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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Bohms eingefaltete Ordnung

 

Den Raum und die darin eingebettete Materie beschrieb Bohm als eingefaltete und entfaltete Ordnung. Die klassische Naturwissenschaft hatte die Dinge in zwei Kategorien eingeteilt: in solche, die eine strukturelle Ordnung aufweisen, und in solche, deren Teile beliebig angeordnet sind. Bohm nahm an, daß die Hierarchien der Ordnung im Universum möglicherweise unbegrenzt sind, und daß Dinge, die wir als ungeordnet empfinden, vielleicht gar nicht ungeordnet sind, sondern sich in einem Zustand der 'Einfaltung' befinden, der mit dem klassischen Modell der Physik nicht erfaßt werden kann.

Die Mathematik der Quantentheorie behandelt Teilchen als quantisierten Zustand des Feldes, das heißt als ein räumlich ausgebreitetes Feld, das auf irgendeine Weise ein Quantum Energie trägt. Der Raum ist angefüllt mit Feldern, die sich aus Wellen verschiedener Längen zusammensetzen. Jede Welle besitzt eine gewisse Energie. Berechnungen ergaben, daß jeder Kubikzentimer des leeren Weltraums mehr Energie enthält als die Gesamtenergie aller Materie im uns bekannten Universum. Bohm glaubt, daß dieses Meer aus Energie tatsächlich existiert und uns ein wenig über das verborgene Wesen der impliziten, eingefalteten Ordnung verrät. Der gegenwärtige Stand der theoretischen Physik impliziert, daß der leere Raum alle Energie besitzt und daß Materie lediglich eine leichte Zunahme von Energie ist. "Materie ist dann so etwas wie eine leichte Kräuselwelle auf dem ungeheuren Ozean von Energie - mit einer relativen Stabilität, wodurch sie manifest wird. Ich bin deshalb der Ansicht, daß die eingefaltete Ordnung eine Wirklichkeit impliziert, die gewaltig über das hinausreicht, was wir Materie nennen."1

In einem Interview, das Renée Weber 1988 mit David Bohm führte, beschrieb Bohm ein Modell für die eingefaltete oder implizite Ordnung:2 "In London hatten wir einen Apparat mit zwei konzentrischen Glaszylindern konstruiert, in deren Zwischenraum sich eine sehr zähflüssige Substanz, sagen wir Glyzerin, befindet. Man kann einen Zylinder sehr langsam drehen, so daß es zu einem Umrühren ohne Diffusion in der zähen Flüssigkeit kommt. Läßt man nun einen Tropfen unlöslicher Tinte in die Flüssigkeit fallen und dreht den Zylinder langsam, dann wird dieser Tropfen zu einem unsichtbaren langen Faden ausgezogen. Dreht man den Zylinder rückwärts, wird der vorher in der Flüssigkeit verteilte Tropfen wieder sichtbar. Man könnte nun sagen, der Tropfen sei in ausgezogenem Zustand eingefaltet, wie das Ei in den Kuchenteig eingefaltet ist. Das Ei läßt sich aus dem Teig nicht mehr entfalten; aber in diesem Beispiel kann man den Faden entfalten, weil es sich um eine viskose Flüssigkeit und nicht um eine diffuse Mischung handelt... Man könnte sich nun vorstellen, daß man einen anderen Tropfen Tinte in die zähe Flüssigkeit einfaltet ... Zwischen den beiden eingefalteten Tropfen [besteht] ein Unterschied, denn der eine entfaltet sich in diesen und der zweite in jenen Tropfen. Der Unterschied besteht also in der eingefalteten Ordnung; er gehört nicht der gewöhnlichen entfalteten Ordnung an, die wir sehen, die unsere gewöhnliche Beschreibung der Wirklichkeit ist. Gewöhnlich denken wir uns jeden Punkt in Raum und Zeit verschieden und getrennt von allen anderen Punkten, und wir meinen, alle Zusammenhänge bestünden zwischen in Raum und Zeit benachbarten Punkten ... Bei der eingefalteten Ordnung werden wir zunächst einmal folgendes feststellen: Haben wir den Tropfen Tinte in die zähe Flüssigkeit eingefaltet, dann befindet er sich in der ganzen Flüssigkeit, und jeder Teil des Ganzen trägt zu diesem Tropfen bei. Stellen wir uns nun vor, wir geben einen zweiten Tropfen hinzu. Die beiden Tropfen befinden sich in verschiedenen Positionen; faltet man sie aber ein, dann vermischen sie sich irgendwie miteinander ... Nun haben wir eine Situation, die die normale Sprache nicht beschreibt. Es ist die gegenseitige Durchdringung des Ganzen."3

Das kartesianische Modell ist ein Modell atomistischer Einheiten. In der eingefalteten Ordnung ist das anders: "Wir falten einen Tropfen ein, indem wir den Apparat mehrfach drehen, sagen wir n-mal. Dann lassen wir einen weiteren Tropfen an einer etwas verschobenen Stelle einträufeln und falten diesen ebenfalls n-mal ein. Dann ist der erste Tropfen inzwischen 2n-mal eingefaltet ... Jetzt haben wir einen subtilen Unterschied zwischen einem n-mal eingefalteten Tropfen und einem, der 2n-mal eingefaltet wurde. Beide sehen gleich aus; würden wir aber n-mal zurückdrehen, erhielten wir diesen Tropfen; drehten wir nochmals n-mal zurück, erhielten wir jenen Tropfen... Wir machen so weiter, bis wir eine ganze Menge Tropfen eingefaltet haben. Nun drehen wir den Apparat rückwärts: Es erscheint zunächst ein Tropfen und manifestiert sich vor unseren Augen, dann der zweite, der dritte und so weiter. Macht man das schnell genug, schneller als das zeitliche Auflösungsvermögen des menschlichen Auges, dann wird es so aussehen, als bewege sich ein einziges Teilchen kontinuierlich durch das Feld. Die Beschreibung dieses Teilchens ist aber ganz anders als die kartesianische Beschreibung. In der existiert das beobachtete 'eine Teilchen' wirklich, und sein Wesen besteht darin, daß es an einem Platz ist, dann an einem anderen und so fort. In unserer Beschreibung manifestiert sich das Ganze, da das Teilchen stets das Ganze ist und seine Teile nur in der Manifestation sichtbar werden. Das heißt: Es manifestiert sich in unserem Auge, weil das den Tropfen nur sieht, wenn dessen Intensität und dessen Dichte einen bestimmten Punkt überschreitet. In einem bestimmten Augenblick sind also nur die Tropfen sichtbar, die gerade zu einem sehr dichten Zustand versammelt sind. Kehren sie wieder in das Ganze zurück, tritt eine andere Folge von Tropfen in Erscheinung, so daß wir ein sich bewegendes Teilchen sehen. Dieses sich vor unseren Augen bewegende Teilchen ist jedoch nur eine Abstraktion, die sich unserer Sicht manifestiert, während die Wirklichkeit die eingefaltete Ordnung ist, die stets ein Ganzes und ihrem Wesen nach unabhängig von der Zeit ist. Sie steht in keiner Beziehung zur Zeit, weil zwei Elemente, die in enger Beziehung zueinander stehen, solche sind, die sich nacheinander entfalten; ursprünglich sind sie aber miteinander vermischt. Daher hat ihre grundlegende Beziehung nichts mit Raum und Zeit zu tun."4

Das kartesianische Verständnis des Raumes als leerem Behälter, in dem Objekte sich an genau definierbaren Orten befinden, ist in Bohms Modell ebenso aufgehoben wie die Vorstellung einer mathematisch linear ablaufenden Zeit, in der die Dinge zu fest bestimmbaren Zeitpunkten, in denen sie beobachtbar sind, existieren. Für die kartesianische Anschauung macht es keinen Unterschied, ob ein Tropfen n-mal oder 2n-mal eingefaltete ist, denn in ihr ist wirklich nur das, was materiell, sichtbar und ausgedehnt ist. In der eingefalteten Ordnung ist das, was sichtbar wird, nur ein kleiner Teil der Ordnung. Fundamental ist der Grad der Einfaltung: "Alle Dinge, die nahezu denselben Grad der Entfaltung haben, stehen miteinander in einem Zusammenhang, wie weit sie sonst auch in Raum und Zeit voneinander entfernt sein mögen."5

Die Vorstellung vom Entfalten ist für Bohm unmittelbar das, was mit der Mathematik der Quantenmechanik gemeint ist. Während im allgemeinen physikalische Vorstellungen im wesentlichen Vorstellungsbilder von Gleichungen sind, versucht Bohm mit dem Modell der eingefalteten Ordnung eine Beschreibung der Wirklichkeit zu geben. Die implizite Ordnung, obgleich sie als Modell eine begrenzte Reichweite hat (das hat Bohm immer wieder betont), ist die Wirklichkeit. Interpretiert man Bohms Modell im Blick auf mögliche Erfahrung der Wirklichkeit, so ist die implizite Ordnung nicht auf quantenmechanische Phänomene beschränkt, sondern sie reicht, wie noch zu zeigen sein wird, in eine dem mechanistischen Verständnis gegenüber erweitert verstandene Alltagserfahrung hinein.


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1 Bohm, 1988, S. 62.

2 Das Interview wurde geführt im Zusammenhang einer Debatte in der Zeitschrift 'ReVision' zu Beginn der achtziger Jahre, die die Suche nach einer Verbindung von Naturwissenschaft und Religion zum Thema hatte. (Zusammengefaßt veröffentlicht in: Wilber, 1988) Bei dem Versuch, die harten Daten der Naturwissenschaft zu erklären, hatten Naturwissenschaftler in den siebziger Jahren begonnen, von Religion zu sprechen. " Dabei kamen sie zu folgender Schlußfolgerung: Die Fakten der Naturwissenschaft, die Daten aus Physik und Physiologie, scheinen nur dann einen Sinn zu ergeben, wenn man einen impliziten, gemeinsamen und transzendentalen Urgrund annimmt, der diesen Daten zugrunde liegt." (Wilber, 1988, S. 7.) Dieser transzendentale Urgrund schien mit dem zeit- und raumlosen Urgrund identisch zu sein, wie ihn die großen Mystiker - Hindus, Buddhisten, Christen oder Taoisten - beschrieben haben.

3 Bohm, 1988, S. 50f.

4 Bohm, 1988, S. 52f.
Dr. Gerhard Ackermann wies mich darauf hin, daß sich Bohms Experiment physikalisch mit der Entropie - der Zunahme an Unordnung - beschreiben läßt, die nur unter Zufuhr von Energie rückgängig gemacht, d.h. wieder in Ordnung überführt, werden kann.

5 Bohm, 1988, S. 55.


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