind. Ein wenig können wir darauf vertrauen, daß unser Erlebnis der Möglichkeit nach von anderen - in nie identischer, aber doch ähnlicher Weise - geteilt werden kann. Deshalb ist das Sprechen über Erfahrungen im Angesicht von Kunstwerken sinnvoll.

Medienpädagogische Implikationen

Die verschiedenen Ausformungen der hier untersuchten Illusionsräume kann man als verschiedenartige Vermittlungsstrategien im Blick auf mögliche Erfahrungen von Betrachtern lesen. Die Lernprozesse, die derartige Erfahrungen hervorrufen, sind medial geprägt. Der Rezeptionsvorgang kann als Praxis medialen Lernens verstanden werden. Im weiteren Sinne sind auch sich entwickelnde und verändernde Produktionsprozesse, sowie die individuelle und gesellschaftliche Prägung des Künstlers als medial geprägte Lernprozesse begreifbar. Die Persönlichkeitsstruktur des Künstlers wird mit ausgebildet durch seine individuelle Lerngeschichte, durch Kenntnis anderer Werke beispielsweise oder durch mediengeprägten 'Zeitgeist'. Dazu gehört auch seine Interaktion mit dem eigenen Werk: Der Künstler ist sein erster Betrachter. Solche Praxis ist Gegenstand der Medienpädagogik: "Medienpädagogik ist die erziehungswissenschaftliche Teildisziplin, deren zentraler Gegenstand medial geprägte individuelle und gesellschaftliche Lernprozesse sind. Menschliches Kommunizieren, das ganz oder teilweise mittels materieller Zeichen- und Informationsträger geschieht, ist die Sphäre, in der sich mediales Lernen abspielt." 13 Um dieses Lernen aufzuspüren, sind Interpretationsverfahren erforderlich, denn wie alle Lernvorgänge sind mediale Lernprozesse direkter Beobachtung unzugänglich. Zugänglich ist das Lernfeld und dessen je besondere Kommunikationsstruktur, die auf potentielle Lernprozesse verweist. Die Vorklärung der spezifischen Medienstrukturen ist notwendig, um die realen Lerngeschichten von Individuen und Gruppen in mediengeprägten Kommunikationssituationen erforschen zu können. Im Zusammenhang dieser Arbeit geschieht dies, indem die je medienspezifischen Vermittlungsstrategien der Werke untersucht werden.

Untersuchungsmethode: Rezeptionsästhetik

Die Erforschung spezifischer Medienstrukturen im Blick auf mögliche Lernprozesse ist nicht Gegenstand der Kunstwissenschaft. Die Rezeptionsästhetik als kunstwissenschaftliche Teildisziplin kommt dieser Fragestellung jedoch sehr nahe, denn sie fragt nach dem im Werk angelegten Betrachter. Werke werden nicht als isolierte Einheiten betrachtet; vielmehr werden die Bedingungen reflektiert, unter denen Werk und Betrachter zusammenkommen. Vorgehensweisen und Interpretationsziele der Rezeptionsästhetik seien hier etwas ausführlicher beschrieben.

In der Literaturwissenschaft, von der die Kunstwissenschaft die rezeptionsästhetische Methodik weitgehend übernommen hat, ist die Rezeptionsästhetik seit Mitte der 70er Jahre etabliert. Wolfgang Iser unterscheidet in 'Die Appellstruktur der Texte' (1974) 14 herkömmliche Textinterpretation von jener der Rezeptionsästhetik: Herkömmliche Interpretation untersucht Texte unabhängig von den verschiedenartigen Reaktionen der Leser auf in ihnen verborgene Bedeutungen. Dagegen vertritt Iser die Position, im Lesevorgang, durch die Interaktion zwischen Text und Leser, erwache der Text zum Leben; durch die im Leser verursachte Reaktion gelange die komponierte Textgestalt zur Wirkung.

Da Bedeutungen im Lesevorgang entstehen und Produkt der Interaktion zwischen Text und Leser sind, sind sie zwangsläufig individuell. Texte haben Spielräume von möglichen Bedeutungen, sie illustrieren nicht ein für allemal festlegbaren 'Sinn'. Voraussetzung für die Wirkungsmöglichkeit von Texten ist, daß sie grundlegend unbestimmt sind. Die Unbestimmtheit von Texten begründet Iser damit - und da stimmt er mit den Implikationen der Ethnomethodologie überein -, daß literarische Texte keine empirischen Entsprechungen haben. In Texten vermitteln sich immer Reaktionen (von Autoren) auf 'Wirkliches'. Texte bieten Ansichten von Wirklichkeiten. Zwischen den verschiedenen Ansichten sind Schnitte, die Iser 'Leerstellen' nennt. Leerstellen bieten Auslegungsspielräume, sie werden von Lesern gefüllt, indem letztere, die ja selbst immer schon eine Beziehung zur Wirklichkeit haben, Beziehungen zwischen verschiedenen Ansichten herstellen. Die Schnitt- bzw. Leerstellen sind das Beteiligungs- und Deutungsangebot an Leser bzw. Betrachter: dort entzünden sich Lernprozesse, dort machen Leser und Betrachter ihre Erfahrungen. Aus dem Vorhandensein von Leerstellen schließt Iser auf die Appellstruktur der Texte. In den Leerstellen ist der Leser im Text impliziert.

Wolfgang Kemp übertrug Mitte der achtziger Jahre den 'impliziten Leser' von der Literaturwissenschaft auf die Kunstwissenschaft und übersetzte 'Leerstelle' mit 'Betrachterfunktion'. Kemp erklärt die Betrachterfunktion von Kunstwerken damit, daß der Betrachter in der inneren Organisation des Werks vorgesehen sei: Der Betrachter ist im Bild. 15 So gibt das Bild mögliche Erfahrungen gleichsam vor: seine Betrachterfunktion ist die Tür zu möglichen Erfahrungen von Rezipienten.

Im Unterschied beispielsweise zum ikonologischen Kunstverständnis, das fordert, ein Werk müsse als in sich vollkommene Einheit verstanden werden, fragt Rezeptionsästhetik nach dem Betrachteranteil im Kunstwerk. Daß das Werk für jemand gemacht ist, ist konstitutives Moment des Werks. Die Ikonologie versucht dagegen, den einstigen Sinn des Kunstwerks mit Hilfe aller erreichbaren bildlichen oder schriftlichen Quellen zu rekonstruieren. Ziel ist es, das Verständnis des Bildes vom zeitgenössischen Verständnis ausgehen zu lassen. Der Ikonologe befindet sich damit in der Nähe des Historikers. Sein Interesse zielt auf eine Geschichte von Motivwandlungen.

Doch es gibt auch Parallelen in der methodischen Vorgehensweise von Rezeptionsästhetikern und Ikonologen: unter verschiedenen Gesichtspunkten versuchen beide, historischen Kontext zu rekonstruieren. Nach der Auswertung der Informationen käme der Ikonologe zu einem Ergebnis, das sprichwortartig formuliert werden kann: Das Werk ist unter ikonologischen Gesichtspunkten die Illustration eines begrifflichen Inhalts. Für den Rezeptionsästhetiker ist die Rekonstruktion des ursprünglichen Kontextes dagegen deshalb notwendig, weil er ihn als Vermittlungsstrategie begreift, mit deren Hilfe Kunst als Kommunikationsmedium Bedeutungen vermittelt. Rezeptionsästhetiker gehen davon aus, daß ohne Kontext keine Kommunikation möglich ist, bzw. daß der Kontext - oder die intendierte Abwesenheit von Kontext - wesentlich zur Vermittlung von Bedeutungen beiträgt. Die Rezeptionsästhetik hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Zeichen und Mittel zu erkennen, mit denen Werke in Kontakt mit Betrachtern treten, um sie deuten zu können im Blick auf ihre möglichen sozialgeschichtlichen und ästhetischen Aussagen.

In der Kunstwissenschaft und Ästhetik erfährt der Betrachter im Laufe der Geschichte unterschiedliche Beachtung. Er gerät in den Blick, wenn z.B. die gesellschaftlichen Anforderungen an die Kunst steigen, wie etwa zur Zeit der Gegenreformation. Gegenreformatorische Ästhetik verlangte, daß Kunst den Geschmack aller auf entsprechende Weise befriedigen solle, da sie den Anspruch hatte, die Trennung in eine elitäre und eine populäre Kunstsprache aufzuheben, die die Renaissance bewirkt hatte. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte geriet der Betrachter zunehmend aus dem Blick. In der Autonomieästhetik des 18. Jahrhunderts hatte er seinen Platz - zumindest in der Theorie - verloren. Das Kunstwerk kennt jetzt keinen äußeren Zweck mehr, es ist in sich selbst vollendet. Für den Betrachter gibt es jetzt keinen Weg mehr zum Bild, sondern nur noch das meditative Sich-Versenken in etwas von ihm völlig Verschiedenes. Das Nicht-Wirken-Wollen wurde zum Merkmal echter Kunst. Betrachter sind nur noch insofern notwendig, als das Schöne ihrer bedarf, um erkannt zu werden. Das sind die Kerngedanken idealistischer Ästhetik.

Die Rezeptionsästhetik will das von der Autonomieästhetik verschüttete Verhältnis zwischen Bild und Betrachter freilegen. Sie geht davon aus, daß Künstler ihre Werke - trotz allen ästhetischen Vorgaben - zu jeder Zeit auch auf Wirkung, das heißt in Bezug auf Betrachter angelegt haben. Diese Bezüge will sie thematisieren und heutigen Betrachtern zugänglich machen. Darin erweist sich zugleich der pädagogische Impuls der Rezeptionsästhetik, denn ihr Interesse ist auf potentielle Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten von Betrachtern im Angesicht von Kunstwerken beziehbar.

Kemp unterscheidet für die rezeptionsästhetische Interpretation zwischen äußeren Zugangsbedingungen zum Werk und inneren Rezeptionsvorgaben des Werks. Innere Rezeptionsvorgaben geschehen formal mittels der Komposition oder der Darstellung einer Handlung. Beispielsweise wird der Betrachter durch die räumliche Einrichtung von Bildern - durch die An- oder Abwesenheit perspektivischer Konstruktionen - zum Bild hin situiert: Standpunkte werden vorgegeben. Äußere Zugangsbedingungen können sein architektonische Zusammenhänge oder kultische Rituale. Das Werk reagiert auf seinen räumlichen und funktionalen Kontext durch die Eigenheiten des jeweiligen Mediums (Plastik, Malerei), durch seine Größe und durch die Gestaltung des Übergangs zwischen Bild- und Betrachterraum.

Solche Kontextmarkierungen zeigen auf das dialogische, interaktive, also auch pädagogische Potential der Werke. Kontextmarkierungen, Unbestimmtheits- oder Leerstellen sind Orientierungsformen, die Werke ihren Betrachtern bieten. Schließlich existieren auch auf der Seite des Betrachters Zugangsbedingungen zum Werk: seine sozialen und biographischen Voraussetzungen, seine Lerngeschichte. Unter diesen Bedingungen (das ist sein Anteil am Dialog) erscheint ihm das - deshalb historisch veränderliche - Werk. Insofern können, vom Werk bzw. Künstler aus betrachtet, Betrachter als Unbestimmtheits- oder Leerstellen angesehen werden.

Die Gegenstände im Zusammenhang mit Fragestellung und These

Im Zusammenhang mit meiner These, daß schlichtes Rezipieren von bedeutungsstiftenden Erfahrungen unterschieden werden kann - also begriffliches von nichtbegrifflichem Verstehen - beschreibe ich zwei Tendenzen bei der Ausformung von Illusionsräumen. Es gibt Formen, die ich 'konstruierte Räume' nenne und die tendenziell auf Begriffliches reduzierbar sind - nicht allerdings die damit mögliche Erfahrung, auf die sie zwar lenkend einwirken, die sie jedoch nicht vollständig determinieren. Und es gibt Erscheinungsweisen, bei denen solche Reduktion nicht möglich ist, denn sie gründen vielmehr auf einem bestimmten Gewahrsein der Welt: Auf der Apperzeption des Künstlers, der sein Sehen und Fühlen seinem Werk einschreibt. Solche Räume vermitteln ihren Rezipienten eine andere, weit weniger im Kognitiven gründende, Erfahrung. Ich nenne sie 'visionäre Räume'.

Unter den Gegenständen dieser Untersuchung, den verschiedenen Ausformungen von Illusionsräumen, verstehe ich reale, betretbare Räume, in denen in verschiedener Weise illusionistische Darstellungen und/oder Medien im weiteren Sinne installiert sind. Zur Sprache kommen Werke, die entweder als 'konstruierte' oder als 'visionäre' Räume charakterisiert werden können, und solche, in denen beide Formen auftreten.

Die konstruierte Form führe ich im weitesten Sinne zurück auf das 'geöffnete Fenster' der Renaissance, also auf die perspektivische Konstruktion, die in letzter Konsequenz in das newtonisch-cartesianische Weltbild mündet. 16 Charakteristisch für den visionären Raum ist beispielsweise eine nicht gegenstandsgebundene Farbwirkung. Die visionären Räume werden zu erläutern sein anhand älterer und aktueller Wahrnehmungsmodelle und Weltbilder: Das ist das Modell des subjektiven Sehens und das sind Modelle, die aus der neueren Naturwissenschaft hervorgingen.

Der konstruierte entgegen dem visionären Raum: Mesdag und Monet

In den ersten beiden Kapiteln untersuche ich als antipodische Beispiele Hendrik Willem Mesdags 'Panorama von Scheveningen' in Scheveningen bei Den Haag (eröffnet 1881) und Claude Monets 'Nymphéas' in der Orangerie zu Paris (eröffnet 1927). Beide Anlagen sind als den Betrachter umgebende Räume konzipiert. Das Panorama ist kreisrund und bietet dem in seiner Mitte stehenden Betrachter eine vollkommene Illusion dar. Monets 'Nymphéas', das sind acht sehr große Leinwände, die in zwei hintereinanderliegenden ovalen Räumen an den Wänden installiert sind. In beiden Fällen sind die Betrachter von Leinwänden umgeben, die Blicke in Landschaften zeigen. Mesdag zeigt von einer Düne aus den Rundumblick auf die zeitgenössische Szenerie: den Meeresstrand und das Dorf Scheveningen. Monet malte seinen Seerosengarten in Giverny. Der Blick beider Maler auf die Natur ist grundverschieden. Mesdag bietet auf der konstruktiven Basis einer modifizierten Zentralperspektive den Überblick über eine Kulturlandschaft. Monets Malerei gründet dagegen in einem Wahrnehmungsvermögen, das ich gegenüber der utilitaristischen Erfassung von Gegenständen und deren Einordnung in einen vorgefertigten Raum als erweitert bezeichnet möchte.

Der Kunstkritiker Roger Fry bemerkte in einem Gespräch mit Aldous Huxley, Monets Seerosen hätten kein Recht darauf, so schockierend unorganisiert zu sein, so völlig eines ordentlichen kompositorischen Gerüsts zu entbehren. Und doch, mußte er zugeben, wirkten sie entrückend. Monet malte eine Großaufnahme natürlicher Gegenstände in ihrem eigenen Zusammenhang und ohne Beziehung auf ausschließlich menschliche Vorstellungen davon, wie die Dinge sind oder sein sollten. Nur der Mittelgrund und der entfernte Vordergrund seien, meint Huxley, ausschließlich menschlich: "Sobald wir in große Nähe oder große Ferne blicken, verschwindet der Mensch ganz und gar oder verliert seinen Vorrang... Etwas Ähnliches widerfährt dem kurzsichtigen Künstler", meint Huxley in Anspielung auf Monets Augenleiden, "und dem glücklich Liebenden. In der vermählenden Umarmung zerschmilzt die Persönlichkeit, das Einzelwesen ... hört auf, es selbst zu sein und wird Teil des riesigen unpersönlichen Weltalls. Und so ist es auch mit dem Maler, der sich dazu entschlossen hat, seine Augen auf die unmittelbare Nähe zu richten. In seinem Werk verliert die Menschheit ihre Wichtigkeit." 17

Damit ist skizziert, was Monets Seerosen von panoramatischen Landschaftsdarstellungen unterscheidet. Das Panorama bezieht sich, auf der Basis eines Blickes, der analog den Abbildungen der Camera obscura verstanden wurde, auf den aufrecht seiner Welt gegenüberstehenden Menschen. Symptomatisch für das Panorama ist die virtuelle Linie des Horizonts. Der Begriff 'Horizont' tauchte zuerst in wissenschaftlichen Zusammenhängen auf, nicht als reales Faktum. Der Horizont ist Teil einer technisch-mathematischen Konstruktion zum Zweck der Erschließung neuer Räume. Als mathematische Konstruktion wirkte der Horizont zurück auf die Organisation des Sehens: "Erst mit dem 'Einklinken' des Gewirrs perspektivischer Flucht- und Konstruktionslinien im Augenpunkt auf dem Horizont gewann der bis dahin schwankende Sehraum Solidität." 18 Das Panorama begreift Oettermann als Simulator solchen Blickens, als 'Sehmaschine': "Im Rundgemälde etabliert sich das Erlebnis des Horizonts als Kunstform; indem es so an Dauer gewann, wurde das Panorama zur Schule des Blicks, zum optischen Simulator, in der der extreme Sinneseindruck, das sensationelle, weil ungewohnte Erlebnis immer wieder und wieder geübt werden konnte, bis es zur Selbstverständlichkeit und zum alltäglichen Bestandteil menschlichen Sehens wurde. Geprägt vom panoramatischen Blick beginnt das Panorama den panoramatischen Blick zu prägen. So wird es zum Muster, nach dem sich von nun an die Seherfahrungen organisieren." 19 Der Illusionsraum Panorama hätte also pädagogische Qualitäten eines Massenmedium, welches individuelles Blicken gleichsam verallgemeinert: Die panoramatische Welt ist ein Aktionsfeld zweckgebundenen menschlichen Handelns. Seerosen wären, kämen sie vor, bloße Dekoration.

Monets Welt ist, obgleich dem Panorama gegenüber mikroskopisch, nicht überschaubar. Der Horizont kommt nicht vor. Seerosen, Wasseroberflächen und Spiegelungen sind in einem Farbraum verbunden. Seiner erlernten Fixpunkte beraubt, gleitet der Blick des Betrachters an den Farbwolken vorüber. Während im Rund des Panoramas der Betrachter in stets gleichbleibender Distanz zur Leinwand gehalten wird, wechseln im ovalen Raum für den sich bewegenden Betrachter Nah- und Fernsicht kontinuierlich. In der Nahsicht tritt der abbildende Charakter der Seerosen beinah ganz zurück und weicht reinen Farbräumen. 20 Solche Farbräume verweisen nicht länger auf Objekte außer uns, sie führen vielmehr nach innen. Monets Farbräume vermitteln Erfahrungen, die nicht, wie jene vom Panorama ermöglichten, erlernte und zweckgebundene Sehmuster bestätigen, sondern Begriffsrahmen gerade sprengen. Indem sie derartige, unter utilitaristischen Gesichtspunkten nutzlose, Erfahrungen bereithalten, ermöglichen sie zugleich die Reflexion der Begrenztheit solcher Schemata. Das ist nicht leicht. Konstruktionen, die wie die Zentralperspektive auf Ideen basieren, sind planbar und ihr Ergebnis ist vorhersehbar. Arnold Gehlen beschreibt treffend unsere Schwierigkeiten, mit Erfahrungen, wie sie visionäre Räume bereithalten, umzugehen: "Der Gegenwart ist sehr weitgehend das Gefühl dafür abhanden gekommen, daß es Erfahrungen geben könnte, die nicht in der Vorstellung vorwegzunehmen sind." 21 Dabei betrifft die Unmöglichkeit vorstellender Vorwegnahme im Grunde alle emotionalen und körperlichen Erlebnisse. Es gibt, um ein harmloseres Beispiel anzuführen, eine fundamentale Abweichung zwischen der Vorstellung von Zahnschmerz und Zahnschmerz. 22 Emotionale und körperliche Erlebnisse sind jedoch lebensgeschichtlich zweifellos relevant: Sie prägen den Bildungsgang von Individuen.

Der konstruierte und der visionäre Raum: Holographie und barocker Kirchenraum

Bezüglich meiner Ausgangsthese, daß es Illusionsräume gibt, in denen Konstruiertes neben Visionärem besteht, schien mir eine Verwandtschaft zu bestehen zwischen holographischen Räumen und barocken Kirchenräumen. In beiden Ausformungen finden sich, in verschiedener Weise, die konstruierten und visionären Tendenzen, die ich bei Mesdag und Monet beschreibe. Im Zusammenhang mit den rezeptionsästhetischen Implikationen, daß Werke kontextgebunden sind und Betrachter immer schon in sich tragen, wird angesichts des holographischen Raums und des Kirchenraums besonders deutlich, daß sie nicht reproduzierbar sind. 23 Das barocke Raumerlebnis ist wesentlich Umraumerlebnis, die Rezeption von Hologrammen ist an die raumzeitliche Anwesenheit und Bewegung von Betrachtern eng gebunden.

Philippe Boissonnet

Die holographische Aufzeichnungsweise ähnelt auf den ersten Blick der fotografischen: Ein Objekt wird - mit einem Laser allerdings - beleuchtet, und das vom Objekt gestreute Licht wird auf einer lichtempfindlichen Platte registriert. Aufgezeichnet wird aber nicht ein Bild des Objekts, sondern ein sehr feines Interferenzmuster. Mit Hilfe dieses Interferenzmusters kann die Form des Objekts rekonstruiert werden. Hologramme sind immaterielle optische Erscheinungen, die nur sichtbar werden, wenn man die Positionen von Hologramm, Licht und möglichen Betrachterstandpunkten bedenkt und plant. Abbildende Hologramme zeigen die dreidimensionale Erscheinung holographierter Objekte. Um die gesamte gespeicherte Information lesen zu können, müssen sich Betrachter vor Hologrammen bewegen, und es gibt keine Stelle, von der aus die holographische Erscheinung in ihrer Gesamtheit überschaubar wäre.

Den besonderen Eigenschaften des Mediums entsprechend, bedenken die meisten Künstler, die mit Hologrammen arbeiten, schon bei der Planung ihrer Werke mögliche Betrachterstandpunkte - die Betrachter sind gleichsam bereits konzeptuell im Bild vorgesehen. Das setzt sich auf der theoretischen Ebene fort. Den meisten Betrachtern ist die Holographie (wenn überhaupt) bekannt als ein Medium, mit dessen Hilfe dreidimensionale Illusionen hergestellt werden können. Viele Künstler begreifen dies als Mißverständnis und reagieren darauf, indem sie selbst Theorien entwickeln, mit deren Hilfe das Medium in ihrem Sinne angemessen rezipiert werden kann. Aus Äußerungen von Holographiekünstlern ist immer wieder herauszulesen, daß sie ihr Medium nicht als Vervollkommnung illusionistischer Medien verstanden wissen wollen, sondern es beispielsweise kunsthistorisch in Verbindung setzen mit der Lichtkunst der sechziger Jahre. Auch Philippe Boissonnet, dessen interaktive Installationen ich im dritten Kapitel untersuche, reflektiert die Potentiale des Mediums in Form von Aufsätzen und Vorträgen. Boissonnet (der davon abgesehen das Schriftmedium zur Klärung und Reflexion seiner eigenen Positionen nutzt) bringt das Medium - seiner Herkunft als Lichterscheinung entsprechend - in Verbindung mit naturwissenschaftlichen Modellen, denen die Abkehr vom kausal-linearen Denken implizit ist, und die vielmehr auf der Relativität von Standpunkten und auf der begrenzten Reichweite von Modellen bestehen.

In den holographischen Installationen Philippe Boissonnets gibt es zwei Aspekte, die auf das Ineinandergreifen konstruierter und visionärer Elemente weisen. Boissonnet bietet den Betrachtern Repräsentationen mentaler Konstrukte dar: in den untersuchten Installationen ist das der medial bearbeitete und modifizierte Globus. Der kognitive Strang geht einher mit der erlebnishaften Rezeption der Installationen. Zudem präsentiert Boissonnet Hologramme, die einen spezifisch holographischen Raum in Verbindung mit der schattenhaften Anwesenheit menschlicher Körper zeigen. Die erlebnishafte Rezeption und die Präsentation des holographischen Raums legen Spuren aus zu den Gedankenmodellen des holographischen Universums. Aus ihnen kann man den Versuch herauslesen, die harten Daten der Naturwissenschaft auf die Wirklichkeit von Alltagswahrnehmungen zu beziehen.

Die Brüder Asam

Das Nebeneinander konstruierter und visionärer Räume erläutere ich anhand der spätbarocken Klosterkirche St. Ursula in Straubing, die, 1736 begonnen, das letzte Gemeinschaftswerk der Brüder Asam darstellt. Das barocke Deckengemälde reißt die Decke auf. Der Ausblick ist visionär. Gezeigt wird das Visionäre mittels perspektivischer Konstruktion. 24 Die Konstruktion fungiert als Wahrnehmungsbrücke für Betrachter: Das Visionäre erscheint in vertrauter, leicht entzifferbarer Weise. Entschieden getrennt werden müssen solche, mit Hilfe perspektivischer Konstruktion erzeugten Raumgefüge von visionären Räumen, die bewirkt werden durch das goldene und farbige Geflimmer der barocken Innenräume. Die Farbräume wirken in ganz anderer Weise als die konstruierten Ausblicke. Ist das perspektivische Bild gekennzeichnet durch Überblick, so das visionäre durch Einblick. Dem visionären Raum steht der Betrachter nicht gegenüber. Er wird von ihm umfangen. Aldous Huxley weist in 'Die Pforten der Wahrnehmung' auf eine Parallele zu Wahrnehmungen, wie sie mit Hilfe bewußtseinserweiternder Drogen gemacht werden können: Wie Drogen befördern die flimmernden Farbräume eine andere als die überblickende Weltwahrnehmung. Solche Wahrnehmungsweise ist im utilitaristischen Sinne nutzlos. Visionäre Räume, behaupte ich, zeigen (und das läßt sich vielleicht mit dem Überschuß sensorischer Stimulanz erklären, der kognitiv nicht genutzt wird 25) eine entgrenztere Welt. Wir blicken auf sie staunend wie ein Kind auf ein leuchtendes Blütenblatt. Dem Kind erscheint das Blatt beseelt. Es trägt ein Geheimnis, gleich dem märchenhaften Karfunkelstein. Charakteristisch für den visionären Räum sind Licht und Farben, charakteristisch für den konstruierten ist die eindeutige Lesbarkeit symbolhafter Zeichen. Die visionäre Welt ist irreduzibel, und sie erscheint in einer Weise, in der der Betrachter Anteil an ihr hat. Sie ist nicht etwas von der Alltagswahrnehmung vollständig Getrenntes, vielmehr gründet sie in ihr.

Im barocken Kirchenraum weisen die visionären Flimmerräume auf lichthafte göttliche Anwesenheit - genau genommen sind sie nicht zeichenhafter Hinweis, sondern erzeugen solche Anwesenheit als Erfahrung -, während der im aufgerissenen Himmel dargestellte Gott seinen hinweisenden Zeichencharakter behält. Die konstruierten und die visionären Räume sind im barocken Gesamtkunstwerk so ineinander verschränkt, daß die verschiedenartigen Wahrnehmungsweisen sich gegenseitig verstärken. Auf diese Weise wird im gegenreformatorischen Sinne die Gemeinde zum Glauben hingezogen. Das kann man auch als den größeren oder raffinierteren Betrug ansehen. Ohne Zweifel wollte das barocke Gesamtkunstwerk den Betrachter - im Dienste der Kirche - überwältigen. Zu diesem Zweck nutzt es beides: die Lesbarkeit der Zeichen und die überwältigende Erlebnisqualität des flimmernden visionären Raums. Für diese These spricht, daß barocke Kirchenräume im Sinne der gegenreformatorischen Ästhetik eng betrachterbezogen, geradezu erzieherisch konzipiert wurden. Barocke Maler hatten verschiedene Sorten von Betrachtern zu bedenken: den Laien, der durch die Bilder erbaut und belehrt werden sollte, den Geistlichen, dem sie Hinweis auf theologische Gehalte sein sollten und den Künstlerkollegen beziehungsweise Kunstexperten, der die malerische Leistung anerkennen sollte. Barocke Maler mußten ihre Vermittlungsstrategien also so ausrichten, daß all diese Anforderungen erfüllt wurden.

Die vier Gegenstände und ihre Analogien

Aus der Beschreibung der Gegenstände wird deutlich, daß ich hier nicht nur die Gegenstände innerhalb eines bestimmten methodischen Rahmens untersuche, sondern in je verschiedener Weise Beziehungen herzustellen suche zu theoretischen Ansätzen, die ich ihrerseits mit den Vermittlungsstrategien der Werke eng verbunden sehe. Im Falle von Mesdags Panorama handelt es sich um die historische Rekonstruktion des perspektivischen Weltbildes mit seinen Auswirkungen auf Wahrnehmungsmodelle. Im Zusammenhang mit Monets Werk kommt zur Sprache die zeitgenössische, aus der physiologischen Optik von Johannes Müller und Hermann von Helmholtz hervorgegangene Theorie des subjektiven Sehens und, damit verbunden, die Erläuterung erweiterter Wahrnehmung anhand von Huxleys Analyse von Wahrnehmungen unter dem Einfluß von Halluzinogenen. Auch für die Interpretation von Boissonnets Werken habe ich zeitgenössische Theorien verwendet, das legen nicht zuletzt die Äußerungen des Künstlers nahe, der sich solchen Theorien verbunden fühlt. Naturwissenschaftlich fundierte 'holistischen' Theorien sind schon in Bezug auf die optisch-technischen Voraussetzungen zur Herstellung von Hologrammen relevant und viel mehr noch in Bezug auf deren Rezeption. Im letzten Kapitel spreche ich, neben der ikonologisch angehauchten Interpretation der flimmernden Erscheinungen, die Rezeptionsgeschichte barocker Kunst an. Im Rahmen der methodologischen und methodischen Vorgaben meiner Untersuchungen ist es nicht intendiert, die zeitgenössische Deutung des Kirchenraums freizulegen. Vielmehr geht es im rezeptionsästhetischen Sinne um die Aktualisierung des Werks unter heutigen Interessen und Blicken, die von ganz anderen - mentale Konstruktionen wie die Wahrnehmung betreffenden - Einflüssen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt sind. Deshalb steht hier - entgegen der historischen Abfolge - das älteste Werk an letzter Stelle.

Vorgehensweise und Textgestalt: der Essay

Es geht in dieser Untersuchung nicht darum, aus Gegenständen Bedeutungen herauszulesen, die in vorgeformte Begriffssysteme eingeordnet werden könnten. Vielmehr suche ich in interpretierender Annäherung nach Spuren, die sich aus der Perzeption der Werke ebenso ergeben wie aus analogiehaft aufgefaßten wissenschaftlichen Modellen und Entwürfen. Mit Hilfe dieser Modelle versuche ich, im Sinne von Clifford Geertz' 'dichter Beschreibung', eine deutende Annäherung an die Phänomene der Kunst und an die von ihnen vermittelten Erfahrungen. Da die theoretischen Aspekte ganz eng an die Gegenstände gebunden sind und nicht in einem übergreifenden Entwurf aufgehen, sind die Untersuchungsergebnisse von ihren Gegenständen nur schwer zu abstrahieren. Bezüglich der Theoriebildung in der Ethnologie sagt Geertz, man könne keine allgemeine Theorie der Kultur schreiben, "weil die Hauptaufgabe der Theoriebildung in der Ethnologie nicht darin besteht, abstrakte Regelmäßigkeiten festzuschreiben, sondern darin, 'dichte Beschreibung' zu ermöglichen. Es werden keine allgemeinen Aussagen angestrebt, die sich auf verschiedene Fälle beziehen, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalls." 26 In diesem Sinne verstehe ich die Interpretationen in meinen Kapiteln. Geertz sieht den Essay als das natürliche Genre kultureller Interpretationen an. Angesichts meiner Orientierung an der Ethnomethodologie begreife ich die Gegenstände meiner Arbeit (die Kunstwerke) als kulturelle Artefakte und betrachte ihre Rezeption als eng mit dem Alltagshandeln und der Alltagswahrnehmung von Rezipienten verbunden. Die vier Kapitel haben deshalb, in Anlehnung an Geertz, die Form wissenschaftlicher Essays.

In jedem Essay finden sich zwei Stränge wieder: zum einen die Beschreibung der vor den Kunstwerken möglichen Erfahrungen, und zum anderen Analogien aus wissenschaftlicher Theoriebildung zur Entstehungsgeschichte oder medialen Besonderheit des jeweiligen Werks. Der Kontrast beider Stränge verweist auf die Unterscheidung von lebensgeschichtlichem und curricularem Lernen. Nun spielen sich individuelle Lerngeschichten auf vielerlei Ebenen ab. In der Wirklichkeit ist curricular erworbenes von lebensgeschichtlich erfahrenem Wissen nie vollständig getrennt. Beides greift ineinander, beeinflußt sich gegenseitig und bildet so den gesamten Wissens- und Erfahrungszusammenhang aus. Für die vorliegende Untersuchung ist das in folgender Hinsicht von Relevanz: Die Erfahrungen im Angesicht von Kunstwerken berühren fast immer beides: Kognitiv erlernte Zusammenhänge und lebensgeschichtlich Erfahrenes - auch auf ganz anderen Ebenen als jenen der Kunst. Zugleich ist in den Vermittlungsstrategien der Werke beides aufzufinden: die Anknüpfung an erlernte Wissenszusammenhänge und die Ermöglichung von Erfahrungen, die in ganz anderen Bereichen fußen - beispielsweise auf der körperlich-sensorischen Verfassung der Betrachter. Diese Verbindung hat Auswirkungen auf den Bildungsgang von Individuen, und sie ist für eine ganzheitliche Entwicklung geradezu notwendig: "Ohne systematisches vernunftgemäßes Denken", schreibt Aldous Huxley, "könnten wir als Spezies oder Individuen unmöglich auskommen. Aber wenn wir geistig gesund bleiben wollen, können wir auch unmöglich ohne unmittelbare Wahrnehmung - je unsystematischer, desto besser - der inneren und der äußeren Welt, in die wir geboren wurden, auskommen. Diese gegebene Wirklichkeit ist ein Unendliches, das sich allem Verständnis entzieht und sich doch auf eine unmittelbare Weise gewissermaßen in seiner Gesamtheit erfassen läßt. Sie ist etwas Transzendentes, das nicht der menschlichen Ordnung angehört. Und doch kann sie uns gegenwärtig sein als eine empfundene Immanenz, ein erlebtes Teilhaben. Erleuchtet zu sein heißt, der gesamten Wirklichkeit als eines immanenten Andersseins gewahr zu sein - ihrer gewahr zu sein und doch in dem Zustand zu verbleiben, wo man sich als Lebewesen am Leben erhalten muß, als Mensch denkt und fühlt und, sofern es erforderlich ist, mit Vernunft systematisch handelt. Unser Ziel ist es, zu entdecken, daß wir immer schon dort waren, wo wir sein sollten." 27 Das Ineinandergreifen von kognitiv-curricularem und lebensgeschichtlichem Lernen scheint eine versteckte pädagogische Intentionalität von Kunstwerken zu sein - insofern bestimmt es die Fragestellung meines Textes wie seine Gestalt.


 Home

 Inhalt

 Weiter


 1 Vgl. Schulze, 1993b, S. 205.

2 Schulze, 1993b, S. 208.

3 Schulze, 1993b, S. 211.

4 Schulze, 1993b, S. 215.

5 Huxley, 1954, S. 58.

6 Parmentier, 1989, S. 556f. Vgl. auch: John Dewey: Kunst als Erfahrung. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988. Erstausgabe 1934.

7 Giesecke, 1990, S. 57f.

8 Weingarten/Sack, zit. nach: Lamnek, Bd. 1, 1995, S. 55.

9 Geertz, 1973, S. 10.

10 Geertz, 1973, S. 29f.

11 Wittgenstein, 1921, S. 20.

12 Huxley, 1954, S. 11.

13 Austermann, 1989, S. 1035.

14 Vgl. Iser, 1975.

15 Vgl. Kemp, 1992a.

16 Vgl. z.B. Pavel Florenskij: Die umgekehrte Perspektive. (Florenskij, 1920)

17 Huxley, 1954, S. 98.

18 Oettermann, 1980, S. 9.

19 Oettermann, 1980, S. 19.

20 Reine Farbräume können wir wohl nur deshalb als solche erkennen, weil wir - beispielsweise im Umgang mit der amerikanischen Farbfeldmalerei Barnett Newmans oder Mark Rothkos - gelernt haben, sie als solche zu rezipieren.

21 A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Frankfurt am Main, 1964, S. 119. Zit. nach: Duerr, 1985, S. 369.

22 An Schmerzen, körperlichen wie seelischen, wird jedoch sehr deutlich, wie wenig solche Erfahrungen mitteilbar, und schon gar nicht teilbar, sind. Man denke nur an die Schwierigkeiten die wir haben, wenn wir einem Arzt die Art und Weise bestimmter Schmerzen beschreiben sollen. Solche Mitteilungen sind in hohem Maße metaphorisch und umschreibend.

23 Grundsätzlich trifft das auf jede Kunstform zu. Das reproduzierte Bild verliert, beispielsweise durch Nivellierung von Größenverhältnissen, seinen räumlichen Bezug zum Betrachter.

24 Barocke Konstruktionen sind insofern in diesem Untersuchungszusammenhang besonders interessant, weil perspektivische Darstellungen in Deckengemälden nicht mehr wie in der Renaissance das architektonisch gebaute Raumgefüge illusionistisch fortsetzen; vielmehr erzeugt die barocke Konstruktion Raumgefüge, die nur lose mit dem Betrachterraum verbunden sind.

25 Henri Bergson vertritt in diesem Zusammenhang die Meinung, was Künstler auszeichne, sei gewissermaßen ihr Unvermögen, den perzeptiven Überschuß auszuschalten, der utilitaristisch nicht genutzt werden kann. Eine Äußerung Claude Monets gegenüber seinem Freund Georges Clemenceau scheint Bergsons Vermutung zu bestätigen: "Das ist das Grauen, die Freude, die Folter meiner Tage. Das geht so weit, daß ich mich eines Tages am Totenbett einer Verstorbenen, die mir sehr teuer war und es immer noch ist [Monet spricht von seiner Ehefrau Camille], überraschte, wie ich gebannt auf die tragische Schläfe starrte und automatisch versuchte, die Farbabstufungen nachzuvollziehen und zu erfassen, die der Tod dem unbeweglichen Gesicht gab. Blautöne, Gelb, Grau, was weiß ich? Da sehen Sie, wie weit es mit mir gekommen ist. Der Wunsch, das letzte Bild jener Frau festzuhalten ... war ganz natürlich. Doch noch ehe mir der Gedanke kam, die Züge festzuhalten, denen ich so tief verbunden war, reagierte die organische Automatik auf den Farbschock und verwickelten mich die Reflexe gegen meinen Willen in einen unbewußten Vorgang, in dem der Alltagstrott meines Lebens wieder einsetzte." (Monet, zit. nach: Stuckey, 1994, S. 350).

26 Geertz, 1973, S. 37.

27 Huxley, 1954, S. 60f.


 Home

 Inhalt

 Weiter