Der Glaszylinder
Panoramen sind, mit Ausnahme der Spezialform 'Georama' (Abb. 17), keine
Kugeln, sondern Zylinder. Wenn die Kugel als Idealform der Projektionsfläche
gilt, so ist die Verwendung eines Zylinders ein guter Kompromiß.
Die horizontalen Linien können - zumindest im Prinzip -
ohne Verzerrung dargestellt werden.
Mesdags Ausgangspunkt für die Übertragung des Entwurfs
auf die Leinwand war sein Glaszylinder. Würde die Zeichnung
auf dem Zylinder auf eine plane Fläche vom Mittelpunkt aus
projiziert, so entspräche das Ergebnis der klassischen Perspektive:
Geraden würden wieder zu Geraden, während die Randgebiete
Verzerrungen unterworfen wären (Vgl. Abb.
5: die einzige waagrechte Linie, die auch auf der planen
Fläche gerade ist, ist der Horizont). Mesdag aber übertrug
die zylindrische Vorzeichnung auf einen Zylinder.
Im Februar 1881 begannen Mesdag und seine Gehilfen, den Entwurf
auf die vorpräparierte und fertig installierte Leinwand
zu übertragen. Entscheidend für die illusionistische
Wirkung war die Positionierung des Bildes. Die durch das Dach
auf einen Teil der Leinwand einfallende Sonne mußte mit
der gemalten Lichtstimmung weitgehend übereinstimmen, um
die Illusion nicht zu zerstören. Das Panorama in Scheveningen
ist tatsächlich um nur 22,5 Grad bezüglich des realen
Ortes gedreht.
Um die Zeichnung zu übertragen, wurde die Leinwand zunächst
quadriert. Für die Nutzung des Glaszylinders zur Übertragung
der Konturen spricht, daß die wichtigsten Referenzpunkte,
wie beispielsweise der Von Wied Pavillon, sich an exakt denselben
Stellen wie auf dem Glaszylinder befinden.1
Der Zylinder könnte auf zwei verschiedene Weisen benutzt
worden sein. Mesdag könnte - im Zylinder stehend - Instruktionen
an seine Mitarbeiter weitergegeben haben. Das Dirigieren der
Mitarbeiter von der Mitte aus war ein gebräuchliches Verfahren
bei der Herstellung der Riesenrundgemälde - weil die Maler
direkt vor der Leinwand buchstäblich nicht wissen, was sie
tun. Eine andere Methode könnte die Projektion der Zeichnung
auf die Leinwand mit Hilfe von Bühnenlicht gewesen sein.
Eine entsprechende Technik wurde damals benutzt, um Fotografien
zu projizieren (Belegt ist die Verwendung der fotografischen
Projektion in Panoramen erstmals für 1882.). Tests während
der Restaurierung des Panoramas haben ergeben, daß die
gemalten Konturen auf dem Zylinder präzise mit den Konturen
auf der Leinwand übereinstimmen. Allerdings erscheinen die
Konturen verzerrt und weit auseinandergezogen. Da die Farbe auf
dem Zylinder heute ausgebleicht ist, vermutet van Eekelen, daß
zu Mesdags Zeit die Konturen besser sichtbar gewesen sein müssen.2 Für die Verwendung des Zylinders als maßgebliches
Übertragungsmedium und gegen die Verwendung von Fotografien
spricht, daß einige Details, die auf Fotos von 1880 zu
sehen sind, auf dem Panorama fehlen. Auch differiert die Position
einiger Kirchtürme am Horizont von der auf zeitgenössischen
Fotografien.
Die Verwendung des Glaszylinders garantierte die naturgetreue
Wiedergabe des Ortes. Für sie gilt, was Barre von der Zeichnung
auf der Kugeloberfläche sagt: "Die Zeichnung auf der
durchsichtigen ... Kugeloberfläche ist von bemerkenswerter,
ja absoluter Kohärenz und steht in keiner Weise im Widerspruch
zur direkten Beobachtung: Sie ist völlig realistisch. Alle
Widersprüche der Raumgestaltung sind deswegen aufgehoben,
weil der wirkliche Raum mit seinen drei Dimensionen auf eine
Oberfläche übertragen wurde, die ebenfalls im dreidimensionalen
Raum gründet und allerorts gleich weit vom Beobachtungspunkt
entfernt ist. Der Beobachter ist gewissermaßen mit einem
sphärischen Raum verschmolzen, der als eine Art homothetischer
Ausweitung seines Blickpunkts angesehen werden könnte".3 Unter diesem Blickwinkel hat Mesdag versucht,
seine Camera-obscura-artige Wahrnehmung 1:1 auf die Leinwand
übertragen. Die Verschmelzung des Malers mit dem Apparat
ist im fertigen Rundgemälde Modell für den Blick des
Betrachters.4 Die Leinwand spiegelt gleichsam
das Netzhautbild des Malers, ein Bild, das nach den Prinzipien
des Sehkonzeptes der Camera-obscura ohne Verlust von der gleichartigen
Netzhaut der Besucher widergespiegelt werden kann.