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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Mesdags Panorama von Scheveningen

 


Die oben skizzierten Aspekte lassen sich zum großen Teil an dem hier näher untersuchten Panorama ablesen. Hendrik Willem Mesdags 'Panorama von Scheveningen, gesehen von der Seinpost-Düne', ist in der Geschichte der Panoramen ein spätes Landschaftspanorama. 1881, in der Hochphase der Schlachtenpanoramen und der Panoramen mit religiösen Darstellungen, erneuerte Mesdag die Tradition des topographischen Panoramas. Die Leinwand zeigt eine 360 Grad Fernsicht auf eine Landschaft (Abb. 5). Sie wurde aufgenommen von der 'Seinpostduin' aus. Das war eine besonders hoch aufragende Düne,1 die an der Küste des Fischerdorfes und Badeorts Scheveningen lag (die Düne wurde nach 1881 abgetragen, um Platz zu schaffen für den Ausbau des Badeorts2). Die Panoramarotunde steht in der Zeestraat. Sie verband Den Haag zur Zeit der Errichtung des Gebäudes mit Scheveningen (heute sind beide Orte zusammengewachsen). Das Panorama in Den Haag ist - im Unterschied zu den meisten Panoramen - keine freistehende Rotunde. Es hat eine flache Fassade und ist in eine Häuserzeile integriert. Die Rotunde ist von der Straße aus nicht zu sehen. Ihre Architektur ist ausschließlich funktional und ohne alle Dekorationselemente.

Auf den Umstand, daß Mesdag Maler von Seestücken war (er erhielt 1870 für 'Les Brisants de la Mer du Nord' die goldene Medaille des Pariser Salons.3) werden die Besucher seines Panoramas auch heute eindringlich hingewiesen: Im Eingangsbereich sind Gemälde von Mesdag und seiner Frau Sientje Mesdag van Houten ausgestellt. Die Ausstellung ist frei zugänglich. Die Kasse befindet sich vor dem Eingang zu dem, was Mesdag selbst sein 'größtes Seestück' nannte. Hinter der Kasse beginnt die - damals wie heute kommerziell angelegte und insofern dem späteren Massenmedium Kino vergleichbare - Inszenierung 'Panorama'.

Zuerst muß ein etwa zwanzig Meter langer Gang durchschritten werden. Der Gang ist verdunkelt, denn die Augen der Besucher sollen vom Tageslicht entwöhnt und auf das Ereignis 'Panorama' (und seine im Verhältnis zum Tageslicht dämmrige Beleuchtung) vorbereitet werden. Zugleich liegt der Gang als zeitlicher und räumlicher Puffer zwischen alltäglicher Wahrnehmung und inszenierter Illusion. Deren überraschende Wirkung verstärkt der dunkle Gang. Am Ende des Gangs gelangen die Besucher zu einer gewundenen Treppe. Am Fuß der Treppe sehen sie von oben einen schwachen Lichtschimmer. Sie hören - durch die heute üblichen Tonbandeinspielungen sind Panoramen mehr noch als zu ihrer Entstehungszeit mediale Gesamtkunstwerke - leise Musik, Worte, oder Meeresrauschen und Möwengeschrei.

Die Treppe führt ins Zentrum der Panoramarotunde. Eigentlich handelt es sich um zwei umeinandergeschlungene Treppen, denn Auf- und Abgang sind getrennt und liegen sich in diesem Panorama gegenüber. Durch das Treppengehäuse wird die Masse der Besucher ein- und ausgeschleust. Die runde Besucherplattform liegt auf halber Höhe der Leinwand. Mesdag hat für ihren Entwurf ein Belvedere in den Scheveninger Wäldern skizziert,4 denn, so van Eekelen, "was hätte es Passenderes geben können als ein Belvedere, um sein großartiges Panorama zu betrachten."5 Die Plattform ist also ein Aussichtspunkt. Von ihr aus können die Besucher das Wahrnehmungsangebot überschauen: die umlaufende Leinwand (14 m vom Rand der Plattform entfernt 6) und das faux terrain, die künstliche Landschaft zwischen Plattform und Leinwand. Die Plattform ist umgeben von einer umlaufenden Balustrade. Sie legt den Abstand zwischen Betrachter und Leinwand fest und verhindert das Betreten des faux terrain. Wie sein Vorbild ist das nachempfundene Belvedere überdacht. Doch das Dach soll nicht, wie im realen Belvedere, vor Witterungseinflüssen schützen. Vielmehr springt es vor über die Grundfläche und bildet einen Sichtschutz, der die obere Kante der 14,70 m hohen Leinwand und das durchfensterte Dach des Panoramagebäudes verdeckt. Die Architektur der Plattform reglementiert und kanalisiert die Wahrnehmung der Betrachter. Die Plattform ist Zuschauerraum und Aktionsraum zugleich, da das Rundgemälde einen beweglichen Betrachter verlangt. Ihm erschließt sich die Inszenierung sukzessiv, denn "das Panorama ist die Art, ein großes Bild dergestalt darzustellen, daß das Auge des Anschauers nach und nach einen ganzen Horizont im Gemälde erblickt, und vollkommen getäuscht wird."7 Aufgrund der inszenatorischen Mittel ist der Betrachter gleichsam im Bild, um den für ihn arrangierten Erfahrungskontext wahrnehmen zu können. Lesbar ist für den unbefangenen Betrachter zunächst der gegenständliche Bestand.

Das Belvedere steht auf der nachgebildeten 'Seinpostduin'. Die künstliche Düne entzieht die untere Kante der Leinwand dem Blick. Auf dem Nordseesand liegen ein Fischernetz (Abb. 4), ein geflochtener Korb, eine vergessene Holzpantine. Ein hölzerner Anker liegt dort, noch ein Anker und Holzplanken. Ein Klappstuhl steht bereit, dem Meer zugewandt (Abb. 1). Dünengras steckt im Sand. Ein Grasbüschel ist, neben gemaltem Dünengras, in die Leinwand implantiert (Abb. 6). Die Leinwand umgibt mit 114,70 m Umfang das faux terrain. Gegenüber dem Treppenaufgang erblickt man den Badeort Scheveningen. Weiß leuchtet die Fassade des 'Hôtel des Galeries' (Abb. 4). Rechts davon, dem Landesinneren zu, erstreckt sich eine Häuserzeile an einem Weg, der - hinter der Düne und parallel zur Küstenlinie - zum Fischerdorf führt. Links vom Hotel steht eine kleine Villa (der 'Von Wied Pavillon') hart am Rand der Dünen. Gleich links davon tritt wieder die lange Linie des Meereshorizonts ins Blickfeld. Darunter liegt der Strand. Am rechten Rand des sichtbaren Strandabschnitts stehen Badekarren nah beim Kurort. Daneben liegen auf den Sand gezogene Fischerboote (Scheveningen besaß noch keinen Hafen); weitere Boote und Schiffe sind auf dem Wasser gestaffelt bis hin zum Horizont.

Beschäftigte Menschen bevölkern die Landschaft: Von rechts bewegt sich ein Kavalleriezug den Strand entlang. Auf dem Weg am Fuß der Dünen sind neben einem Holzkarren Fischer mit ihren Netzen beschäftigt. Am Wegrand steht eine Fischersfrau mit ihrem Kind. Sie wendet den Besuchern den Rücken zu. Sie, eine Identifikationsfigur vor allem für die (zeitgenössischen) einheimischen Besucher, betrachtet das Geschehen am Strand (Abb. 5). Weiter links am Strand, mitten unter den Booten, sitzt unter einem Sonnenschirm eine andere Frau auf einem Klappstuhl, vor sich eine Staffelei. Das ist Sientje Mesdag van Houten, die Frau des Malers. Sie malt im Bild ein Bild, während eine zweite Frau ihr über die Schulter sieht (Abb. 7).

Gegenüber dem Van Wied Pavillon stehen ein Leuchtturm und die reformierte Kirche in der Keizerstraat. Links davon, vom Meer aus gesehen hinter der Düne, liegt das Fischerdorf Scheveningen: Eng zusammengedrängte Häuser mit roten Ziegeldächern. Auf dem Weg zwischen Düne und Dorf (jener, der wieder zum Badeort führt) sind Menschen mit ihren Alltagsgeschäften befaßt. Eine Frau hängt Wäsche auf. Pferdekarren warten. Links vom Fischerdorf führt ein Kanal ins Landesinnere. Boote liegen am Kai. Auf der Straße neben dem Kanal sind Fußgänger und einige Pferdekutschen gegeben.

Hinter dem Dorf, schemenhaft am Horizont, liegt Den Haag. Die Horizontlinie wird durchbrochen von Kirchtürmen. Linker Hand weht eine Rauchfahne knapp unter dem Horizont. Das ist der Dampfzug, der Den Haag einst mit Scheveningen verbunden hat. Eine Rauchfahne steigt auch aus dem Schornstein des Wasserturms, der links vom Zug hinter dem Badeort steht. Knapp daneben erscheint wieder - der Kreis schließt sich - das Hôtel des Galeries. Rauch auch aus seinem Schornstein. Und Rauchfahnen wehen aus den Schornsteinen der Dampfschiffe, die - gegenüber dem Zug - nah am Horizont sich fortbewegen. Die Rauchfahnen signalisieren die beschleunigten Bewegungen, mit denen die Menschen seit Beginn der Industrialisierung den Raum durchmessen. Über all dem nimmt ein leicht bewölkter Himmel ungefähr zwei Drittel der Leinwandfläche ein.

Soweit der gegenständliche Bestand im Groben. Gegen den allseits bevölkerten Handlungsraum auf der Leinwand nimmt sich der Vordergrund verlassen aus, so daß man sich fast wünschte, vom Dorf oder vom Strand her tauchten Menschen am Saum der Düne auf. Schauspieler etwa, die zu der Stimme vom Tonband vor dem Prospekt agierten. Es gibt diese Schauspieler nicht.8 Die einzigen Akteure sind die Betrachter selbst. Sie versetzen mit ihren Blickbewegungen die konservierte Szenerie in Bewegung. Denn der Blick verhält sich angesichts der Panoramainszenierung wie vor der Wirklichkeit: Er schweift, bleibt hängen an einem Detail, schweift weiter, ruht müßig am Horizont, kehrt zurück zum Vordergrund - und so fort. Freude beim Wiedererkennen. Man kann sich etwas zeigen (Abb. 9). Auch die gemalten Darsteller zeigen und betrachten. Zeigen und Betrachten: Das ist der Inhalt des Stückes 'Panorama'. Man zeigt sich etwas, das keine 20 Gehminuten entfernt sich befand (die heutige Aussicht ist sehr verschieden von der dargestellten, Abb. 10). Die zeitgenössischen Betrachter aber sahen sich selbst. Die Touristen fanden ihre Badekarren wieder und ihre Hotelfenster, die Fischer (sicher die skeptischsten Betrachter, denn keiner kannte das Dargestellte besser als sie) ihre Boote, Netze, Häuser und Frauen.

So schließt sich der Kreis in mehr als einer Hinsicht. Die Betrachter finden im Panorama die ihnen vertraute Welt wieder. Sie entdecken, um das für wahr Genommene einzuordnen in das vor ihnen ausgebreitete systematisierte Bild der Welt. Aber sie sehen auch alles wie zum ersten Mal. Denn hier, im Panoramagebäude, sind sie abgeschieden von allem nützlichen Tun (auch dazu dient der verdunkelte Gang). All ihre Alltäglichkeiten werden vor ihnen zelebriert wie in einem Tempel. "Profane Räume", schrieb Martin Heidegger in 'Die Kunst und der Raum', "sind stets die Privation oft weit zurückliegender sakraler Räume."9 Im Panorama erscheint kein Gott mehr wie in der gleichfalls kreisförmigen, frühgriechischen Orchestra. Der griechische Kyklos war heilig. Dort wurden Riten und Kulthandlungen vollzogen. Eine dünne Linie trennte den sakralen Raum von der profanen Szene. Im frühen Griechenland bildeten die Zuschauer die Begrenzung als Teil des Innen und des Außen. Die Zuschauer waren Teil des Szenenbildes und bildeten "mit Chor und Schauspieler eine untrennbare Einheit."10 Im Panorama findet keine Verschränkung von Sakralem und Profanem statt. Vielmehr wird, wie noch zu zeigen ist, die auf subjektivem Blick basierende Konstruktion der Wirklichkeit zum - wenn man so will - Religionsersatz erhoben. Voraussetzung für die Einbindung der Betrachter in die Inszenierung ist das Anknüpfen an ihre Sehgewohnheiten. Das geschieht in Mesdags Panorama auf verschiedene Weisen. Die zuerst ins Auge fallende ist der Naturalismus der Darstellung.

 


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 1 Das Panorama sollte "die Illusion eines landschaftlichen Rundumblicks bieten, so wie er sich von einem realen, topographisch genau bestimmbaren Standpunkt aus bietet." (Oettermann, 1980, S. 43.) Der Rundblick in die Ferne sollte nicht durch zu nahe beim Betrachterstandort befindliche Objekte unterbrochen werden. Am geeignetsten waren also landschaftliche Rundumblicke, wie sie sich von einem natürlich erhöhten Punkt aus boten.


2 Gegen das Abtragen der Düne hatten Mesdag und mehrere seiner Künstlerkollegen vergeblich protestiert. Die Aussicht auf 'sein' Scheveningen zu bewahren, war wohl eines der Motive Mesdags, den Blick von der Seinpostduin festzuhalten.

3 Mesdags 'Les Brisants de la Mer du Nord' wurde 1870 in Paris neben einer Version von Gustave Courbets 'La vague' (die nicht ausgezeichnet wurde) ausgestellt und kurz nach der Medaillenverleihung von einem Jurymitglied angekauft. In der Folge spezialisierte Mesdag sich auf Seestücke und wurde damit zunehmend bekannter.

4 Ausgeführt wurde sie, ebenso wie das faux terrain, von einem der Mitarbeiter Mesdags, dem Zeichner und Baumeister Cornelis Johan Laarman.

5 "For what better way was there of viewing his 'most splendid panorama' than from a belvedere?" (van Eekelen, 1996a, S. 109.)

6 Alle technischen Angaben sind entnommen: 'The magical Panorama', herausgegeben von Waanders Publishers, Zwolle / B.V. Panorama Mesdag, Den Haag 1996. Dort befindet sich zugleich ein ausführlicher Bericht über die Restaurierung des Panoramas in den Jahren 1987-1996.

7 So steht es in der Beurteilung der 'Kunst-Neuheit' Panorama durch eine Kommission des Institut des France 1800. Zit. nach: Oettermann, 1980, S. 115.
Vgl. Anm. 1, I.4.

8 In jüngerer Zeit wurde das Panorama als Hintergrund für Fotos von historischen Kostümen benutzt. (Abb. 8)

9 Heidegger, 1969, S. 9.

10 Gallée, 1992, S. 16.


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