1 Ernst Pöppel (Vgl. Pöppel,
1989 und 1998)
begründet mit der physiologischen Organisation des Gehirns
eine neurophysiologische Definition von Bewußtsein. Nervenzellen
sind außerordentlich komplex miteinander verknüpft;
und zwar so, daß jede der im Gehirn vorhandenen insgesamt
100 bis 1000 Milliarden Nervenzellen mit je 10 000 anderen verbunden
ist. Über vier Zwischenschritte sind alle Nervenzellen miteinander
verflochten. Aufgrund der engen Vermaschung der Nervenzellen
im Gehirn mache es keinen Sinn, meint Ernst Pöppel, Wahrnehmungen
und Gefühle voneinander zu trennen: Es gibt keine Wahrnehmung
ohne Erinnerung und emotionale Bewertung. Es gibt retrospektiv
rationale Erklärungsversuche, was in einem bestimmten Augenblick
gewesen sein könnte, doch im Augenblick der subjektiven
Gegenwart ist alles miteinander verbunden.
Ein eingehender Reiz löst im Gehirn in einer bestimmten
Umwandlungszeit eine neuronale Oszillation aus. Verschiedene
Reize haben verschiedene Umwandlungszeiten. Ein Lichtreiz benötigt
mindestens 25 Millisekunden, um in 'Gehirnsprache' umgewandelt
zu werden, ein akustischer dagegen nur 1 Millisekunde. Bei akustischen
Reizen spielt die Entfernung der Schallquelle eine Rolle, bei
Lichtsignalen ist sie praktisch bedeutungslos. Es müßte
also bei sich bewegenden Objekten zu Zeitverschiebungen im Gehirn
kommen. Das ist nicht der Fall. Das Gehirn schafft sich offenbar
Zustände von Gleichzeitigkeiten. Es gibt zeitlich geordnete
Systemzustände, innerhalb deren alles als 'gleichzeitig'
empfunden wird. Der Grundtakt scheint etwa 30 oder 40 tausendstel
Sekunden lang zu sein. Offenbar liegt der Reizverarbeitung ein
oszillatorischer Prozeß zugrunde, der ein Gerüst bereitstellt,
mit dessen Hilfe Ereignisse identifiziert und zeitlich aufeinander
bezogen werden können. "Mit einem solchen neuronalen
Oszillator steht dem Gehirn gleichsam eine Uhr zur Verfügung
..., die die Aktivität in den einzelnen Modulen synchronisieren
kann. Diese Uhr könnte auch dazu genutzt werden, für
das Gehirn jeweils auf etwa 30-40 ms beschränkt Systemzustände
zu definieren, die auch als Grundlage für 'Ereignisidentifikation'
genutzt werden könnten. Innerhalb eines derartigen Systemzustands
wäre es nicht sinnvoll, von einer Vorher-Nachher-Beziehung
zu sprechen, da die zeitliche Ordnung von Ereignissen erst für
Reizzustände, die weiter als etwa 30 ms auseinanderliegen,
angegeben werden kann" (Pöppel, 1989, S. 28.). Zeitlich
getrennt verlaufende Ereignisse können nur dann als solche
erkannt werden, wenn sie länger als diese Zeit auseinanderliegen.
Der Takt der Signalverarbeitung im Hirn bestimmt den motorischen
Output in vielerlei Hinsicht. Sprachlaute - Phoneme - sind beispielsweise
meist einen 'Systemzustand' lang - etwa 20 bis 30 Millisekunden.
Im Gegensatz zur gleichförmig fließenden mathematischen
Zeit ist das subjektive Empfinden bestimmt durch Zeitabfolgen.
Es scheint einiges dafür zu sprechen, daß die Integration
zeitlich aufeinanderfolgender Ereignisse in Einheiten von 2 bis
3 Sekunden zusammengepackt wird. Pöppel nennt das den 'Gegenwartsspeicher',
der den gegenwärtigen Zustand 'bewußt' bestimme (Pöppel
beruft sich auf den 'Zeitfolgefehler' in der Gestaltpsychologie.
Es gelingt nur bis zu einer Zeitdauer von ungefähr 3 Sekunden,
eine vorgegebene Zeitdauer zu reproduzieren. Sollen zwei Reize
miteinander verglichen werden, muß das in einem Operationsfenster
von 3 Sekunden geschehen, weil sonst der erste Reiz immer unterschätzt
wird.). Im Dreisekundentakt, meint Pöppel, laufen alle Aktionen
und Reaktionen ab. Intentionale Handlungen wie Händeschütteln
dauern im allgemeinen 3 Sekunden, dauern sie länger, findet
eine Neubewertung der Handlung statt. Diese Dauer scheint in
allen Ethnien (und bei allen höheren Säugetieren) gleich
zu sein. Pöppel hat kulturelle Äußerungen auf
ihre zeitliche Segmentierung hin untersucht und herausgefunden,
daß z.B. Verszeilen ungefähr drei Sekunden dauern,
wenn man sie spricht. Sind die Zeilen länger, bei Hexametern
beispielsweise, sind sie ihrerseits segmentiert. Ähnliche
Segmentierungen fand Pöppel in der Musik, Motive sind meist
2 bis 3 Sekunden lang. Solche Muster nutzen möglichst optimal
die Signalverarbeitung im Gehirn. Der Gehirnspeicher des Kurzzeitgedächtnisses
wird als Gefäß genutzt. Die einzelnen Segmente werden
semantisch verknüpft, dadurch entsteht die Illusion kontinuierlicher
Zeit. Die Segmentierung von Szenen läuft automatisch ab
und ist vorbewußt. Die semantische Verknüpfung von
Nervenzellenverbänden, die auf bestimmte Signale ansprechen,
ist dagegen erfahrungsbedingt und erlernt. Bleiben bestimmte
Wahrnehmungsangebote in einer bestimmten Entwicklungsphase aus
- für visuelle Reize ist die Entwicklung bis zum 3. Lebensjahr
entscheidend - tritt funktionelle Blindheit ein, die irreversibel
ist. Das gilt eventuell auch für höhere soziale Fähigkeiten
(Vgl. Singer, 1998).
2 Vgl. Degen
1997, Gee 1997 und
Wewetzer 1998.
3 Vgl. Wewetzer
1998.
4 Aktuelle Forschungsergebnisse lassen
erneut bezweifeln, daß es unspezifizierte 'Allzweckneuronen'
gibt, die für verschiedene Leistungen herangezogen werden.
(Vgl. Degen, 1998b)
5 Degen,
1998.
6 Nachwachsende Nervenzellen sind im
Gehirn des Menschen im Bereich des Hippocampus entdeckt worden.
Nach dem gegenwärtigen Wissensstand ist die Weitergabe erworbener
Informationen an Tochterzellen nicht möglich, deshalb bezweifelt
die Autorin, daß in entwicklungsgeschichtlich jüngeren
Hirnbereichen, die für die Speicherung solcher Informationen
als verantwortlich angesehen werden, ebenfalls eine Neubildung
von Nervenzellen stattfinden könne (Vgl. Müller-Lissner,
1998).