Bohms eingefaltete Ordnung
Den Raum und die darin eingebettete Materie beschrieb Bohm
als eingefaltete und entfaltete Ordnung. Die klassische Naturwissenschaft
hatte die Dinge in zwei Kategorien eingeteilt: in solche, die
eine strukturelle Ordnung aufweisen, und in solche, deren Teile
beliebig angeordnet sind. Bohm nahm an, daß die Hierarchien
der Ordnung im Universum möglicherweise unbegrenzt sind,
und daß Dinge, die wir als ungeordnet empfinden, vielleicht
gar nicht ungeordnet sind, sondern sich in einem Zustand der
'Einfaltung' befinden, der mit dem klassischen Modell der Physik
nicht erfaßt werden kann.
Die Mathematik der Quantentheorie behandelt Teilchen als quantisierten
Zustand des Feldes, das heißt als ein räumlich ausgebreitetes
Feld, das auf irgendeine Weise ein Quantum Energie trägt.
Der Raum ist angefüllt mit Feldern, die sich aus Wellen
verschiedener Längen zusammensetzen. Jede Welle besitzt
eine gewisse Energie. Berechnungen ergaben, daß jeder Kubikzentimer
des leeren Weltraums mehr Energie enthält als die Gesamtenergie
aller Materie im uns bekannten Universum. Bohm glaubt, daß
dieses Meer aus Energie tatsächlich existiert und uns ein
wenig über das verborgene Wesen der impliziten, eingefalteten
Ordnung verrät. Der gegenwärtige Stand der theoretischen
Physik impliziert, daß der leere Raum alle Energie besitzt
und daß Materie lediglich eine leichte Zunahme von Energie
ist. "Materie ist dann so etwas wie eine leichte Kräuselwelle
auf dem ungeheuren Ozean von Energie - mit einer relativen Stabilität,
wodurch sie manifest wird. Ich bin deshalb der Ansicht, daß
die eingefaltete Ordnung eine Wirklichkeit impliziert, die gewaltig
über das hinausreicht, was wir Materie nennen."1
In einem Interview, das Renée Weber 1988 mit David Bohm
führte, beschrieb Bohm ein Modell für die eingefaltete
oder implizite Ordnung:2 "In London hatten
wir einen Apparat mit zwei konzentrischen Glaszylindern konstruiert,
in deren Zwischenraum sich eine sehr zähflüssige Substanz,
sagen wir Glyzerin, befindet. Man kann einen Zylinder sehr langsam
drehen, so daß es zu einem Umrühren ohne Diffusion
in der zähen Flüssigkeit kommt. Läßt man
nun einen Tropfen unlöslicher Tinte in die Flüssigkeit
fallen und dreht den Zylinder langsam, dann wird dieser Tropfen
zu einem unsichtbaren langen Faden ausgezogen. Dreht man den
Zylinder rückwärts, wird der vorher in der Flüssigkeit
verteilte Tropfen wieder sichtbar. Man könnte nun sagen,
der Tropfen sei in ausgezogenem Zustand eingefaltet, wie das
Ei in den Kuchenteig eingefaltet ist. Das Ei läßt
sich aus dem Teig nicht mehr entfalten; aber in diesem Beispiel
kann man den Faden entfalten, weil es sich um eine viskose Flüssigkeit
und nicht um eine diffuse Mischung handelt... Man könnte
sich nun vorstellen, daß man einen anderen Tropfen Tinte
in die zähe Flüssigkeit einfaltet ... Zwischen den
beiden eingefalteten Tropfen [besteht] ein Unterschied, denn
der eine entfaltet sich in diesen und der zweite in jenen Tropfen.
Der Unterschied besteht also in der eingefalteten Ordnung;
er gehört nicht der gewöhnlichen entfalteten
Ordnung an, die wir sehen, die unsere gewöhnliche Beschreibung
der Wirklichkeit ist. Gewöhnlich denken wir uns jeden Punkt
in Raum und Zeit verschieden und getrennt von allen anderen Punkten,
und wir meinen, alle Zusammenhänge bestünden zwischen
in Raum und Zeit benachbarten Punkten ... Bei der eingefalteten
Ordnung werden wir zunächst einmal folgendes feststellen:
Haben wir den Tropfen Tinte in die zähe Flüssigkeit
eingefaltet, dann befindet er sich in der ganzen Flüssigkeit,
und jeder Teil des Ganzen trägt zu diesem Tropfen bei. Stellen
wir uns nun vor, wir geben einen zweiten Tropfen hinzu. Die beiden
Tropfen befinden sich in verschiedenen Positionen; faltet man
sie aber ein, dann vermischen sie sich irgendwie miteinander
... Nun haben wir eine Situation, die die normale Sprache nicht
beschreibt. Es ist die gegenseitige Durchdringung des Ganzen."3
Das kartesianische Modell ist ein Modell atomistischer Einheiten.
In der eingefalteten Ordnung ist das anders: "Wir falten
einen Tropfen ein, indem wir den Apparat mehrfach drehen, sagen
wir n-mal. Dann lassen wir einen weiteren Tropfen an einer etwas
verschobenen Stelle einträufeln und falten diesen ebenfalls
n-mal ein. Dann ist der erste Tropfen inzwischen 2n-mal eingefaltet
... Jetzt haben wir einen subtilen Unterschied zwischen einem
n-mal eingefalteten Tropfen und einem, der 2n-mal eingefaltet
wurde. Beide sehen gleich aus; würden wir aber n-mal zurückdrehen,
erhielten wir diesen Tropfen; drehten wir nochmals n-mal
zurück, erhielten wir jenen Tropfen... Wir machen
so weiter, bis wir eine ganze Menge Tropfen eingefaltet haben.
Nun drehen wir den Apparat rückwärts: Es erscheint
zunächst ein Tropfen und manifestiert sich vor unseren Augen,
dann der zweite, der dritte und so weiter. Macht man das schnell
genug, schneller als das zeitliche Auflösungsvermögen
des menschlichen Auges, dann wird es so aussehen, als bewege
sich ein einziges Teilchen kontinuierlich durch das Feld. Die
Beschreibung dieses Teilchens ist aber ganz anders als die kartesianische
Beschreibung. In der existiert das beobachtete 'eine Teilchen'
wirklich, und sein Wesen besteht darin, daß es an einem
Platz ist, dann an einem anderen und so fort. In unserer Beschreibung
manifestiert sich das Ganze, da das Teilchen stets das Ganze
ist und seine Teile nur in der Manifestation sichtbar werden.
Das heißt: Es manifestiert sich in unserem Auge, weil das
den Tropfen nur sieht, wenn dessen Intensität und dessen
Dichte einen bestimmten Punkt überschreitet. In einem bestimmten
Augenblick sind also nur die Tropfen sichtbar, die gerade zu
einem sehr dichten Zustand versammelt sind. Kehren sie wieder
in das Ganze zurück, tritt eine andere Folge von Tropfen
in Erscheinung, so daß wir ein sich bewegendes Teilchen
sehen. Dieses sich vor unseren Augen bewegende Teilchen ist jedoch
nur eine Abstraktion, die sich unserer Sicht manifestiert, während
die Wirklichkeit die eingefaltete Ordnung ist, die stets ein
Ganzes und ihrem Wesen nach unabhängig von der Zeit ist.
Sie steht in keiner Beziehung zur Zeit, weil zwei Elemente, die
in enger Beziehung zueinander stehen, solche sind, die sich nacheinander
entfalten; ursprünglich sind sie aber miteinander vermischt.
Daher hat ihre grundlegende Beziehung nichts mit Raum und Zeit
zu tun."4
Das kartesianische Verständnis des Raumes als leerem Behälter,
in dem Objekte sich an genau definierbaren Orten befinden, ist
in Bohms Modell ebenso aufgehoben wie die Vorstellung einer mathematisch
linear ablaufenden Zeit, in der die Dinge zu fest bestimmbaren
Zeitpunkten, in denen sie beobachtbar sind, existieren. Für
die kartesianische Anschauung macht es keinen Unterschied, ob
ein Tropfen n-mal oder 2n-mal eingefaltete ist, denn in ihr ist
wirklich nur das, was materiell, sichtbar und ausgedehnt ist.
In der eingefalteten Ordnung ist das, was sichtbar wird, nur
ein kleiner Teil der Ordnung. Fundamental ist der Grad der Einfaltung:
"Alle Dinge, die nahezu denselben Grad der Entfaltung haben,
stehen miteinander in einem Zusammenhang, wie weit sie sonst
auch in Raum und Zeit voneinander entfernt sein mögen."5
Die Vorstellung vom Entfalten ist für Bohm unmittelbar das,
was mit der Mathematik der Quantenmechanik gemeint ist. Während
im allgemeinen physikalische Vorstellungen im wesentlichen Vorstellungsbilder
von Gleichungen sind, versucht Bohm mit dem Modell der eingefalteten
Ordnung eine Beschreibung der Wirklichkeit zu geben. Die
implizite Ordnung, obgleich sie als Modell eine begrenzte Reichweite
hat (das hat Bohm immer wieder betont), ist die Wirklichkeit.
Interpretiert man Bohms Modell im Blick auf mögliche Erfahrung
der Wirklichkeit, so ist die implizite Ordnung nicht auf quantenmechanische
Phänomene beschränkt, sondern sie reicht, wie noch
zu zeigen sein wird, in eine dem mechanistischen Verständnis
gegenüber erweitert verstandene Alltagserfahrung hinein.