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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Raumzeitliche Wahrnehmung und Hirnphysiologie

 

Die Wahrnehmung dreidimensionaler Formen ist immer ein raumzeitlicher Vorgang. Nur indem Körper umwandert werden, können sie als Ganze perzipiert werden. Die Speicherung von Formen im Gedächtnis beeinflußt - mehr oder weniger - alle ferneren Wahrnehmungen ähnlicher Formen (man weiß, daß Häuser gewöhnlich Rückseiten haben, auch wenn man sie gerade nicht sieht). Aktuelle raumzeitliche Erfahrungen werden zugeordnet früheren Erfahrungen und eingeordnet in Strukturen, die auf früheren Erfahrungen, kognitiv Erlerntem und vielen anderen, kulturellen und biologischen Einflüssen beruhen. Die Zuordnung von Erfahrungen zu bekannten Strukturen dient der Orientierung in der Welt. Insofern sind sie notwendig und nützlich. Strukturen verhindern zugleich tendenziell neue Erfahrungen, wie die orthoskopische Deutung pseudoskopischer Bilder illustriert. Da das Gedächtnis aber durch Wahrnehmungen ständige 'updates' erfährt, werden Inhalte im Gedächtnis immer wieder neu geordnet. Daß das so ist, liegt in der physiologischen Organisation des Gehirns begründet.1

So wie die Wahrnehmung der Welt ein raumzeitlicher Vorgang ist, scheint einiges dafür zu sprechen, daß auch die damit einhergehenden Vorgänge im Gehirn raumzeitlich verstanden werden können. Wahrnehmungen, vermuten Neurophysiologen heute, sind im Gehirn doppelt kodiert: räumlich, durch die Kombination synchroner Nervenimpulse, die von örtlich getrennten Bereichen stammen, und zeitlich, durch sich überlagernde Abfolgen von Impulsen.2

Visuelle und andere Reize werden im Gehirn nicht zentral, sondern verstreut verarbeitet. Die Verarbeitung von Seheindrücken beispielsweise liegt verteilt auf weit auseinanderliegenden Sektionen. In bestimmten Arealen wird die Form eines Objekts verarbeitet, in anderen dessen Farbe und in wieder anderen Bewegungen. Alle Nervenzellen, die trotz räumlicher Distanz auf ein Objekt ansprechen, werden durch gleichgeschaltete Oszillationen vereint: Abseits voneinander gelegene Neuronen entladen sich vorübergehend mit derselben Frequenz, wenn sie optische Merkmale desselben Objektes verarbeiten. Die synchrone Erregung von Nervenzellen in verschiedenen Hirnarealen ermöglicht die Koppelung der verstreuten Signale, räumlich getrennte Neuronen werden durch zeitliche Synchronisation kombiniert. Die Entladungsmuster sind rhythmisch: Während ein bestimmter Reiz eingeht, reagieren nicht alle beteiligten Nervenzellen während der gesamten Dauer der Reizaufnahme mit der gleichen Intensität, sondern sie feuern in einem bestimmten Rhythmus, der so nur bei diesem bestimmten Reiz auftritt. Jeder Stimulus ist durch eine eigene 'Erkennungsmelodie' gekennzeichnet. Je synchronisierter die Nervenzellverbände reagieren, desto bewußter nehmen wir die Reize auf, spekulieren einige Hirnforscher und versuchen so, eine Brücke von der Wahrnehmung zum Bewußtsein zu schlagen.3

Das klassische kartesianische Modell der Reizverarbeitung ging davon aus, daß bestimmte Reize an bestimmte Nervenzellen gekoppelt sind. Das ist heute nicht mehr die allein mögliche Betrachtungsweise. Beispielsweise müßte entsprechend solcher Interpretation die Zahl der Nervenzellen unendlich sein, was nicht der Fall ist. Eine begrenzte Anzahl von Zellen kann unbegrenzt viele Dinge repräsentieren. Man vermutet heute, daß mehrere Modelle zutreffend sind. Für besonders wichtige Reize, z.B. die Erkennung von Gesichtern, könnten bestimmte Nervenzellverbände zuständig sein, andere Zellen könnten unspezifiziert sein und mit zeitlicher Synchronisation arbeiten.4 Für neue Reize werden neue Ensembles gebildet, die bei Wiederholung des gleichen Reizes eingeschliffen werden. Auch durch neu gebildete Ensembles werden eingehende Reize kategorisiert.

Ein weiteres klassisches Dogma der Neurobiologie ist inzwischen gefallen. Man hat lange angenommen, daß Nervenzellen, die durch Krankheit oder Verletzungen zugrunde gegangen sind, im erwachsenen Organismus nicht mehr ersetzt werden können. Jetzt haben Experimente ergeben, daß auch erwachsene Hirne (unter bestimmten Voraussetzungen) zeitlebens mit nachwachsenden Neuronen bestückt werden. Informationsspeicherung und Erinnerung sind vielleicht nicht vollständig materiell gebunden. Das wirft die Frage nach der Natur der Informationsspeicherung erneut auf. "Nach Ansicht vieler Forscher sind ausgewachsene Neuronen unersetzlich, weil sie ständig mit den molekularen Spuren von Lernprozessen befrachtet werden. Das ganze Wissen, das ein komplexes Lebewesen erwirbt, wird quasi in die Nervenzellen und ihre Kontaktstellen (Synapsen) 'eingeritzt'."5 Ein neues Neuron in einem erwachsenen Gehirn wäre nutzlos, weil es den Datenbestand des Vorgängers verloren hätte. Offenbar geschieht aber die Datenspeicherung auf eine bislang nicht vollständig entschlüsselte Weise.6

Heutige Forschungsansätze gehen davon aus, daß es - zumindest zur Zeit - nicht möglich ist, mit Hilfe eines einzigen, umfassenden Modells menschliche Wahrnehmung und Informationsverarbeitung zu erklären. Die Koexistenz disparater Modelle wird von dem meisten Forschern heute anerkannt und berücksichtigt. Festzuhalten ist, daß eine Tendenz der aktuellen Forschungen im Bereich der Hirnphysiologie und Neurobiologie auf die veränderliche Struktur des Hirns und die delokalisierte Form der Informationsspeicherung weist.


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1 Ernst Pöppel (Vgl. Pöppel, 1989 und 1998) begründet mit der physiologischen Organisation des Gehirns eine neurophysiologische Definition von Bewußtsein. Nervenzellen sind außerordentlich komplex miteinander verknüpft; und zwar so, daß jede der im Gehirn vorhandenen insgesamt 100 bis 1000 Milliarden Nervenzellen mit je 10 000 anderen verbunden ist. Über vier Zwischenschritte sind alle Nervenzellen miteinander verflochten. Aufgrund der engen Vermaschung der Nervenzellen im Gehirn mache es keinen Sinn, meint Ernst Pöppel, Wahrnehmungen und Gefühle voneinander zu trennen: Es gibt keine Wahrnehmung ohne Erinnerung und emotionale Bewertung. Es gibt retrospektiv rationale Erklärungsversuche, was in einem bestimmten Augenblick gewesen sein könnte, doch im Augenblick der subjektiven Gegenwart ist alles miteinander verbunden.
Ein eingehender Reiz löst im Gehirn in einer bestimmten Umwandlungszeit eine neuronale Oszillation aus. Verschiedene Reize haben verschiedene Umwandlungszeiten. Ein Lichtreiz benötigt mindestens 25 Millisekunden, um in 'Gehirnsprache' umgewandelt zu werden, ein akustischer dagegen nur 1 Millisekunde. Bei akustischen Reizen spielt die Entfernung der Schallquelle eine Rolle, bei Lichtsignalen ist sie praktisch bedeutungslos. Es müßte also bei sich bewegenden Objekten zu Zeitverschiebungen im Gehirn kommen. Das ist nicht der Fall. Das Gehirn schafft sich offenbar Zustände von Gleichzeitigkeiten. Es gibt zeitlich geordnete Systemzustände, innerhalb deren alles als 'gleichzeitig' empfunden wird. Der Grundtakt scheint etwa 30 oder 40 tausendstel Sekunden lang zu sein. Offenbar liegt der Reizverarbeitung ein oszillatorischer Prozeß zugrunde, der ein Gerüst bereitstellt, mit dessen Hilfe Ereignisse identifiziert und zeitlich aufeinander bezogen werden können. "Mit einem solchen neuronalen Oszillator steht dem Gehirn gleichsam eine Uhr zur Verfügung ..., die die Aktivität in den einzelnen Modulen synchronisieren kann. Diese Uhr könnte auch dazu genutzt werden, für das Gehirn jeweils auf etwa 30-40 ms beschränkt Systemzustände zu definieren, die auch als Grundlage für 'Ereignisidentifikation' genutzt werden könnten. Innerhalb eines derartigen Systemzustands wäre es nicht sinnvoll, von einer Vorher-Nachher-Beziehung zu sprechen, da die zeitliche Ordnung von Ereignissen erst für Reizzustände, die weiter als etwa 30 ms auseinanderliegen, angegeben werden kann" (Pöppel, 1989, S. 28.). Zeitlich getrennt verlaufende Ereignisse können nur dann als solche erkannt werden, wenn sie länger als diese Zeit auseinanderliegen.
Der Takt der Signalverarbeitung im Hirn bestimmt den motorischen Output in vielerlei Hinsicht. Sprachlaute - Phoneme - sind beispielsweise meist einen 'Systemzustand' lang - etwa 20 bis 30 Millisekunden. Im Gegensatz zur gleichförmig fließenden mathematischen Zeit ist das subjektive Empfinden bestimmt durch Zeitabfolgen. Es scheint einiges dafür zu sprechen, daß die Integration zeitlich aufeinanderfolgender Ereignisse in Einheiten von 2 bis 3 Sekunden zusammengepackt wird. Pöppel nennt das den 'Gegenwartsspeicher', der den gegenwärtigen Zustand 'bewußt' bestimme (Pöppel beruft sich auf den 'Zeitfolgefehler' in der Gestaltpsychologie. Es gelingt nur bis zu einer Zeitdauer von ungefähr 3 Sekunden, eine vorgegebene Zeitdauer zu reproduzieren. Sollen zwei Reize miteinander verglichen werden, muß das in einem Operationsfenster von 3 Sekunden geschehen, weil sonst der erste Reiz immer unterschätzt wird.). Im Dreisekundentakt, meint Pöppel, laufen alle Aktionen und Reaktionen ab. Intentionale Handlungen wie Händeschütteln dauern im allgemeinen 3 Sekunden, dauern sie länger, findet eine Neubewertung der Handlung statt. Diese Dauer scheint in allen Ethnien (und bei allen höheren Säugetieren) gleich zu sein. Pöppel hat kulturelle Äußerungen auf ihre zeitliche Segmentierung hin untersucht und herausgefunden, daß z.B. Verszeilen ungefähr drei Sekunden dauern, wenn man sie spricht. Sind die Zeilen länger, bei Hexametern beispielsweise, sind sie ihrerseits segmentiert. Ähnliche Segmentierungen fand Pöppel in der Musik, Motive sind meist 2 bis 3 Sekunden lang. Solche Muster nutzen möglichst optimal die Signalverarbeitung im Gehirn. Der Gehirnspeicher des Kurzzeitgedächtnisses wird als Gefäß genutzt. Die einzelnen Segmente werden semantisch verknüpft, dadurch entsteht die Illusion kontinuierlicher Zeit. Die Segmentierung von Szenen läuft automatisch ab und ist vorbewußt. Die semantische Verknüpfung von Nervenzellenverbänden, die auf bestimmte Signale ansprechen, ist dagegen erfahrungsbedingt und erlernt. Bleiben bestimmte Wahrnehmungsangebote in einer bestimmten Entwicklungsphase aus - für visuelle Reize ist die Entwicklung bis zum 3. Lebensjahr entscheidend - tritt funktionelle Blindheit ein, die irreversibel ist. Das gilt eventuell auch für höhere soziale Fähigkeiten (Vgl. Singer, 1998).

2 Vgl. Degen 1997, Gee 1997 und Wewetzer 1998.

3 Vgl. Wewetzer 1998.

4 Aktuelle Forschungsergebnisse lassen erneut bezweifeln, daß es unspezifizierte 'Allzweckneuronen' gibt, die für verschiedene Leistungen herangezogen werden. (Vgl. Degen, 1998b)

5 Degen, 1998.

6 Nachwachsende Nervenzellen sind im Gehirn des Menschen im Bereich des Hippocampus entdeckt worden. Nach dem gegenwärtigen Wissensstand ist die Weitergabe erworbener Informationen an Tochterzellen nicht möglich, deshalb bezweifelt die Autorin, daß in entwicklungsgeschichtlich jüngeren Hirnbereichen, die für die Speicherung solcher Informationen als verantwortlich angesehen werden, ebenfalls eine Neubildung von Nervenzellen stattfinden könne (Vgl. Müller-Lissner, 1998).


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