Naturwissenschaft, Mystik und Kunst und ihre Verbindung zur
Alltagserfahrung
Der französische Philosoph Henri Bergson hat im Jahre
1907 geäußert, die letzte Wirklichkeit sei ein Gespinst
aus Verbindungen, aus dem das Gehirn den größeren
Wirklichkeitszusammenhang herausfiltere. "Bergson war der
Auffassung, daß Künstler, ebenso wie Mystiker, Zugang
zum élan vital haben, dem zugrunde liegenden kreativen
Impuls."1 Auch David Bohm sieht keinen
grundlegenden Unterschied zwischen der Arbeit des Künstlers,
des Mystikers, des Philosophen und des Naturwissenschaftlers.
Die Relativitätslehre und die Quantenmechanik haben gewichtige
Argumente dafür vorgelegt - wenn auch nicht bewiesen - daß
man die Welt nicht in separate und voneinander unabhängige
Teile auseinanderanalysieren kann. In diesem Sinne läßt
sich sagen, daß ein gemeinsamer Grundstock von Begriffen
geschaffen wurde, der Physik und Mystik verbindet. "Das
führt zu der Annahme, daß die Sphäre gewöhnlichen
materiellen Lebens und die Sphäre mystischer Erfahrung eine
gewisse Ordnung miteinander teilen, die eine fruchtbare Beziehung
erlauben wird."2
Ken Wilber warnt vor der allzu einfachen Ineinssetzung von religiösen
oder mystischen Weltbildern mit den der neuen Physik entstammenden
Erkenntnissen. Scheine auch die mystische Durchdringung von Seinsebenen
auf den ersten Blick mit Erkenntnissen der neuen Physik zu korrespondieren,
handele es sich doch um verschiedene Wege zu verschiedenen Ebenen
der Wirklichkeit. Die neue Physik, meint Wilber, habe nichts
mit den höheren Ebenen der Mystik zu tun, doch sie habe
die grundlegende Holoarchie auf der Ebene des Materiellen entdeckt.
Wilber schlägt deshalb vor, Bohms 'eingefaltete Ordnung'
als Modell oder Metapher für die höheren Ebenen der
Mystik anzusehen.
Bohm bildet jedoch mystische Hierarchien nicht ab, sondern modifiziert
sie in seinem Sinne: In mystischen Hierarchien wird behauptet,
ein Tier verfüge über Leben und Empfindung, ein Stein
aber nicht. Bohm ist damit nicht einverstanden: "Wissen
wir überhaupt etwas über den Stein? Sprechen wir über
eine Zelle oder eine Viruspartikel, wäre das etwa dasselbe,
als ob wir über einen Stein in seiner Beziehung zum ganzen
materiellen Universum sprechen würden. Kontemplieren wir
die Natur als ganzes - Gebirge, Meere, blühende Felder,
Wälder -, dann können wir eine Erfahrung des Ganzen
haben, die man als Mystik bezeichnet. Irgendwie wird uns da etwas
offenbart, was wir nicht wahrnehmen können, wenn wir nur
ein einzelnes lebendes Wesen anschauen. Wir erfassen die Immanenz
der Totalität ebenso wie ihre Transzendenz. Man könnte
sagen, die Transzendenz sei 'höher' als die Immanenz, doch
müssen beide anwesend sein. Wichtig ist meines Erachtens
die jeweilige Beziehung erstens zwischen der Immanenz und der
Transzendenz und zweiten zwischen diesen beiden und dem gewöhnlichen
Leben. Jede Vorstellung einer immanenten oder einer transzendenten
Totalität ist eine Abstraktion; sie läßt das
gewöhnliche Leben aus."3
Mit ähnlicher Intention wie Bohm, für den die Erfahrung
der Wirklichkeit die Basis mystischer Einsicht bildet, beschreibt
Frithjof Capra ein Erlebnis, das ihn die Parallelen zwischen
moderner Physik und östlicher Mystik, mit denen er sich
zuvor eher beiläufig beschäftigt hatte, ernster nehmen
ließ: "Eines Nachmittags im Spätsommer saß
ich am Meer; ich sah, wie die Wellen anrollten, und fühlte
den Rhythmus meines Atems, als ich mir plötzlich meiner
Umgebung als Teil eines gigantischen kosmischen Tanzes bewußt
wurde. Als Physiker wußte ich, daß der Sand und die
Felsen, das Wasser und die Luft um mich herum sich aus vibrierenden
Molekülen und Atomen zusammensetzten. Diese wiederum bestehen
aus Teilchen, die durch Erzeugung und Zerstörung anderer
Teilchen miteinander reagieren. Ich wußte auch, daß
unsere Atmosphäre ständig durch Ströme kosmischer
Strahlen bombardiert wird, Teilchen von hoher Energie, die beim
Durchdringen der Luft vielfache Zusammenstöße erleiden.
All dies war mir von meiner Forschungstätigkeit in Hochenergie-Physik
vertraut, aber bis zu diesem Augenblick beschränkte sich
meine Erfahrung auf graphische Darstellungen, Diagramme und mathematische
Theorien. Als ich an diesem Strand saß, gewannen meine
früheren Experimente Leben. Ich 'sah' förmlich, wie
aus dem Weltenraum Energie in Kaskaden herabkam und ihre Teilchen
rhythmisch erzeugt und zerstört wurden. Ich 'sah' die Atome
der Elemente und die meines Körpers als Teil dieses kosmischen
Energie-Tanzes; ich fühlte seinen Rhythmus und 'hörte'
seinen Klang, und in diesem Augenblick wußte ich, daß
dies der Tanz Shivas war, des Gottes der Tänzer, den die
Hindus verehren."4 Capras Beschreibung
korrespondiert mit Bohms Bemerkung, es sei bloße Abstraktion,
zu sagen, anorganische Materie sei tot und ohne Intelligenz.
Zwar meinte Bohm, mit zunehmender Komplexität nehme die
Intelligenz zu, doch müsse sie auch der Materie immanent
sein, die das Komplexere forme. "Verfolgt man die Immanenz
immer tiefer in die Materie, könnten wir meines Erachtens
schließlich auf das Fließen stoßen, das wir
auch als Geist erfahren, so daß Materie und Geist miteinander
verschmelzen. Die äußersten Höhen des Geistes
nennen wir Transzendenz; in den Tiefen der Materie finden wir
die Immanenz des Ganzen, dessen, was ist. Wir benötigen
beides, und meiner Ansicht nach wäre die Mystik absurd,
die das kosmische Bewußtsein abwertet und sich nur an die
transzendente Erfahrung hält... Etwas von dieser Totalität
offenbart sich uns, wenn wir wahrnehmen, wie Materie sich in
ihrer ungeheuren Weite und Tiefe in der Ebene, am Himmel und
im Universum darstellt ... Ein Physiker hat eine gewisse Art
von Kontakt mit der Materie; ein Philosoph denkt in allgemeiner
Weise an die Materie. Wenn Sie aber einfach die Natur anschauen,
dann kommen Sie mit einem Aspekt der Materie in Kontakt, der
nicht abstrakt ist, der irgendwie das Ganze vermittelt. Fast
jeder, der ein Gebirge, das Meer oder den Nachthimmel betrachtet,
hat dieses Gefühl. Das ist genauso ein brauchbarer Weg,
etwas über die Wirklichkeit zu erfahren, wie jeder andere."5