Kunst als Modell
       
      Kunst, auch als Modell begriffen, kann nicht abbildend im
      Sinne der Illustration von begrifflich faßbaren Konzepten
      sein, damit machte sie sich selbst überflüssig. Dennoch
      können Denkmodelle und Modelle, die mit den Mitteln der
      bildenden Kunst im weitesten Sinne arbeiten, ähnliche Zielrichtungen
      haben. An Gaia läßt sich erläutern, in
      welcher Hinsicht die physikalischen und psychologischen Modelle
      eines holographischen Universums zusammengesehen werden können
      mit Wahrnehmungsweisen, wie sie hochtechnologische Kunst erfordert
      und provoziert, und wie sie neuere Daten aus der Neurophysiologie
      nahelegen. Gemeinsam ist ihnen, dies dürfte aus der ausführlichen
      Beschreibung der oben geschilderten beteiligten Stränge
      bereits deutlich geworden sein, die Suche nach einem verträglicheren
      Umgang mit uns selbst und mit unserer Umwelt, als ihn die klassischen
      und klassifizierenden Modelle des newtonisch-cartesianischen
      Modells ermöglichen. Auf einer elementaren Ebene fußt
      solch ein Umgang auf einer veränderten Sicht auf die Wirklichkeit.
      Zuerst erforderlich dafür ist, in die Wirklichkeit einzutreten.
      Philippe Boissonnet erleichtert diesen Schritt, indem er ihn
      buchstäblich vor Augen stellt. Es genügt nicht, sich
      vor der stählernen Halbkugel aufzuhalten, um die darin eingebetteten
      Hologramme wahrnehmen zu können. Die Hologramme sind dergestalt
      in die tragende Struktur eingefügt, daß sie teils
      von außen (fünf), teils von innen (drei) zu sehen
      sind. Die Hologramme von Gaia sind nur sukzessiv zu betrachten,
      und ihre Erscheinungsweise ist verschieden: Orthoskopische Bilder
      zeigen die nach außen gerichteten Hologramme, pseudoskopische
      Bilder die nach innen gerichteten. Betritt man den Ausstellungsraum,
      sind die fünf Hologramme beleuchtet, die von außen
      zu sehen sind. Tritt ein Besucher in die Sphäre ein, erlischt
      deren Beleuchtung, und stattdessen werden die drei anderen Hologramme
      beleuchtet, die nur von innen zu sehen sind. Schon hier ist die
      Installation - und das ist der pädagogische Sinn des interaktiven
      Beleuchtungssystems - raumzeitlich angelegt.
      Die Inszenierung der Hologramme unterläuft den Versuch,
      die Hologramme in einer Weise zu interpretieren, die konform
      ist mit ikonologischer Deutung. Die Inszenierung führt,
      zusammen mit der besonderen Weise der orthoskopischen und pseudoskopischen
      Darstellung in Gaia und dem Prinzip der Holographie, neue
      raumzeitliche Parameter ein. Gewiß, die Hologramme repräsentieren.
      Sie repräsentieren den sphärischen Globus und Frauenköpfe.
      Den Versuch, die bildlichen Repräsentationen wahrzunehmen,
      wie wir es gewohnt sind, Bilder wahrzunehmen - nämlich als
      Substitute - unterläuft Boissonnet, indem die Bilder, die
      von innen zu sehen sind, pseudoskopisch sind. Die pseudoskopische
      Darstellung bewirkt, daß das, was erwartungsgemäß
      uns nahe sein sollte, das Entfernteste ist: Wir blicken in einen
      umgestülpten Raum, in dem sich die holographischen Erscheinungen
      ganz anders verhalten, als nach dem, was an entzifferbaren Repräsentationen
      von außen zu sehen war, zu erwarten wäre. Beispielsweise
      scheinen die pseudoskopischen Frauenköpfe dem Weg des Betrachters
      zu folgen (eine Wahrnehmungsirritation, die auch vor plastischen
      Hohlformen auftritt). Die umgekehrte Räumlichkeit hat zur
      Folge, daß die Erscheinungen dazu neigen zu verschwimmen.
      Es fällt schwer, den Blick zu fixieren und das Wahrgenommene
      scharfzustellen. Das Auge leitet so aus dem figurativen Bild
      mittels der pseudoskopischen Inversion ein abstraktes Bild ab.
      Und abstrakte Bilder, das haben wir gelernt im Umgang mit der
      klassischen Moderne, sind nicht repräsentativ im Sinne einer
      wie immer gearteten Illustration.
      Indem Boissonnet die Erwartung der Betrachter unterläuft,
      die zweifelsfreie Repräsentationen erwarten mögen -
      zumal, wenn ihnen die Möglichkeiten der Holographie bekannt
      sind - deutet er auf den konstruierten Charakter der Sphäre.
      Die Struktur verdoppelt, was die Hologramme zeigen. Steht man
      vor ihr, erscheint sie wie gewohnt: orthoskopisch. Dringt man
      in sie ein, wird sie pseudoskopisch, und das ist ungewohnt. Nie
      sind wir im Körper der Erde, nie denken wir im distanzierten
      utilitaristischen Umgang mit ihr 'aus ihr heraus'. Diesen abstrakten
      Gehalt illustriert Boissonnet nicht, er inszeniert ihn, indem
      er mit Mitteln der klassischen Skulptur - kombiniert und konfrontiert
      mit den unerwarteten Erscheinungsweisen der Hologramme - an den
      Erfahrungshorizont seiner Rezipienten anknüpft und ihn zugleich
      überschreitet. Im Versuch, die Bilder zu lesen, veranlaßt
      die graduelle Erscheinung der holographischen Projektion den
      Betrachter, sich zu bewegen. "Es ist diese mehr oder weniger
      vorgegebene entdeckende Aktion", schreibt Louise Poissant,
      "die Boissonnet mit seinen Installationen befördert
      und die vom Betrachter neue Verhaltensweisen erfordert."1 Die Konfrontation der Simulation der Repräsentation
      (hier: der Globus) und die Konfrontation der dechiffrierenden
      Lesart der Zeichen mit der ereignishaften Rezeption der Hologramme
      legen so eine Spur aus, die zur veränderten Wahrnehmung
      des von uns als real empfundenen Wirklichen führen können.
      Mental im Sinne der Reflexion der Modelle, physisch im Blick
      auf die Rezeptionssituation. Ein Schlüssel für die
      mögliche Reflexion ist die Transparenz: die Transparenz
      der stählernen Struktur wie der durchscheinenden Hologramme.