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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Alltagserfahrung und mystische Erfahrung als Teil der impliziten Ordnung

 

Normale Alltagserfahrung betrachtet Bohm als einen Teil der eingefalteten Ordnung, und bevor man sich Gedanken über paranormale oder mystische Erfahrungen mache, solle man, meint Bohm, zuerst die Natur gewöhnlicher Alltagserfahrung betrachten. "Könnten die Menschen ... die Natur gewöhnlicher Erfahrung besser verstehen, dann würden sie sehen, daß mystische Erfahrung tatsächlich eine Erhöhung, Intensivierung und Vertiefung von etwas ist, an dem sie schon immer teilhaben. In der Tat haben viele Mystiker erklärt, ihre Erfahrung lasse sie die Welt der gewöhnlichen Erfahrung erheblich anders sehen."1 Mystische Erfahrung ist tiefer als gewöhnliche, aber nur graduell von ihr unterschieden. Mystische Erfahrungen, so Pribam, sind nicht ungewöhnlicher als viele andere Phänomene in der Natur auch. "Wenn wir Außersinnliche Wahrnehmungen (ASW)2 erfahren oder paranormale Phänomene erleben oder Nuklearphänomene in der Physik, so bedeutet dies nichts anderes, als daß wir in diesen Momenten aus einer anderen Dimension lesen. Im Alltäglichen können wir dies nicht verstehen."3 Bohm beharrt, man müsse die gewöhnliche Erfahrung in ihrer materiellen Gebundenheit zur Basis weiterer Forschungen machen. "Eines der zu erforschenden Probleme wäre der Zusammenhang zwischen mystischer Erfahrung und gewöhnlicher Erfahrung und die Möglichkeit, daß die gewöhnliche Erfahrung einige Eigenschaften hat, auf die man gewöhnlich nicht achtet."4

Doch Eigenschaften, die uns gewöhnlich nicht bewußt sind, liegen sinnlichem Erleben immer zugrunde - auch bei der Rezeption von musikalischen und anderen performativ angelegten Kunstereignissen. Begreift man Materie im Sinne Bohms tief genug, kann sich herausstellen, daß die Erfahrungen des Normalen, des Paranormalen und des Mystischen ein und dieselbe Wurzel in der eingefalteten Ordnung haben. In der Musik ist wie in allen sinnlichen Erfahrungen die eingefaltete Ordnung vorrangig in dem Sinne, "daß das Gefühl von fließender Bewegung erfahren wird, bevor wir diese in die Elemente analysieren, die diese Bewegung ausdrücken oder sichtbar machen. Sie können der Musik lauschen und sie dann später in Noten auflösen ... Letzten Endes gilt dasselbe für unser Sehen; wir sind aber so sehr daran gewöhnt, unsere Aufmerksamkeit auf Objekte zu fixieren, daß wir dessen nicht gewahr werden. Wir neigen dazu, jedes Objekt als fixiert und separat zu sehen, weil wir immer wieder zu demselben Objekt zurückkehren ... wodurch wir die Bewegung selbst aus dem Auge verlieren, ausgenommen vielleicht in den seltenen Augenblicken, in denen wir auf einen Fluß oder den Himmel blicken, wo es keine feststehenden Objekte gibt, auf die man sich konzentrieren kann. Unsere gesamte Erfahrung jedoch, das Denken eingeschlossen, beginnt mit der unmittelbaren Bewußtheit dieser fließenden Bewegung. Wenn wir metaphysisches Denken bis zu dem Punkt vorantreiben, an dem es nur noch sich selbst reflektiert, verwandelt es sich ebenfalls in eine fließende Bewegung zwischen Gegensätzen, etwa dem Unendlichen und dem Endlichen. Und wenn wir Denken und Fühlen erfahren, statt beides zu benennen und zu fixieren, dann werden Empfindungen in Gedanken und Gedanken in Empfindungen überfließen."5 Alles das ist normale Erfahrung, die wir nur aufgrund der Betonung auf die Beschreibung von Objekten mißverstehen. Das gilt auch in Hinsicht auf menschliche Kommunikation, wenn man sie weit genug faßt: "Man könnte dies noch weiterführen und sagen, daß in einer Beziehung zwischen zwei Menschen jeder das bewegende Prinzip des anderen ist. Normalerweise erfahren wir diese Bewegungsbeziehung nicht, weshalb wir jeden als separates und unabhängiges Wesen sehen, was in Wahrheit nicht der Fall ist."6

Es liegt klar auf der Hand, daß Boissonnets auratisches Hologramm auf solche Bewegungsbeziehung zielt, doch faßte man es als bloße Illustration solchen Denkens auf, erreichte es die Betrachter auf einer im Kognitiven verbleibenden Erfahrungsebene. Bevor ich wieder zu In-Between zurückkomme, soll deshalb die von Bohm angesprochene Erfahrungsebene aus psychologischer Sicht und im Blick auf mögliche Erfahrungen genauer betrachtet werden.


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1 Bohm, 1988a, S. 196.

2 Problematisch ist die Begriffsbildung, denn ASW ist schon deshalb ein leerer Begriff, weil Wahrnehmung als ein sinnlich vermitteltes Ereignis definiert ist. Zudem ist nicht auszuschließen, daß die spätere Entdeckung eines das Phänomen mitverursachenden, zuvor unbekannten Sinnes, die gemeinten Phänomene unter die sinnlichen Wahrnehmungen einordnen würde. (Vgl. Mittelstraß, 1984, S. 603)

3 Pribam, zit. nach: Ferguson, 1984, S. 295.
Ferguson versucht im Anschluß an Pribam, aus dem holographischen Modell auf die mögliche Erklärbarkeit von PSI-Phänomenen zu schließen: Da nach Pribam jedes Gehirn ein Stück des großen Hologramms ist, habe jedes Gehirn, meint Ferguson, potentiell Zugang zu allen Informationen des gesamten kybernetischen Systems. "Auch Synchronizität - das Gewebe aus Zufälligkeiten, das einem höheren Zweck oder einer tieferen Verbundenheit zu dienen scheint - läßt sich ebenfalls ohne weiteres in das holographische Modell einbauen. Solch bedeutungsvolle Überschneidungen von Ereignissen rühren von der zweckgerichteten, in Muster zerlegten, organisierenden Natur der Matrix her. Psychokinese, jenes Phänomen, bei dem Geist auf Materie einwirkt, ist vielleicht ein natürliches Resultat von Interaktion auf der ursprünglichen Ebene. Das holographische Modell löst ein langbestehendes Geheimnis von Psi: das Unvermögen, den nachweislichen Energietransfer bei Telepathie, Heilungen und Hellsehen instrumentell zu messen." (Ferguson, 1984, S. 293.)
Außersinnliche Wahrnehmungen scheinen den Alltagserfahrungen und den Annahmen der klassischen Physik gleichermaßen zu widersprechen, daß nämlich jedes Ereignis eine Ursache habe, und daß kein Ereignis eine Wirkung habe, bevor es nicht stattfindet. Neuere Erklärungsmodelle verlassen deshalb von vornherein die Denkstrukturen der klassischen Physik und "gehen von gewissen 'Isomorphien' zwischen paranormalen und Quantenphänomenen aus und suchen ... nach Indizien für eine mit Mitteln der klassischen Physik nicht beschreibbare neue Art der Interaktion. Diese Versuche bewegen sich jedoch vorerst im Bereich der Spekulation", (Mittelstraß, 1984, S. 604.) so ein Auszug aus einem neueren enzyklopädischen Handbuch zur Philosophie und Wissenschaftstheorie. Die Existenz von ASW wird kaum mehr bezweifelt, dies gilt vor allem für telepathische Vorgänge, die in Laborversuchen umfassend erforscht worden sind. Andere Phänomene, z.B. Präkognition, sind Laborexperimenten wenig zugänglich. Die beharrliche Skepsis gegenüber der Existenz solcher Phänomene beruht nicht nur auf Schwierigkeiten definitorischer und methodischer Art, sondern auch auf der Geschichte dieser Phänomene und ihrer Erforschung. Wegen ihrer nur losen Verankerung in universitären Forschungseinrichtungen waren parapsychologische Studien fast bis zur Mitte des 20. Jahrhundert weitgehend Sache von Amateuren "und bilden auf Grund vermuteter weltanschaulicher Implikationen und ausgezeichneter Vermarktbarkeit in den öffentlichen Medien bis heute einen Tummelplatz für Scharlatane." (Mittelstraß, 1984, S. 604.) Dennoch wird den Phänomenen für die Philosophie, besonders für die Erkenntnistheorie, weitreichende Relevanz eingeräumt. Der Einbezug von ASW hätte zur Folge, daß vor allem der Sensualismus (nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu) eine Veränderung erführe.

4 Bohm, 1988a, S. 198f.

5 Bohm, 1988a, S. 210.

6 Bohm, 1988a, S. 211.


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