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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Wahrnehmung im Panorama

 


Nur, die Betrachter stehen nicht still im Panorama. Und menschliche Wahrnehmung ist vom Modell der Camera obscura weit entfernt. Visuelle Wahrnehmung kann nicht als isolierter Vorgang und unabhängig vom mitgebrachten Erfahrungskontext des Publikums betrachtet werden. Abgesehen von den Wahrnehmungen der anderen Sinne, die das Erlebnis 'Panorama' mitkonstituieren, erzeugt die Bewegung des Betrachters in der Inszenierung eine Form der Erinnerung, die mit dem visuellen Angebot zusammen - ja eben nicht nur - betrachtet werden muß. Abgesehen von allen psychophysiologischen Wechselwirkungen ist auf der rein physischen Ebene das Blickfeld in einer Weise hierarchisiert, die der gleichmäßig scharfen und homogenen Darstellung auf der gewölbten Fläche nicht entspricht.

Man muß zwei verschiedene, in gewisser Weise hierarchisierte Arten des Sehens unterscheiden: die Fovea- oder Zentralsicht und die Seitensicht. Abgesehen vom binokularen Sehen umfaßt der Blickwinkel zweier unbeweglicher Augen zwar ungefähr 210 Grad, aber das Bild erscheint lediglich in einem Winkeldurchmesser von zwei Grad scharf. Die Foveascharfsicht macht etwa ein 10.000 Teil des Gesichtsfeldes aus. Die Dichte der Sehzellenverteilung auf der Netzhaut ist sehr unterschiedlich. Am dichtesten verteilt sind die Sehzellen in der Mittelachse der Blickrichtung. "10 Grad von der Fovea entfernt, ist [die Dichte der Sehzellen] bereits 100mal schwächer als in der Fovea und wird mit 40 Grad Exzentrizität 2000mal schwächer."1 Neurophysiologische Forschungen haben ergeben, daß Zentral- und Seitensicht von verschiedenen Teilen des Gehirns verarbeitet werden. Während die Sehnerven des Foveabereichs zum Großhirn laufen, verlaufen die Nervenbahnen der peripheren Teile der Netzhaut zum Stammhirn.2 Nur ein sehr geringer Teil des Gesichtsfeldes wird also analytisch betrachtet, nämlich jener, der in den Foveabereich fällt.

Die Vertreter der Netzhaut- oder kurvenlinearen Perspektive meinten, Geraden würden 'in Wirklichkeit' als Bögen gesehen. Selbst wenn man die Netzhaut als Projektionsschirm auffaßte - eine sehr mechanistische Auffassung des Sehvorgangs - so bildet sich doch die Krümmung von Geraden in den peripheren Teilen der Netzhaut ab, niemals in der Fovea. Wenn die der Seitensicht zugehörigen - und nicht der Analyse unterworfenen - Bögen plötzlich sich in der Fovea abbilden, entspricht das also eher weniger der retina-adäquaten, 'natürlichen' Wahrnehmung. Unter anderem erfahren wir deshalb die in die peripheren Felder der Netzhaut projizierten Bögen keinesfalls als Bögen. Die kurvenlineare Perspektive kann also als eine weitergehende Abstraktion vom menschlichen Sehen bezeichnet werden, als es die von ihren Vertretern kritisierte Zentralperspektive schon ist.

Befunde der Neurophysiologie verdeutlichen, daß unser Gehirn nicht auf die getreue Abbildung der Umwelt eingerichtet ist.3 Mit dem zentralen Bereich wird das Wahrnehmungsangebot in einem zeitlichen Vorgang ausschnitthaft abgetastet. Durch die Bewegung der Augen, des Kopfes und des Körpers ist die Wahrnehmung selten auf einen festen Sehpunkt beschränkt. Wir erfassen den Raum in 360 Grad als Raum-Zeit-Erfahrung.

Nichts anderes geschieht im Panorama. Dort sind die Wahrnehmungsbedingungen der natürlichen Rundumsicht rekonstruiert. Auf der zylindrischen Fläche erscheinen die horizontalen Bögen, die Geraden meinen, tatsächlich als Geraden. Während die normale perspektivische Konstruktion mit einem Fluchtpunkt arbeitet, wechselt im zylindrischen Bild beim Umherblicken der Fluchtpunkt ständig. Deshalb verhält der Blick sich wie angesichts der Wirklichkeit: frei. Doch frei kann er sich nur verhalten, weil die Rezeption perspektivischer Darstellungen erlernt und als naturgetreue Wiedergabe des Seheindrucks akzeptiert ist. Oettermann hält den panoramatischen Blick, mag er auch scheinbar müßig schweifen, für nur scheinbar ziellos. Im Gegenteil ziele er 'aufs Ganze'. Er wurde übertragen auf andere Bereiche wie Musik, Literatur und Wissenschaft, "kurz auf alles, was in den prüfenden und taxierenden Blick geriet. Der panoramatische Blick ist in erster Linie Zugriff, ... der das in den Blick Genommene objektiv betrachtet, ... um es dann ganz zu vereinnahmen."4 Im Panorama ist der Vergleich mit der natürlichen Rundumsicht nicht möglich. Was sich als solche präsentiert, ist vielmehr die visuelle Ausformung der Idee des perspektivischen Weltbildes. Das perspektivische Weltbild wird von den Panoramen intentional vermittelt. Insofern waren Panoramen didaktische Modelle für eine Weltsicht, die sich einig weiß mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Doch Mesdags Panorama ist bereits auf dem Weg zu einem anderen naturwissenschaftlichen Konzept des Sehens, das als vom Subjekt ausgehend begriffen wurde. Die Erfahrungsmöglichkeiten im Panorama nehmen die Entwicklung solcher Sehkonzepte gewissermaßen vorweg, denn die Erfahrungspotentiale der Betrachter reichen über die bloße Rezeption von durch die Vermittlungsstrategien beförderten Konstruktionen immer schon hinaus.

 


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 1 Barre in: Flocon/Barre, 1968/1983, S. 69.

2 Evolutionstheoretisch ist die Zentralsicht für das Analysieren und genaue Bearbeiten von Gegenständen zuständig, während die Seitensicht die Aufgabe hat, alles wahrzunehmen, was diese Beschäftigung stören könnte, d.h. Bewegungen im peripheren Gesichtsfeld. Durch den Verlauf der Nervenbahnen zum Stammhirn ist gewährleistet, daß auf eine solche Störung sofort und reflexartig reagiert werden kann.

3 Vgl. Kap. II.16, Hyperreale Bilder.

4 Oettermann, 1980, S. 19.


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