Zurück
Gabriele Schmid:  Illusionsräume
Home

 

Kurvenlineare Perspektive und Sehkugel

 

Der panoramatischen Darstellung entspricht weniger die echte zentralperspektivische Konstruktion, sondern die kurvenlineare Perspektive. Sie suchte der menschlichen Sehweise näher zu kommen. Die Camera obscura weist - wie die mathematische Perspektivkonstruktion - gegenüber der menschlichen Wahrnehmung entscheidende Mängel auf. Die Euklidische Perspektive vermittelt zwar die Wahrnehmung kleiner Winkelbereiche, sie ist aber aufgrund der auftretenden Randverzerrungen für mittlere Winkel ungenügend und ab 180 Grad unbrauchbar.

Die planperspektivische Konstruktion und die Camera obscura negieren die Kurvierung des Sehbildes. Die Kurvierung entsteht dadurch, daß die Formen im Auge nicht auf eine ebene, sondern auf eine gekrümmte Fläche projiziert werden, "womit bereits in dieser untersten, noch vor-psychologischen Tatsachenschicht eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen der 'Wirklichkeit' und der Konstruktion ... gegeben ist." Planperspektivische Konstruktionen hat Mesdag für sein Panorama nicht verwendet.2 Die empirisch gewonnene Polyperspektive des Panoramas entspricht vielmehr den theoretischen Voraussetzungen der kurvenlinearen Perspektive. Auch hier wird das Sehen als mechanischer Vorgang begriffen, und die Suche nach einem retina-adäquaten, wahrheitsbürgenden Bild fortgesetzt.

Die konkave Anatomie des Auges bildet in der kurvenlinearen Perspektive die Entsprechung zum Außen. Fritz Stark, der 1928 eine 'Netzhautbild-Perspektive' schrieb, betrachtet sein Verfahren als "Herstellung des wahren Sehbildes nach dem Grundprinzip des menschlichen Sehens".3 Als eigentlichen Fehler der planperspektivischen Konstruktion bezeichnet Stark die Definition des Bildes als ebenen Durchschnitt der Sehpyramide: "Wir dürfen nicht auf die Gerade, die Bildebene projizieren... Erst mit einer grundsätzlichen Aufgabe der Bildebene in der Konstruktion läßt sich der Weg zur Lösung des Problems finden!"4 Die kurvenlineare Perspektive hält im Unterschied zur verformenden euklidischen Perspektive die Dimensionen der Objekte ein. Auf der planen Zeichenebene allerdings erscheinen Geraden als Bögen.

André Barre bezeichnet als den Vorteil der kurvenlinearen gegenüber der planimetrischen Perspektive, daß sie dem totalen Gesichtsfeld mit seinen vielfachen Fluchtpunkten entspricht.5 Flocon und Barre versuchten eine Darstellungsweise zu finden, die Bilder erzeugt, die "dem wirklichen Raum und den wirklichen Körpern entsprechende Eindrücke hervorrufen."6 Es geht - erkenntnistheoretisch gesprochen - nicht mehr darum, die Welt so darzustellen, wie sie 'wirklich' ist, sondern so, wie man sie unter bestimmten Bedingungen beobachten kann. Das Verfahren ist aber dennoch, und das hat es mit der Renaissance-Perspektive gemein, ein Versuch, als chaotisch erfahrene Wirklichkeit zu fassen und ordnen.7 Ansichten der Wirklichkeit, meint Barre, könnten nur dann erscheinen, "wenn man ein allgemein annehmbares Aufbaugesetz aufstellt."8

Daß perspektivische Bilder als wahr angesehen werden, beruht darauf, daß "unsere räumliche Wahrnehmung im wesentlichen das Resultat einer langen Erziehung"9 ist. Denn tatsächlich, meint Barre, sähen wir keine Geraden, sondern Bögen, da das Auge eine 'schwenkbare Kugel' sei, in deren Innerem die betrachteten Gegenstände sich projizierten. Ideal für den Zeichner sei das feststehende Auge, da das entstehende Bild "vom Gehirn im Prinzip in aller Ruhe analysiert werden kann. Leider ist ein solcher Idealzustand von der Wirklichkeit weit entfernt."10

Da die Kugeloberfläche nicht auf einer planen Oberfläche abgerollt werden kann, ist die genaue Darstellung des wirklichen Raums auf einer Ebene nicht zu verwirklichen. "Die zur Durchzeichnung dienende durchsichtige Oberfläche müßte also in allen ihren Teilen im gleichen Abstand zum Auge stehen... Eine einzige Oberfläche hat die erforderlichen Eigenschaften: die Kugel... Stellen wir uns also eine durchsichtige Hohlkugel vor, in deren Mitte sich das Auge des Zeichners ... befindet: Wir könnten auf ihrer Oberfläche eine Nachzeichnung des wirklichen Raumes ohne jede Verzerrung vornehmen. Wir hätten die Gewißheit, daß jedem Sehwinkelwert eine gleichwertige Linienlänge in Form eines Kreisbogens entspräche. So unterscheidet sich die neue Perspektive von vornherein von der alten: Diese ist eine Projektion auf die Ebene, jene verlangt zunächst eine Projektion auf eine Kugeloberfläche."11

 


Home

Inhalt

Weiter


 1 Panofsky, 1964, S. 102.

2 Allerdings hat Mesdag möglicherweise Fotografien eingesetzt. Der Blick auf Scheveningen von der Seinpostduin aus galt als typisch und wurde schon 1850 von dem Photographen Henri Plaut für das Stereoskop aufgenommen. Etwa zur Entstehungszeit von Mesdags Panorama publizierte der Photograph Henri de Louw ein kleines Album mit einem 360 Grad Panorama von Scheveningen, das er von der Seinpostduin aus aufgenommen hatte. Vermutlich ist dieses Panorama vom gemalten Panorama inspiriert worden und diente nicht umgekehrt Mesdag als Vorlage. Dagegen hat der Photograph H.W. Wollrabe um 1880 Aufnahmen gemacht, die mit Mesdags Panorama weitgehend übereinstimmen. Die Entstehungszeit der Photographien ist erkenntlich an dem Fehlen von Gebäuden, die 1882 bereits erbaut waren. In welcher Weise Mesdag die Fotos benutzt hat, ist nicht bekannt. (Vgl. Boom, 1996, S. 111ff)

3 Stark, 1928, Untertitel.
Die Perspektive der Renaissance, meint Stark, sei von falschen Voraussetzungen ausgegangen, weshalb alle perspektivischen Systeme unbefriedigend geblieben seien. "Die Lösung des Problems läßt sich nur finden, wenn man vom Sehvorgang im Auge ausgeht, das Prinzip, welches durch den Bau dieses Organs seinen Ausdruck findet, der Aufgabe zugrunde legt. Dies aber führt zu einer grundsätzlich anderen Einstellung, statt wie bisher, von Innen nach Außen, heißt es jetzt von Außen durch den Brennpunkt nach Innen projizieren." (Stark, 1928, S. 11.)

4 Stark, 1928, S. 16.
Der Entwurf der Netzhaut- oder kurvenlinearen Perspektive ist historisch nicht die erste Kritik an der Zentralperspektive. Im 17. Jahrhundert forderte G. Huret eine dem natürlichen diskursiven Sehen adäquate Perspektive, "bei deren Anwendung im Gemälde alle Figuren ihren eigenen Fluchtpunkt auf einem gemeinsamen Horizont haben, damit der vor den Bildern promenierende Betrachter die gleiche Beweglichkeit des Blicks genießen könne wie beim Anblick der Realität. Einige Jahre zuvor hatte der Mathematiker G. Desargues die Fluchtpunktkonstruktion der Zentral-Perspektive durch ein neues geometrisches Verfahren 'ohne Fluchtpunkt' in Frage gestellt". (Kambartel, 1989, S. 375f.)

5 Barre in: Flocon/Barre, 1968, S. 29.
Ausgangspunkt Barres für die Arbeit an der kurvenlinearen Perspektive waren Überlegungen des Zeichners Albert Flocon, der panoramatische Blickfelder darstellen wollte. Flocons Beschreibung seiner Erfahrung als Zeichner vor der Landschaft ähnelt verblüffend jener Barkers, der aus aneinandergefügten Landschaftsansichten das Panorama entwickelte. Flocon führte der Versuch, die panoramatische Rundumsicht darzustellen, zur Krümmung bestimmter Raumgeraden und damit zur Entdeckung der Sichtkugel. Um diese Entdeckung zu systematisieren, arbeitete er zusammen mit dem Techniker André Barre ein praktisches Verfahren für eine kurvenlineare Perspektive aus.

6 Barre in: Flocon/Barre, 1968/1983, S. 29.
Dabei berücksichtigt Barre durchaus die komplexe Wahrnehmungsweise vor den Dingen. Bei der Umsetzung von Raumverhältnissen auf die Bildfläche soll das gesamte Spektrum der erlebten räumlichen Wirklichkeit, "die von allen Sinnesorganen, im besonderen durch Sehen und Tasten, aufgenommen und von bewußten Erinnerungen und unbewußten Ablagerungen bestätigt wird" berücksichtigt werden. (ebd.)

7 "Wenn doch wenigstens die Natur ... aus glattpolierten und sauber gemalten Oberflächen bestünde! Doch auch hier behält die Unordnung die Oberhand. Das Rot des Apfels enthüllt sich endlos, selbst durch die Lupe betrachtet, wie ein Mosaik, das aus Steinchen der verschiedensten Rotnuancen zusammengesetzt ist... Wollte man das Aussehen der Dinge in ihrer Gesamtheit erfassen, müßte man auf einen wilden Pointillismus zurückgreifen." (Barre in: Flocon/Barre, 1968/1983, S. 34.)

8 Barre in: Flocon/Barre, 1968/1983, S. 31.

9 Barre in: Flocon/Barre, 1968/1983, S. 64.

10 Barre in: Flocon/Barre, 1968/1983, S. 68.
Eine solche Überlegung ist müßig, da es, bezieht man die psycho-physiologischen Voraussetzungen der visuellen Wahrnehmung mit ein, keine Übereinstimmung zwischen gekrümmtem Netzhautbild und der Bildverarbeitung und -erzeugung im Gehirn gibt.

11 Barre in: Flocon/Barre, 1968/1983, S. 78.


Home

Inhalt

Weiter