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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Kunst als Modell

 

Kunst, auch als Modell begriffen, kann nicht abbildend im Sinne der Illustration von begrifflich faßbaren Konzepten sein, damit machte sie sich selbst überflüssig. Dennoch können Denkmodelle und Modelle, die mit den Mitteln der bildenden Kunst im weitesten Sinne arbeiten, ähnliche Zielrichtungen haben. An Gaia läßt sich erläutern, in welcher Hinsicht die physikalischen und psychologischen Modelle eines holographischen Universums zusammengesehen werden können mit Wahrnehmungsweisen, wie sie hochtechnologische Kunst erfordert und provoziert, und wie sie neuere Daten aus der Neurophysiologie nahelegen. Gemeinsam ist ihnen, dies dürfte aus der ausführlichen Beschreibung der oben geschilderten beteiligten Stränge bereits deutlich geworden sein, die Suche nach einem verträglicheren Umgang mit uns selbst und mit unserer Umwelt, als ihn die klassischen und klassifizierenden Modelle des newtonisch-cartesianischen Modells ermöglichen. Auf einer elementaren Ebene fußt solch ein Umgang auf einer veränderten Sicht auf die Wirklichkeit. Zuerst erforderlich dafür ist, in die Wirklichkeit einzutreten.

Philippe Boissonnet erleichtert diesen Schritt, indem er ihn buchstäblich vor Augen stellt. Es genügt nicht, sich vor der stählernen Halbkugel aufzuhalten, um die darin eingebetteten Hologramme wahrnehmen zu können. Die Hologramme sind dergestalt in die tragende Struktur eingefügt, daß sie teils von außen (fünf), teils von innen (drei) zu sehen sind. Die Hologramme von Gaia sind nur sukzessiv zu betrachten, und ihre Erscheinungsweise ist verschieden: Orthoskopische Bilder zeigen die nach außen gerichteten Hologramme, pseudoskopische Bilder die nach innen gerichteten. Betritt man den Ausstellungsraum, sind die fünf Hologramme beleuchtet, die von außen zu sehen sind. Tritt ein Besucher in die Sphäre ein, erlischt deren Beleuchtung, und stattdessen werden die drei anderen Hologramme beleuchtet, die nur von innen zu sehen sind. Schon hier ist die Installation - und das ist der pädagogische Sinn des interaktiven Beleuchtungssystems - raumzeitlich angelegt.

Die Inszenierung der Hologramme unterläuft den Versuch, die Hologramme in einer Weise zu interpretieren, die konform ist mit ikonologischer Deutung. Die Inszenierung führt, zusammen mit der besonderen Weise der orthoskopischen und pseudoskopischen Darstellung in Gaia und dem Prinzip der Holographie, neue raumzeitliche Parameter ein. Gewiß, die Hologramme repräsentieren. Sie repräsentieren den sphärischen Globus und Frauenköpfe. Den Versuch, die bildlichen Repräsentationen wahrzunehmen, wie wir es gewohnt sind, Bilder wahrzunehmen - nämlich als Substitute - unterläuft Boissonnet, indem die Bilder, die von innen zu sehen sind, pseudoskopisch sind. Die pseudoskopische Darstellung bewirkt, daß das, was erwartungsgemäß uns nahe sein sollte, das Entfernteste ist: Wir blicken in einen umgestülpten Raum, in dem sich die holographischen Erscheinungen ganz anders verhalten, als nach dem, was an entzifferbaren Repräsentationen von außen zu sehen war, zu erwarten wäre. Beispielsweise scheinen die pseudoskopischen Frauenköpfe dem Weg des Betrachters zu folgen (eine Wahrnehmungsirritation, die auch vor plastischen Hohlformen auftritt). Die umgekehrte Räumlichkeit hat zur Folge, daß die Erscheinungen dazu neigen zu verschwimmen. Es fällt schwer, den Blick zu fixieren und das Wahrgenommene scharfzustellen. Das Auge leitet so aus dem figurativen Bild mittels der pseudoskopischen Inversion ein abstraktes Bild ab. Und abstrakte Bilder, das haben wir gelernt im Umgang mit der klassischen Moderne, sind nicht repräsentativ im Sinne einer wie immer gearteten Illustration.

Indem Boissonnet die Erwartung der Betrachter unterläuft, die zweifelsfreie Repräsentationen erwarten mögen - zumal, wenn ihnen die Möglichkeiten der Holographie bekannt sind - deutet er auf den konstruierten Charakter der Sphäre. Die Struktur verdoppelt, was die Hologramme zeigen. Steht man vor ihr, erscheint sie wie gewohnt: orthoskopisch. Dringt man in sie ein, wird sie pseudoskopisch, und das ist ungewohnt. Nie sind wir im Körper der Erde, nie denken wir im distanzierten utilitaristischen Umgang mit ihr 'aus ihr heraus'. Diesen abstrakten Gehalt illustriert Boissonnet nicht, er inszeniert ihn, indem er mit Mitteln der klassischen Skulptur - kombiniert und konfrontiert mit den unerwarteten Erscheinungsweisen der Hologramme - an den Erfahrungshorizont seiner Rezipienten anknüpft und ihn zugleich überschreitet. Im Versuch, die Bilder zu lesen, veranlaßt die graduelle Erscheinung der holographischen Projektion den Betrachter, sich zu bewegen. "Es ist diese mehr oder weniger vorgegebene entdeckende Aktion", schreibt Louise Poissant, "die Boissonnet mit seinen Installationen befördert und die vom Betrachter neue Verhaltensweisen erfordert."1 Die Konfrontation der Simulation der Repräsentation (hier: der Globus) und die Konfrontation der dechiffrierenden Lesart der Zeichen mit der ereignishaften Rezeption der Hologramme legen so eine Spur aus, die zur veränderten Wahrnehmung des von uns als real empfundenen Wirklichen führen können. Mental im Sinne der Reflexion der Modelle, physisch im Blick auf die Rezeptionssituation. Ein Schlüssel für die mögliche Reflexion ist die Transparenz: die Transparenz der stählernen Struktur wie der durchscheinenden Hologramme.


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1 "C'est cette action exploratoire plus ou moins délibérée que Boissonnet a poussée dans des scénographies qui interpellent de nouvelles attitudes chez le spectateur." (Poissant, 1998, S. 4).


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