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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Der Glaszylinder

 

Panoramen sind, mit Ausnahme der Spezialform 'Georama' (Abb. 17), keine Kugeln, sondern Zylinder. Wenn die Kugel als Idealform der Projektionsfläche gilt, so ist die Verwendung eines Zylinders ein guter Kompromiß. Die horizontalen Linien können - zumindest im Prinzip - ohne Verzerrung dargestellt werden.

Mesdags Ausgangspunkt für die Übertragung des Entwurfs auf die Leinwand war sein Glaszylinder. Würde die Zeichnung auf dem Zylinder auf eine plane Fläche vom Mittelpunkt aus projiziert, so entspräche das Ergebnis der klassischen Perspektive: Geraden würden wieder zu Geraden, während die Randgebiete Verzerrungen unterworfen wären (Vgl. Abb. 5: die einzige waagrechte Linie, die auch auf der planen Fläche gerade ist, ist der Horizont). Mesdag aber übertrug die zylindrische Vorzeichnung auf einen Zylinder.

Im Februar 1881 begannen Mesdag und seine Gehilfen, den Entwurf auf die vorpräparierte und fertig installierte Leinwand zu übertragen. Entscheidend für die illusionistische Wirkung war die Positionierung des Bildes. Die durch das Dach auf einen Teil der Leinwand einfallende Sonne mußte mit der gemalten Lichtstimmung weitgehend übereinstimmen, um die Illusion nicht zu zerstören. Das Panorama in Scheveningen ist tatsächlich um nur 22,5 Grad bezüglich des realen Ortes gedreht.

Um die Zeichnung zu übertragen, wurde die Leinwand zunächst quadriert. Für die Nutzung des Glaszylinders zur Übertragung der Konturen spricht, daß die wichtigsten Referenzpunkte, wie beispielsweise der Von Wied Pavillon, sich an exakt denselben Stellen wie auf dem Glaszylinder befinden.1 Der Zylinder könnte auf zwei verschiedene Weisen benutzt worden sein. Mesdag könnte - im Zylinder stehend - Instruktionen an seine Mitarbeiter weitergegeben haben. Das Dirigieren der Mitarbeiter von der Mitte aus war ein gebräuchliches Verfahren bei der Herstellung der Riesenrundgemälde - weil die Maler direkt vor der Leinwand buchstäblich nicht wissen, was sie tun. Eine andere Methode könnte die Projektion der Zeichnung auf die Leinwand mit Hilfe von Bühnenlicht gewesen sein. Eine entsprechende Technik wurde damals benutzt, um Fotografien zu projizieren (Belegt ist die Verwendung der fotografischen Projektion in Panoramen erstmals für 1882.). Tests während der Restaurierung des Panoramas haben ergeben, daß die gemalten Konturen auf dem Zylinder präzise mit den Konturen auf der Leinwand übereinstimmen. Allerdings erscheinen die Konturen verzerrt und weit auseinandergezogen. Da die Farbe auf dem Zylinder heute ausgebleicht ist, vermutet van Eekelen, daß zu Mesdags Zeit die Konturen besser sichtbar gewesen sein müssen.2 Für die Verwendung des Zylinders als maßgebliches Übertragungsmedium und gegen die Verwendung von Fotografien spricht, daß einige Details, die auf Fotos von 1880 zu sehen sind, auf dem Panorama fehlen. Auch differiert die Position einiger Kirchtürme am Horizont von der auf zeitgenössischen Fotografien.

Die Verwendung des Glaszylinders garantierte die naturgetreue Wiedergabe des Ortes. Für sie gilt, was Barre von der Zeichnung auf der Kugeloberfläche sagt: "Die Zeichnung auf der durchsichtigen ... Kugeloberfläche ist von bemerkenswerter, ja absoluter Kohärenz und steht in keiner Weise im Widerspruch zur direkten Beobachtung: Sie ist völlig realistisch. Alle Widersprüche der Raumgestaltung sind deswegen aufgehoben, weil der wirkliche Raum mit seinen drei Dimensionen auf eine Oberfläche übertragen wurde, die ebenfalls im dreidimensionalen Raum gründet und allerorts gleich weit vom Beobachtungspunkt entfernt ist. Der Beobachter ist gewissermaßen mit einem sphärischen Raum verschmolzen, der als eine Art homothetischer Ausweitung seines Blickpunkts angesehen werden könnte".3 Unter diesem Blickwinkel hat Mesdag versucht, seine Camera-obscura-artige Wahrnehmung 1:1 auf die Leinwand übertragen. Die Verschmelzung des Malers mit dem Apparat ist im fertigen Rundgemälde Modell für den Blick des Betrachters.4 Die Leinwand spiegelt gleichsam das Netzhautbild des Malers, ein Bild, das nach den Prinzipien des Sehkonzeptes der Camera-obscura ohne Verlust von der gleichartigen Netzhaut der Besucher widergespiegelt werden kann.

 


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 1 Van Eekelen begründet die Nutzung des Glaszylinders damit, daß genau an der Stelle, an der die beiden Zylinderhälften aneinanderstoßen, sich ein Fehler eingeschlichen habe. (van Eekelen, 1996, S. 93)

2 Vgl. van Eekelen, 1996, S. 93.

3 Barre in: Flocon/Barre, 1968/1983, S. 90.

4 Symptomatisch dafür ist, daß heute der Glaszylinder in der Mitte des Panoramas aufgestellt ist - allerdings können die Besucher nicht dorthin gelangen um ihr Auge an der Stelle des Malerauges zu halten. Der exklusive Augenpunkt ist nicht zugänglich. (Abb. 14)


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