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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Naturwissenschaft, Mystik und Kunst und ihre Verbindung zur Alltagserfahrung

 

Der französische Philosoph Henri Bergson hat im Jahre 1907 geäußert, die letzte Wirklichkeit sei ein Gespinst aus Verbindungen, aus dem das Gehirn den größeren Wirklichkeitszusammenhang herausfiltere. "Bergson war der Auffassung, daß Künstler, ebenso wie Mystiker, Zugang zum élan vital haben, dem zugrunde liegenden kreativen Impuls."1 Auch David Bohm sieht keinen grundlegenden Unterschied zwischen der Arbeit des Künstlers, des Mystikers, des Philosophen und des Naturwissenschaftlers. Die Relativitätslehre und die Quantenmechanik haben gewichtige Argumente dafür vorgelegt - wenn auch nicht bewiesen - daß man die Welt nicht in separate und voneinander unabhängige Teile auseinanderanalysieren kann. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß ein gemeinsamer Grundstock von Begriffen geschaffen wurde, der Physik und Mystik verbindet. "Das führt zu der Annahme, daß die Sphäre gewöhnlichen materiellen Lebens und die Sphäre mystischer Erfahrung eine gewisse Ordnung miteinander teilen, die eine fruchtbare Beziehung erlauben wird."2

Ken Wilber warnt vor der allzu einfachen Ineinssetzung von religiösen oder mystischen Weltbildern mit den der neuen Physik entstammenden Erkenntnissen. Scheine auch die mystische Durchdringung von Seinsebenen auf den ersten Blick mit Erkenntnissen der neuen Physik zu korrespondieren, handele es sich doch um verschiedene Wege zu verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit. Die neue Physik, meint Wilber, habe nichts mit den höheren Ebenen der Mystik zu tun, doch sie habe die grundlegende Holoarchie auf der Ebene des Materiellen entdeckt. Wilber schlägt deshalb vor, Bohms 'eingefaltete Ordnung' als Modell oder Metapher für die höheren Ebenen der Mystik anzusehen.

Bohm bildet jedoch mystische Hierarchien nicht ab, sondern modifiziert sie in seinem Sinne: In mystischen Hierarchien wird behauptet, ein Tier verfüge über Leben und Empfindung, ein Stein aber nicht. Bohm ist damit nicht einverstanden: "Wissen wir überhaupt etwas über den Stein? Sprechen wir über eine Zelle oder eine Viruspartikel, wäre das etwa dasselbe, als ob wir über einen Stein in seiner Beziehung zum ganzen materiellen Universum sprechen würden. Kontemplieren wir die Natur als ganzes - Gebirge, Meere, blühende Felder, Wälder -, dann können wir eine Erfahrung des Ganzen haben, die man als Mystik bezeichnet. Irgendwie wird uns da etwas offenbart, was wir nicht wahrnehmen können, wenn wir nur ein einzelnes lebendes Wesen anschauen. Wir erfassen die Immanenz der Totalität ebenso wie ihre Transzendenz. Man könnte sagen, die Transzendenz sei 'höher' als die Immanenz, doch müssen beide anwesend sein. Wichtig ist meines Erachtens die jeweilige Beziehung erstens zwischen der Immanenz und der Transzendenz und zweiten zwischen diesen beiden und dem gewöhnlichen Leben. Jede Vorstellung einer immanenten oder einer transzendenten Totalität ist eine Abstraktion; sie läßt das gewöhnliche Leben aus."3

Mit ähnlicher Intention wie Bohm, für den die Erfahrung der Wirklichkeit die Basis mystischer Einsicht bildet, beschreibt Frithjof Capra ein Erlebnis, das ihn die Parallelen zwischen moderner Physik und östlicher Mystik, mit denen er sich zuvor eher beiläufig beschäftigt hatte, ernster nehmen ließ: "Eines Nachmittags im Spätsommer saß ich am Meer; ich sah, wie die Wellen anrollten, und fühlte den Rhythmus meines Atems, als ich mir plötzlich meiner Umgebung als Teil eines gigantischen kosmischen Tanzes bewußt wurde. Als Physiker wußte ich, daß der Sand und die Felsen, das Wasser und die Luft um mich herum sich aus vibrierenden Molekülen und Atomen zusammensetzten. Diese wiederum bestehen aus Teilchen, die durch Erzeugung und Zerstörung anderer Teilchen miteinander reagieren. Ich wußte auch, daß unsere Atmosphäre ständig durch Ströme kosmischer Strahlen bombardiert wird, Teilchen von hoher Energie, die beim Durchdringen der Luft vielfache Zusammenstöße erleiden. All dies war mir von meiner Forschungstätigkeit in Hochenergie-Physik vertraut, aber bis zu diesem Augenblick beschränkte sich meine Erfahrung auf graphische Darstellungen, Diagramme und mathematische Theorien. Als ich an diesem Strand saß, gewannen meine früheren Experimente Leben. Ich 'sah' förmlich, wie aus dem Weltenraum Energie in Kaskaden herabkam und ihre Teilchen rhythmisch erzeugt und zerstört wurden. Ich 'sah' die Atome der Elemente und die meines Körpers als Teil dieses kosmischen Energie-Tanzes; ich fühlte seinen Rhythmus und 'hörte' seinen Klang, und in diesem Augenblick wußte ich, daß dies der Tanz Shivas war, des Gottes der Tänzer, den die Hindus verehren."4 Capras Beschreibung korrespondiert mit Bohms Bemerkung, es sei bloße Abstraktion, zu sagen, anorganische Materie sei tot und ohne Intelligenz. Zwar meinte Bohm, mit zunehmender Komplexität nehme die Intelligenz zu, doch müsse sie auch der Materie immanent sein, die das Komplexere forme. "Verfolgt man die Immanenz immer tiefer in die Materie, könnten wir meines Erachtens schließlich auf das Fließen stoßen, das wir auch als Geist erfahren, so daß Materie und Geist miteinander verschmelzen. Die äußersten Höhen des Geistes nennen wir Transzendenz; in den Tiefen der Materie finden wir die Immanenz des Ganzen, dessen, was ist. Wir benötigen beides, und meiner Ansicht nach wäre die Mystik absurd, die das kosmische Bewußtsein abwertet und sich nur an die transzendente Erfahrung hält... Etwas von dieser Totalität offenbart sich uns, wenn wir wahrnehmen, wie Materie sich in ihrer ungeheuren Weite und Tiefe in der Ebene, am Himmel und im Universum darstellt ... Ein Physiker hat eine gewisse Art von Kontakt mit der Materie; ein Philosoph denkt in allgemeiner Weise an die Materie. Wenn Sie aber einfach die Natur anschauen, dann kommen Sie mit einem Aspekt der Materie in Kontakt, der nicht abstrakt ist, der irgendwie das Ganze vermittelt. Fast jeder, der ein Gebirge, das Meer oder den Nachthimmel betrachtet, hat dieses Gefühl. Das ist genauso ein brauchbarer Weg, etwas über die Wirklichkeit zu erfahren, wie jeder andere."5


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1 Ferguson, 1984, S. 294.

2 Bohm, 1988a, S. 190.

3 Bohm, 1988a, S. 191.

4 Capra, 1987, S. 33.
Diese Erfahrung bildete für Capra den Grundstock einer systematischen Untersuchung des Hinduismus, Buddhismus und Taoismus und der Parallelen, die er zwischen den Ideen der mystischen Überlieferungen und denen der modernen Physik zu erkennen glaubte. 1972 trat Capra in einen Dialog mit Heisenberg. Heisenberg gab zu, daß seine Arbeit zumindest unbewußt von indischer Philosophie beeinflußt worden sei. Die Einführung in das indische Denken habe ihm gezeigt, "daß die Erkenntnis der fundamentalen Relativität, der inneren Verknüpfung und Vergänglichkeit aller Dinge, die für ihn selbst und seine Physikerkollegen so schwer zu akzeptieren gewesen war, die eigentliche Grundlage der indischen spirituellen Überlieferungen ist." (Capra, 1987, S. 42.)

5 Bohm, 1988a, S. 192f.
Physiker wie Einstein haben eine Ahnung gehabt von der allem zugrunde liegenden Einheit. "Es ist also einem Physiker nicht unmöglich, sie zu erfahren. Daß dies nicht häufiger der Fall ist, rührt vielleicht daher, daß die Naturwissenschaft von einer Haltung beeinflußt worden ist, die wertfrei zu sein versucht. Das ist natürlich nur ein Vorurteil, da ganz offensichtlich impliziert wird, der einzig zugelassene Wert sei wissenschaftliche Wahrheit." (Bohm, 1988a, S. 199).


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