Hoffnungen
Die erste Erscheinung des Neuen, hat Heiner Müller gesagt,
ist der Schrecken. Der Schrecken, den Boissonnets Installationen
zu erzeugen vermögen, entspringt dem Begreifen der Anforderung,
die sie an das Denken stellen. So wie die Erde nicht länger
als Konzept betrachtet werden soll, sollen unsere Denkprozesse
den Körper umfassen, anstatt ihn auszuschließen, als
sei er bloß ein biologisches Hilfsmittel für etwas
Wichtigeres, das allein in unseren Köpfen geschieht. Indem
Boissonnet die Körper der Betrachter und den endlichen Charakter
der Erde ins Zentrum seiner Installationen stellt, indem er über
kognitive Erkenntnismöglichkeiten hinaus Erfahrungen ermöglicht,
inszeniert er letztlich lebensgeschichtliches Lernen der Rezipienten.
Boissonnet, meint Prédal, habe in sein Werk Bezüge
zum Übergang zwischen Leben und Tod integriert, indem er
den Körper als Objekt in Bezug setzt zu der spirituellen
Energie, die ihn bewegt. "Wie in einem überfüllten
Reanimationsraum in einer Klinik, wo Instrumente und technisches
Equipment ein fragiles, aber wertvolles Überleben zu sichern
versuchen, erzeugt die holographische Installation ein leichtes,
flüchtiges und deshalb auch seltenes Gefühl. Es ist
fast unbenennbar, doch sicher nicht unausdrückbar. Nach
vielen Verwandlungen mittels hochentwickelter Technologie stellt
sich eine reine Emotion ein."1
Heinrich von Kleist hat solche Wandlung in seinem Essay 'Das
Marionettentheater' als 'Rückkehr in den Stand der Unschuld'
beschrieben: "'Wir sehen, [sagte Herr C...,] daß in
dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler
und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und
herrschender hervortritt. - Doch so, wie sich der Durchschnitt
zweier Linien, auf der einen Seite des Punktes, nach dem Durchgang
durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der anderen Seite
einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in
das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor
uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam
durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so
daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau
am reinsten erscheint, der entweder gar keins oder ein unendliches
Bewußtsein hat, d.h. in dem Gliedermann oder in dem Gott.
'Mithin', sagte ich ein wenig zerstreut, 'müßten wir
wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der
Unschuld zurückzufallen?' 'Allerdings', antwortete er; 'das
ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.'-"2
Mit der Theorie vom holographischen Universum ist sicher nicht
das letzte Kapitel der Welt geschrieben worden. Festzuhalten
bleibt, daß die Theorien von Bohm und anderen darauf zielen,
ausgehend von der Wirklichkeit unser Verständnis von Bewußtsein
zu vertiefen und erweitern. Mit einem unendlichen Bewußtsein
könnte man die grenzenlose Unendlichkeit des Raums erfahren.
Doch erforderte das ein Raumverständnis, das völlig
verschieden ist von einem Behälter/Inhalt- Verhältnis.
Das Bewußtsein müsse, sagt Bohm, "jenem unterschiedlichen
Raum angemessen sein, um ihn zu entdecken. Das Bewußtsein
muß faktisch seinen Zustand verändern."3
Mystiker, denen solch anderes Bewußtsein zugestanden werden
mag, können entweder die Immanenz oder die Transzendenz
der Ganzheit erfahren. Beides ist schwer in Worte zu fassen,
es sei denn in poetische oder symbolische. Sagen sie nichts,
meint Bohm, sei das wenig hilfreich für eine neue Wahrnehmung
der Welt. "Können wir also eine Sprache finden, in
der Geist und Materie als zur selben Ordnung gehörig betrachtet
werden, dann könnte es möglich werden, diese Erfahrung
verstandesmäßig faßbar zu diskutieren."4
Die interaktiven Installationen Boissonnets mit ihren Inszenierungen
von Hologrammen, betrachtet man sie ohne der Versuchung zu erliegen,
sie in bereits verfügbare, doch zu kurz greifende Deutungsmuster
einzuordnen, legen mittels des visuellen - kognitiv lesbaren
- Angebots und im Ereignis der Rezeption, ich sage es
nochmals, Spuren aus (sie illustrieren sie keinesfalls) zu den
Denkgebäuden des holographischen Universums und des Mythos.
Das ist eine Möglichkeit.
Das holographische Modell ist, wie Pribam anerkennt, "nicht
leicht zu verarbeiten ...; es stürzt auf zu radikale Weise
unsere früheren Überzeugungen, unsere normalen Auffassungen
von Welt, Zeit und Raum".5 Doch Pribam
hält es für möglich, daß spätere Generationen
mit dem holographischen Denken vertraut sein werden. Die erste
Gestalt der Hoffnung, sagte Heiner Müller, ist die Furcht.