LICHTER SCHEIN
Die Klosterkirche St. Ursula in Straubing von
Cosmas Damian und Egid Quirin Asam
Nicht, daß er eintrat, aber daß
er dicht,
der
Engel, eines Jünglings Angesicht
so
zu ihr neigte; daß sein Blick und der,
mit
dem sie aufsah, so zusammenschlugen
als
wäre draußen plötzlich alles leer
und,
was Millionen schauten, trieben, trugen,
hineingedrängt
in sie: nur sie und er;
Schaun
und Geschautes, Aug und Augenweide
sonst
nirgends als an dieser Stelle -: sieh,
dieses erschreckt. Und sie erschraken beide.
Dann sang der Engel seine Melodie.
R.M.
Rilke
Mariae
Verkündigung
Die Klosterkirche St. Ursula in Straubing ist das letzte
Gemeinschaftswerk der Brüder Asam - des Malers Cosmas Damian
Asam und des Architekten und Stukkateurs Egid Quirin Asam. Der
Ursulinenorden hatte 1691 in Straubing ein Kloster mit einer
Bildungsanstalt für Mädchen gegründet. 1736 konnte
die damalige Oberin Maria Magdalena von Empach die Brüder
Asam für den Bau einer Klosterkirche gewinnen. Egid Quirin
Asam schrieb am 26. Oktober 1736 an die Oberin, daß er
und sein Bruder 'ein freidt haben ein schone Kirchen zu bauen
und zu ziern'. So steht es heute am Eingang der Kirche. Architektur
und Stukkatur stammen von Egid Quirin Asam, Fresken und Altarbilder
von Cosmas Damian Asam. Teile der Fresken und Bilder wurden von
Egid Quirin vollendet, denn Cosmas Damian starb 1739, noch vor
der Vollendung des Baus 1740. Die Kirche wurde 1741 - wie zuvor
bereits das Kloster - der Unbefleckten Empfängnis Marias
geweiht.1 Die Unbefleckte Empfängnis bildet
zusammen mit der Legende der Ordensheiligen Ursula das zentrale
Thema des Ausstattungsprogramms und im weiteren Sinne der Ausgestaltung
des gesamten Kirchenraums. Um letztere soll es hier vornehmlich
gehen.
Im Eingang des Kapitels gebe ich eine kurze, charakterisierende
Beschreibung des Phänomens, um dann hinsichtlich rezeptionsästhetischer
Analyse den Kontext des Werks zu erläutern. Im Anschluß
beschreibe ich den barocken Kirchenraum als Umraumerlebnis. Ausführlich
zur Sprache kommen die Elemente, die das Umraumerlebnis konstituieren:
die perspektivische Anlage der Gemälde und Fresken und der
immaterielle Flimmerraum, den ich als visionäres Lichterlebnis
charakterisiere. Die Weise der Erscheinung des Kirchenraums binde
ich an ästhetische Theorien der zeitgenössischen Betrachter
an: die gegenreformatorische Ästhetik. In welcher Hinsicht
das Hauptmotiv in St. Ursula - die unbefleckte Empfängnis
- in vielfacher Weise im Kirchenraum thematisiert ist, spiegelt
sich im Mythos der 'Geburt der Perle aus dem Blitz', den ich
analogiehaft zu ikonologischer Deutung hinzuziehe. Inwiefern
Deutungen immer auch von historischer Gegenwart bestimmt werden,
erläutere ich an der Geschichtlichkeit des Barockbegriffs.
Vor diesem Hintergrund deute ich St. Ursula als Grenzfall zwischen
Barock und Rokoko, und suche im Ausgang des Kapitels solche Deutung
in dichter Beschreibung zu spiegeln.
Das Phänomen (dichte Beschreibung)
Ein Lichtstrahl streift, betritt man die Klosterkirche St.
Ursula an einem sonnigen Wintertag gegen vierzehn Uhr, eine stuckierte
Blume hoch oben im Kirchenraum: Dargestellt ist eine Lilie -
Symbol der Unbefleckten Empfängnis Marias -, gehalten von
der Hand eines Puttos (Abb.
1). Der Putto stützt sich auf eine silberne Wolke und
beugt sich über den Rand der kranzförmigen Bekrönung
des Hochaltars. Neben dem Putto schwebt die Stuckfigur des Erzengels
Gabriel. Ein rotgoldnes Tuch mit reichem Faltenwurf ist um seine
Hüften geschlungen. Der Engel weist mit einer Hand nach
oben auf das Auszugsbild Gottvaters, mit der anderen nach unten
auf eine lateinische Inschrift über dem Hochaltarblatt:
VIRGO SINE LABE.2 Engel und Putto sind als plastisch
geformte Figuren Zeichen und verweisen auf die heilige Schrift.
Zugleich reflektieren sie das einfallende Licht und bilden einen
Teil des Gesamtraums, von dem sie, architekturgebunden und farbig
gefaßt, nicht isolierbar sind. Hier über dem Altar
kulminiert und verdichtet sich in der Verbindung und Verflechtung
disparater Gestaltungselemente die Weise, in der der gesamte
Raum gestaltet ist. Schrift, Bild und Plastik sind nicht einem
Raum eingefügt. Sie bilden ihn aus im einfallenden Licht.3