Wahrnehmung im Panorama
Nur, die Betrachter stehen nicht still im Panorama. Und menschliche
Wahrnehmung ist vom Modell der Camera obscura weit entfernt.
Visuelle Wahrnehmung kann nicht als isolierter Vorgang und unabhängig
vom mitgebrachten Erfahrungskontext des Publikums betrachtet
werden. Abgesehen von den Wahrnehmungen der anderen Sinne, die
das Erlebnis 'Panorama' mitkonstituieren, erzeugt die Bewegung
des Betrachters in der Inszenierung eine Form der Erinnerung,
die mit dem visuellen Angebot zusammen - ja eben nicht nur -
betrachtet werden muß. Abgesehen von allen psychophysiologischen
Wechselwirkungen ist auf der rein physischen Ebene das Blickfeld
in einer Weise hierarchisiert, die der gleichmäßig
scharfen und homogenen Darstellung auf der gewölbten Fläche
nicht entspricht.
Man muß zwei verschiedene, in gewisser Weise hierarchisierte
Arten des Sehens unterscheiden: die Fovea- oder Zentralsicht
und die Seitensicht. Abgesehen vom binokularen Sehen umfaßt
der Blickwinkel zweier unbeweglicher Augen zwar ungefähr
210 Grad, aber das Bild erscheint lediglich in einem Winkeldurchmesser
von zwei Grad scharf. Die Foveascharfsicht macht etwa ein 10.000
Teil des Gesichtsfeldes aus. Die Dichte der Sehzellenverteilung
auf der Netzhaut ist sehr unterschiedlich. Am dichtesten verteilt
sind die Sehzellen in der Mittelachse der Blickrichtung. "10
Grad von der Fovea entfernt, ist [die Dichte der Sehzellen] bereits
100mal schwächer als in der Fovea und wird mit 40 Grad Exzentrizität
2000mal schwächer."1 Neurophysiologische
Forschungen haben ergeben, daß Zentral- und Seitensicht
von verschiedenen Teilen des Gehirns verarbeitet werden. Während
die Sehnerven des Foveabereichs zum Großhirn laufen, verlaufen
die Nervenbahnen der peripheren Teile der Netzhaut zum Stammhirn.2 Nur ein sehr geringer Teil des Gesichtsfeldes
wird also analytisch betrachtet, nämlich jener, der in den
Foveabereich fällt.
Die Vertreter der Netzhaut- oder kurvenlinearen Perspektive meinten,
Geraden würden 'in Wirklichkeit' als Bögen gesehen.
Selbst wenn man die Netzhaut als Projektionsschirm auffaßte
- eine sehr mechanistische Auffassung des Sehvorgangs - so bildet
sich doch die Krümmung von Geraden in den peripheren Teilen
der Netzhaut ab, niemals in der Fovea. Wenn die der Seitensicht
zugehörigen - und nicht der Analyse unterworfenen - Bögen
plötzlich sich in der Fovea abbilden, entspricht das also
eher weniger der retina-adäquaten, 'natürlichen' Wahrnehmung.
Unter anderem erfahren wir deshalb die in die peripheren Felder
der Netzhaut projizierten Bögen keinesfalls als Bögen.
Die kurvenlineare Perspektive kann also als eine weitergehende
Abstraktion vom menschlichen Sehen bezeichnet werden, als es
die von ihren Vertretern kritisierte Zentralperspektive schon
ist.
Befunde der Neurophysiologie verdeutlichen, daß unser Gehirn
nicht auf die getreue Abbildung der Umwelt eingerichtet ist.3 Mit dem zentralen Bereich wird das Wahrnehmungsangebot
in einem zeitlichen Vorgang ausschnitthaft abgetastet. Durch
die Bewegung der Augen, des Kopfes und des Körpers ist die
Wahrnehmung selten auf einen festen Sehpunkt beschränkt.
Wir erfassen den Raum in 360 Grad als Raum-Zeit-Erfahrung.
Nichts anderes geschieht im Panorama. Dort sind die Wahrnehmungsbedingungen
der natürlichen Rundumsicht rekonstruiert. Auf der zylindrischen
Fläche erscheinen die horizontalen Bögen, die Geraden
meinen, tatsächlich als Geraden. Während die normale
perspektivische Konstruktion mit einem Fluchtpunkt arbeitet,
wechselt im zylindrischen Bild beim Umherblicken der Fluchtpunkt
ständig. Deshalb verhält der Blick sich wie angesichts
der Wirklichkeit: frei. Doch frei kann er sich nur verhalten,
weil die Rezeption perspektivischer Darstellungen erlernt und
als naturgetreue Wiedergabe des Seheindrucks akzeptiert ist.
Oettermann hält den panoramatischen Blick, mag er auch scheinbar
müßig schweifen, für nur scheinbar ziellos. Im
Gegenteil ziele er 'aufs Ganze'. Er wurde übertragen auf
andere Bereiche wie Musik, Literatur und Wissenschaft, "kurz
auf alles, was in den prüfenden und taxierenden Blick geriet.
Der panoramatische Blick ist in erster Linie Zugriff, ... der
das in den Blick Genommene objektiv betrachtet, ... um es dann
ganz zu vereinnahmen."4 Im Panorama ist
der Vergleich mit der natürlichen Rundumsicht nicht möglich.
Was sich als solche präsentiert, ist vielmehr die visuelle
Ausformung der Idee des perspektivischen Weltbildes. Das perspektivische
Weltbild wird von den Panoramen intentional vermittelt. Insofern
waren Panoramen didaktische Modelle für eine Weltsicht,
die sich einig weiß mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis.
Doch Mesdags Panorama ist bereits auf dem Weg zu einem anderen
naturwissenschaftlichen Konzept des Sehens, das als vom Subjekt
ausgehend begriffen wurde. Die Erfahrungsmöglichkeiten im
Panorama nehmen die Entwicklung solcher Sehkonzepte gewissermaßen
vorweg, denn die Erfahrungspotentiale der Betrachter reichen
über die bloße Rezeption von durch die Vermittlungsstrategien
beförderten Konstruktionen immer schon hinaus.