Mesdags Panorama von Scheveningen
Die oben skizzierten Aspekte lassen sich zum großen Teil
an dem hier näher untersuchten Panorama ablesen. Hendrik
Willem Mesdags 'Panorama von Scheveningen, gesehen von der Seinpost-Düne',
ist in der Geschichte der Panoramen ein spätes Landschaftspanorama.
1881, in der Hochphase der Schlachtenpanoramen und der Panoramen
mit religiösen Darstellungen, erneuerte Mesdag die Tradition
des topographischen Panoramas. Die Leinwand zeigt eine 360 Grad
Fernsicht auf eine Landschaft (Abb.
5). Sie wurde aufgenommen von der 'Seinpostduin' aus. Das
war eine besonders hoch aufragende Düne,1
die an der Küste des Fischerdorfes und Badeorts Scheveningen
lag (die Düne wurde nach 1881 abgetragen, um Platz zu schaffen
für den Ausbau des Badeorts2). Die Panoramarotunde
steht in der Zeestraat. Sie verband Den Haag zur Zeit der Errichtung
des Gebäudes mit Scheveningen (heute sind beide Orte zusammengewachsen).
Das Panorama in Den Haag ist - im Unterschied zu den meisten
Panoramen - keine freistehende Rotunde. Es hat eine flache Fassade
und ist in eine Häuserzeile integriert. Die Rotunde ist
von der Straße aus nicht zu sehen. Ihre Architektur ist
ausschließlich funktional und ohne alle Dekorationselemente.
Auf den Umstand, daß Mesdag Maler von Seestücken war
(er erhielt 1870 für 'Les Brisants de la Mer du Nord' die
goldene Medaille des Pariser Salons.3) werden
die Besucher seines Panoramas auch heute eindringlich hingewiesen:
Im Eingangsbereich sind Gemälde von Mesdag und seiner Frau
Sientje Mesdag van Houten ausgestellt. Die Ausstellung ist frei
zugänglich. Die Kasse befindet sich vor dem Eingang zu dem,
was Mesdag selbst sein 'größtes Seestück' nannte.
Hinter der Kasse beginnt die - damals wie heute kommerziell angelegte
und insofern dem späteren Massenmedium Kino vergleichbare
- Inszenierung 'Panorama'.
Zuerst muß ein etwa zwanzig Meter langer Gang durchschritten
werden. Der Gang ist verdunkelt, denn die Augen der Besucher
sollen vom Tageslicht entwöhnt und auf das Ereignis 'Panorama'
(und seine im Verhältnis zum Tageslicht dämmrige Beleuchtung)
vorbereitet werden. Zugleich liegt der Gang als zeitlicher und
räumlicher Puffer zwischen alltäglicher Wahrnehmung
und inszenierter Illusion. Deren überraschende Wirkung verstärkt
der dunkle Gang. Am Ende des Gangs gelangen die Besucher zu einer
gewundenen Treppe. Am Fuß der Treppe sehen sie von oben
einen schwachen Lichtschimmer. Sie hören - durch die heute
üblichen Tonbandeinspielungen sind Panoramen mehr noch als
zu ihrer Entstehungszeit mediale Gesamtkunstwerke - leise Musik,
Worte, oder Meeresrauschen und Möwengeschrei.
Die Treppe führt ins Zentrum der Panoramarotunde. Eigentlich
handelt es sich um zwei umeinandergeschlungene Treppen, denn
Auf- und Abgang sind getrennt und liegen sich in diesem Panorama
gegenüber. Durch das Treppengehäuse wird die Masse
der Besucher ein- und ausgeschleust. Die runde Besucherplattform
liegt auf halber Höhe der Leinwand. Mesdag hat für
ihren Entwurf ein Belvedere in den Scheveninger Wäldern
skizziert,4 denn, so van Eekelen, "was
hätte es Passenderes geben können als ein Belvedere,
um sein großartiges Panorama zu betrachten."5
Die Plattform ist also ein Aussichtspunkt. Von ihr aus können
die Besucher das Wahrnehmungsangebot überschauen: die umlaufende
Leinwand (14 m vom Rand der Plattform entfernt 6)
und das faux terrain, die künstliche Landschaft zwischen
Plattform und Leinwand. Die Plattform ist umgeben von einer umlaufenden
Balustrade. Sie legt den Abstand zwischen Betrachter und Leinwand
fest und verhindert das Betreten des faux terrain. Wie sein Vorbild
ist das nachempfundene Belvedere überdacht. Doch das Dach
soll nicht, wie im realen Belvedere, vor Witterungseinflüssen
schützen. Vielmehr springt es vor über die Grundfläche
und bildet einen Sichtschutz, der die obere Kante der 14,70 m
hohen Leinwand und das durchfensterte Dach des Panoramagebäudes
verdeckt. Die Architektur der Plattform reglementiert und kanalisiert
die Wahrnehmung der Betrachter. Die Plattform ist Zuschauerraum
und Aktionsraum zugleich, da das Rundgemälde einen beweglichen
Betrachter verlangt. Ihm erschließt sich die Inszenierung
sukzessiv, denn "das Panorama ist die Art, ein großes
Bild dergestalt darzustellen, daß das Auge des Anschauers
nach und nach einen ganzen Horizont im Gemälde erblickt,
und vollkommen getäuscht wird."7 Aufgrund
der inszenatorischen Mittel ist der Betrachter gleichsam im Bild,
um den für ihn arrangierten Erfahrungskontext wahrnehmen
zu können. Lesbar ist für den unbefangenen Betrachter
zunächst der gegenständliche Bestand.
Das Belvedere steht auf der nachgebildeten 'Seinpostduin'. Die
künstliche Düne entzieht die untere Kante der Leinwand
dem Blick. Auf dem Nordseesand liegen ein Fischernetz (Abb. 4), ein geflochtener Korb, eine vergessene
Holzpantine. Ein hölzerner Anker liegt dort, noch ein Anker
und Holzplanken. Ein Klappstuhl steht bereit, dem Meer zugewandt
(Abb. 1).
Dünengras steckt im Sand. Ein Grasbüschel ist, neben
gemaltem Dünengras, in die Leinwand implantiert (Abb. 6). Die Leinwand umgibt mit 114,70
m Umfang das faux terrain. Gegenüber dem Treppenaufgang
erblickt man den Badeort Scheveningen. Weiß leuchtet die
Fassade des 'Hôtel des Galeries' (Abb.
4). Rechts davon, dem Landesinneren zu, erstreckt sich eine
Häuserzeile an einem Weg, der - hinter der Düne und
parallel zur Küstenlinie - zum Fischerdorf führt. Links
vom Hotel steht eine kleine Villa (der 'Von Wied Pavillon') hart
am Rand der Dünen. Gleich links davon tritt wieder die lange
Linie des Meereshorizonts ins Blickfeld. Darunter liegt der Strand.
Am rechten Rand des sichtbaren Strandabschnitts stehen Badekarren
nah beim Kurort. Daneben liegen auf den Sand gezogene Fischerboote
(Scheveningen besaß noch keinen Hafen); weitere Boote und
Schiffe sind auf dem Wasser gestaffelt bis hin zum Horizont.
Beschäftigte Menschen bevölkern die Landschaft: Von
rechts bewegt sich ein Kavalleriezug den Strand entlang. Auf
dem Weg am Fuß der Dünen sind neben einem Holzkarren
Fischer mit ihren Netzen beschäftigt. Am Wegrand steht eine
Fischersfrau mit ihrem Kind. Sie wendet den Besuchern den Rücken
zu. Sie, eine Identifikationsfigur vor allem für die (zeitgenössischen)
einheimischen Besucher, betrachtet das Geschehen am Strand (Abb. 5). Weiter links am Strand, mitten
unter den Booten, sitzt unter einem Sonnenschirm eine andere
Frau auf einem Klappstuhl, vor sich eine Staffelei. Das ist Sientje
Mesdag van Houten, die Frau des Malers. Sie malt im Bild ein
Bild, während eine zweite Frau ihr über die Schulter
sieht (Abb. 7).
Gegenüber dem Van Wied Pavillon stehen ein Leuchtturm und
die reformierte Kirche in der Keizerstraat. Links davon, vom
Meer aus gesehen hinter der Düne, liegt das Fischerdorf
Scheveningen: Eng zusammengedrängte Häuser mit roten
Ziegeldächern. Auf dem Weg zwischen Düne und Dorf (jener,
der wieder zum Badeort führt) sind Menschen mit ihren Alltagsgeschäften
befaßt. Eine Frau hängt Wäsche auf. Pferdekarren
warten. Links vom Fischerdorf führt ein Kanal ins Landesinnere.
Boote liegen am Kai. Auf der Straße neben dem Kanal sind
Fußgänger und einige Pferdekutschen gegeben.
Hinter dem Dorf, schemenhaft am Horizont, liegt Den Haag. Die
Horizontlinie wird durchbrochen von Kirchtürmen. Linker
Hand weht eine Rauchfahne knapp unter dem Horizont. Das ist der
Dampfzug, der Den Haag einst mit Scheveningen verbunden hat.
Eine Rauchfahne steigt auch aus dem Schornstein des Wasserturms,
der links vom Zug hinter dem Badeort steht. Knapp daneben erscheint
wieder - der Kreis schließt sich - das Hôtel des
Galeries. Rauch auch aus seinem Schornstein. Und Rauchfahnen
wehen aus den Schornsteinen der Dampfschiffe, die - gegenüber
dem Zug - nah am Horizont sich fortbewegen. Die Rauchfahnen signalisieren
die beschleunigten Bewegungen, mit denen die Menschen seit Beginn
der Industrialisierung den Raum durchmessen. Über all dem
nimmt ein leicht bewölkter Himmel ungefähr zwei Drittel
der Leinwandfläche ein.
Soweit der gegenständliche Bestand im Groben. Gegen den
allseits bevölkerten Handlungsraum auf der Leinwand nimmt
sich der Vordergrund verlassen aus, so daß man sich fast
wünschte, vom Dorf oder vom Strand her tauchten Menschen
am Saum der Düne auf. Schauspieler etwa, die zu der Stimme
vom Tonband vor dem Prospekt agierten. Es gibt diese Schauspieler
nicht.8 Die einzigen Akteure sind die Betrachter
selbst. Sie versetzen mit ihren Blickbewegungen die konservierte
Szenerie in Bewegung. Denn der Blick verhält sich angesichts
der Panoramainszenierung wie vor der Wirklichkeit: Er schweift,
bleibt hängen an einem Detail, schweift weiter, ruht müßig
am Horizont, kehrt zurück zum Vordergrund - und so fort.
Freude beim Wiedererkennen. Man kann sich etwas zeigen (Abb. 9). Auch die gemalten Darsteller zeigen
und betrachten. Zeigen und Betrachten: Das ist der Inhalt des
Stückes 'Panorama'. Man zeigt sich etwas, das keine 20 Gehminuten
entfernt sich befand (die heutige Aussicht ist sehr verschieden
von der dargestellten, Abb.
10). Die zeitgenössischen Betrachter aber sahen sich
selbst. Die Touristen fanden ihre Badekarren wieder und ihre
Hotelfenster, die Fischer (sicher die skeptischsten Betrachter,
denn keiner kannte das Dargestellte besser als sie) ihre Boote,
Netze, Häuser und Frauen.
So schließt sich der Kreis in mehr als einer Hinsicht.
Die Betrachter finden im Panorama die ihnen vertraute Welt wieder.
Sie entdecken, um das für wahr Genommene einzuordnen in
das vor ihnen ausgebreitete systematisierte Bild der Welt. Aber
sie sehen auch alles wie zum ersten Mal. Denn hier, im Panoramagebäude,
sind sie abgeschieden von allem nützlichen Tun (auch dazu
dient der verdunkelte Gang). All ihre Alltäglichkeiten werden
vor ihnen zelebriert wie in einem Tempel. "Profane Räume",
schrieb Martin Heidegger in 'Die Kunst und der Raum', "sind
stets die Privation oft weit zurückliegender sakraler Räume."9 Im Panorama erscheint kein Gott mehr wie in der
gleichfalls kreisförmigen, frühgriechischen Orchestra.
Der griechische Kyklos war heilig. Dort wurden Riten und Kulthandlungen
vollzogen. Eine dünne Linie trennte den sakralen Raum von
der profanen Szene. Im frühen Griechenland bildeten die
Zuschauer die Begrenzung als Teil des Innen und des Außen.
Die Zuschauer waren Teil des Szenenbildes und bildeten "mit
Chor und Schauspieler eine untrennbare Einheit."10
Im Panorama findet keine Verschränkung von Sakralem und
Profanem statt. Vielmehr wird, wie noch zu zeigen ist, die auf
subjektivem Blick basierende Konstruktion der Wirklichkeit zum
- wenn man so will - Religionsersatz erhoben. Voraussetzung für
die Einbindung der Betrachter in die Inszenierung ist das Anknüpfen
an ihre Sehgewohnheiten. Das geschieht in Mesdags Panorama auf
verschiedene Weisen. Die zuerst ins Auge fallende ist der Naturalismus
der Darstellung.