Zurück
Gabriele Schmid:  Illusionsräume
Home

 

SOUVENIRS

Hendrik Willem Mesdags Panorama von Scheveningen

 

                                               Das Fleisch aus Adam ist ein grob Fleisch,
                                               denn es ist irdisch und ist sonst nichts allein
                                               als Fleisch, das zu binden und zu fassen ist
                                               wie ein Holz oder Stein... Nun ist das Fleisch
                                               aus Adam der Mensch aus Adam; der ist
                                               grob wie die Erden. Diese ist kompakt, so daß
                                               der Mensch nit durch eine Mauer noch
                                               durch eine Wand kann, er muß sich ein Loch
                                               machen, dadurch er schlüpfe, denn ihm
                                               weicht nichts.
                                                                                 Paracelsus
                                                                                                Liber de Nymphis

 

   Der niederländische Landschaftsmaler Hendrik Willem Mesdag (1831-1915) - seine Hauptwerke sind Seestücke - hat ein Panorama des Badeorts Scheveningen vor Den Haag entworfen und gemalt. Es wurde 1881 eröffnet. Mesdags Panoramarotunde steht heute noch, in den Jahren 1987-1996 restauriert, am ursprünglichen Aufstellungsort nahe dem landschaftlichen Vorbild. Panoramen liegen bestimmte Konzepte des Sehens zugrunde, die ihre Erscheinung als konzeptuell vollkommene Illusionen und ihre Rezeption - als durch die ihnen zugrunde liegende Konstruktionsweise vorgegebene Lesart - wesentlich bestimmen. Diese Aspekte sollen hier untersucht werden.

   Nach einer kurzen Beschreibung des Mediums 'Panorama' gebe ich im Sinne 'dichter Beschreibung' eine Darstellung des anschaulichen Bestandes von Mesdags Panorama. Aus der Beschreibung leite ich die für das Panorama wesentlichen Betrachterfunktionen im Sinne der Rezeptionsästhetik ab: Das sind zunächst die naturalistische Darstellungsweise und der Illusionismus des Werks. Die Darstellungsweisen verbinde ich mit zeitgenössischen und heutigen Reaktionen auf den im Panorama intendierten Illusionismus und versuche darzulegen, inwiefern solcher Illusionismus Bildungsmomente auslösen kann. Im Folgenden beschreibe ich die Vermittlungsstrategie des Werks. Das ist die Konstruktionsweise, auf der der Illusionismus im Panorama beruht: die perspektivische Konstruktion und Mesdags spezielle Weise, solche Konstruktion mit Hilfe einer Camera-obscura-artigen Einrichtung zu erzeugen. Um die mögliche Bedeutung der konstruktiven Basis von Mesdags Panorama erhellen zu können, gebe ich einen historischen Abriß über deren Entstehung und ihren Zusammenhang mit einem ganz bestimmten, in gewisser Weise objektivierenden und vereinnahmenden Blick auf die gegebene Wirklichkeit. Ähnliches zeigt sich in der Analyse des Hauptmotivs im Panorama, dem Horizont. Ausgehend von der historischen Rekonstruktion der Mittel, mit denen Mesdag Illusion erzeugte, deute ich das Panorama als Modell einer neuzeitlichen Idee von Welt: der Welt als verfügbarem Raum menschlichen Handelns.

   Doch das Panorama wird im rezeptionsästhetischen Sinne erst zur Wirklichkeitskonstruktion unter dem deutenden Blick von Betrachtern. Insofern reflektieren Äußerungen von historischen und heutigen Betrachtern im Ausgang des Kapitels die Veränderlichkeit des Blickens auf Wirklichkeit und die wechselnden Erfahrungs- und Bildungspotentiale, die das Panorama bereithält.

 

Das Panorama


   'Panorama' ist ein Kunstwort, ein terminus technicus für eine bestimmte Form landschaftlicher Darstellung, die einen 360 Grad Ausblick wiedergibt.1 Es bezeichnet die Einheit von Panoramagebäude und der darin ausgestellten Rundleinwand (Abb.3). Im Panorama, einem der ersten modernen Massenmedien, wird die Wahrnehmung von Besuchern in Szene gesetzt.

Das Panorama war im Ausgang des 18. Jahrhunderts eine künstlerische und technische Innovation.2 Daß das Panorama zuerst als technisch-naturwissenschaftliche Erfindung angesehen wurde, zeigt seine Patentierung durch Robert Barker. Dieser entwickelte aus einer gezeichneten landschaftlichen Rundumsicht die später allgemeingültige Form der Panoramabauten. Pläne für Panoramen wurden indessen beinahe zeitgleich von dem Engländer Barker und dem Deutschen Johann Adam Breysig entworfen. Breysig berief sich auf gemalte Prospekte in Landschaftsgärten: "Jetzt will ich bekannt machen wie ich auf die Gedanken, Allaussichten (Panoramen) zu mahlen gekommen bin. Ich vernahm nämlich, daß man in einigen Gärten (in welchen, weiß ich nicht mehr, vielleicht ist es mit die zu Manheim, in dem Schwetzinger Garten gemahlte Aussicht gewesen Gemählde angebracht hätte, die man aus einem Gewölbe oder Felsenbogen sähe, und die sehr täuschen sollten. Ich überlegte, wovon oder wodurch wohl die größere Täuschung hier bewirkt werde; und vermuthete, daß der Ort, von wo aus das Gemählde angesehen werde, so eingerichtet sey, daß weder aus der wirklichen Luft, noch von einem anderen Körper, der so hell oder heller beleuchtet wäre, als das Gemählde, Licht unmittelbar ins Auge falle; wie dieß nach optischen Erfahrungen und Grundsätzen sich auch wirklich so verhalten muß." 3 Solche optischen Grundsätze liegen den Panoramagebäuden zugrunde.

   Kind der bildenden Kunst und des Theaters kann das Panorama angesehen werden als monumentalisierte Vedute und verselbständigter Bühnenprospekt. Panoramen sind gleichsam herabgerutschte barocke Deckengemälde, mediale Vorläufer der Fotografie, des Kinos und des Cyberspace. Das Panorama kann als ein 'Weltbildapparat' des 19. Jahrhunderts gelten, als ein "Modell für die Infrastruktur von Bewußtsein und Weltanschauung".4 Das Panorama kann als Ausdruck des Objektivismus im 19. Jahrhundert angesehen werden und als Äußerung der Entdeckung des subjektiven Sehens: Camera obscura und profaner Tempel; später Abkömmling der Zentralperspektive und verwandt der Sehkugel. Das Panorama ist ein Modell der Welt und eine Idee. Panoramaleinwände zeigen säuberlich geordnete Landschaften - die Welt als Handlungsraum -, und sie zeigen Schlachten und Kreuzigungen - getreulich rekonstruierte Einblicke in historische Ereignisse. Ihre Inszenierungen zielten ab auf die Herstellung vollkommen hermetischer Illusionsräume - auf die Erzeugung einer 'illusion complète'.

 


 Home

Inhalt

Weiter


 1 Zusammengesetzt aus dem griechischen 'pan' (= alles) und 'hòrama' (= sehen) ist der Terminus 'Panorama' dem 'Telephon' oder 'Automobil' vergleichbar. Der Begriff wurde Ende des 18. Jahrhunderts als Bezeichnung für die neu entstandene Kunstform geprägt. Fast zeitgleich taucht 'Panorama' in übertragener Bedeutung für 'Rundblick' oder 'Überblick' auf; sowohl für die Landschaftsbetrachtung als auch in Kunst, Literatur und Geschichte. Oettermann weist darauf hin, daß die Kunstform des Panoramas vor der Anwendung des Begriffs auf die Landschaftsbetrachtung existiert habe, wogegen heute fälschlicherweise die Meinung herrsche, das Rundgemälde sei nach der natürlichen Rundumsicht benannt (Vgl. Oettermann, 1980, S. 7f).


2 Die Geschichte des Mediums ist von Stephan Oettermann und Heinz Buddemeier ausführlich dargestellt worden und sei hier nur kurz skizziert:
Oettermann schränkt die historische Erscheinung des Panoramas - von Vorläufern und Nachzüglern abgesehen - auf das 19. Jahrhundert ein. Seine Geschichte verlief in zwei Phasen. Die erste begann 1787 mit der Patentierung des Panoramas in England durch Robert Barker und endete Mitte des 19. Jahrhundert. Die zweite Phase begann um 1870 und endete zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Die frühen Panoramen zeigten hauptsächlich Stadtansichten und Landschaftsbilder. In der zweiten Phase wurden Panoramen nicht mehr zur Befriedigung der Neugier auf exotische Orte und zur topographischen Vergewisserung benutzt, sondern als Mittel zur Dokumentation historischer Ereignisse. Schlachten- und Kreuzigungsdarstellungen waren die häufigsten Sujets. Im Zentrum des Interesses stand die Absicht, einen bestimmen historischen Augenblick exakt zu dokumentieren. Die Maße der Gebäude und Leinwände wurden nun vereinheitlicht. Panoramagesellschaften gaben Panoramen in Auftrag und vermarkteten sie. Die vier Tonnen schweren Leinwände wurden auf Tournee geschickt, so daß das Publikum innerhalb kurzer Zeit verschiedene Inszenierungen zu sehen bekam. Anfang des 20. Jahrhunderts gingen Erfolg und finanzieller Ertrag der Panoramen rapide zurück. Die meisten Leinwände waren durch die vielen Reisen stark beschädigt, viele der Rotunden brannten ab oder wurden für andere Zwecke umgebaut, so daß heute nur noch wenige Panoramen im Originalzustand erhalten sind.
Seit 1960 ist ungefähr ein Dutzend neuer Panoramen eröffnet worden, die meisten in Ländern mit nationalistischen Neigungen und ohne Panorama-Tradition. Zu den Ausnahmen gehören die 1995 von Yadegar Asisi entworfenen und in Berlin aufgestellten 'Stern-Rotunden'. Asisi nutzte den dokumentarischen Zug des Mediums, um die 'Hauptstadtplanungen' für ein größeres Publikum sinnlich erfahrbar werden zu lassen. Die Panoramaentwürfe von Asisi können aber nicht als Fortführung der Panoramatradition zu betrachtet werden. Vielmehr manifestiert sich in ihnen die Übertragung von Rezeptionsstrukturen, die aus technischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts hervorgingen, auf ein daraufhin wiederentdecktes Medium. Hermetische Illusionsräume wie beispielsweise der Cyberspace ermöglichen dem Betrachter des 20. Jahrhunderts ein körperliches Verhältnis zum Präsentierten in ganz ähnlicher Weise, wie das die Panoramen den Betrachtern des 19. Jahrhunderts boten.

3 Breysig, zit. nach: Buddemeier, 1970, S. 16f.

4 Vgl. Giersch, 1993, S. 101f.
Giersch zieht, dies als Ausblick auf Kap. IV, eine Parallele zum Medium Holographie, das in ähnlicher Weise für eine weltanschauliche Bewußtseinsveränderung stehe: "Transportierte das Panorama das Versprechen auf All-Ansicht im dreidimensionalen Raum, so transzendiert die Holographie die gewohnten Raum-Zeit-Koordinaten: als ein Para-Medium eröffnet sie den Zugang zu Welten, die sich jenseits der herkömmlichen Wahrnehmungsgrenzen erstrecken." (Giersch, 1993, S. 102)

 


 Home

Inhalt

Weiter