Galileo, Karte und Schrift
Landkarten und Globen sind kognitiv lesbare Ordnungsgefüge.
Als zeichenhafte Gebilde, die auf bestimmte geopolitische Ordnungen
verweisen, sind sie kommentarbedürfig. Reine Bilder sind
Karten deshalb nicht, wie Buci-Glucksmann feststellt: "Die
Karte ist ihrer Natur nach unrein, weil sie Schrift und Bild
koexistieren läßt."1 Schrift
und Kartenbild sind rationale Zeichen gesammelten geopolitischen
Wissens, mit dessen Hilfe die Entzifferbarkeit der Totalität
der Welt sichergestellt werden soll.
In Galileo koexistieren Bild und Schrift mehrfach: Die
mit Schrift durchsetzten Bilder der Globen werden ihrerseits
überlagert von holographierten Schriftzeichen. Die in Landkarten
gemeinte Übereinstimmung von Schrift, Bild und Territorium
thematisiert und unterläuft Boissonnet zugleich, indem er
den Globus und die veränderlichen und fragmentarischen Bilder
vom Globus mischt mit der Negierung jeder Ortsbezeichnung: NULLE
PART. Und in der Tat ist die kartographische Projektion nicht
von einem Standpunkt im 'Territorium' aus denkbar. Das kartographische
Verfahren setzt eine tendenziell unendliche Distanz voraus. Es
unterscheidet sich vom perspektivischen Verfahren der Renaissance,
denn der Globus und die Karte bilden keinen Projektionsraum,
der auf Betrachter bezogen wäre. Globus und Karte, das sind
reine Oberflächen. "Die kartographische Projektion",
schreibt Buci-Glucksmann, "unterschlägt den Horizont
und eliminiert den Blickpunkt des Betrachters. Sie ist in der
Tat ein Blick von nirgendwo... Anders als auf einem Gemälde
ist es weder möglich durch eine Karte 'hindurch', noch auf
ihr einem Fluchtpunkt 'nach'zusehen."2
Karten und Globen bieten dem Betrachterkörper keinen Gesichtspunkt,
auf den er sich beziehen könnte. Ihre Repräsentationsformen
sind rein mental.
Das Stereogramm in der Installation Galileo repräsentiert
nicht die vom Globus uns vertraute Sphäre, sondern in der
ovalen Plansphäre finden wir eine sich anamorphotisch verändernde
'Landkartenlandschaft'. Die Ortsbezeichnungen 'hier' (ICI) und
'dort' (LA) in den beiden Plexiglasteleskopen enden buchstäblich
'nirgendwo' (NULLE PART). So weist die Vermittlungsstrategie
des Werks auf den relativen Charakter mentaler Repräsentationen.
"Die Installation lädt ein", schreibt de Kerckhove,
"zu verstehen, daß keine unserer Repräsentationen
etwas exakt repräsentiert. Sie sind alle Metaphern oder
weisen auf etwas, das nicht mehr und nicht weniger als die Sammlung
all unserer Repräsentationen ist. Wir haben alle 'Tunnelblicke'
entwickelt, Wissenschaft und Technologie eingeschlossen. Unsere
Sichtweise besteht aus einer Sammlung solcher Tunnel."3 Landkarten kann man als Metaphern solch fragmentarischer
Sichtweisen betrachten. Ihr Gesicht ändert sich mit wachsendem
Wissen oder nach geographisch beliebigen, politisch-ideologischen
Gesichtspunkten. "Die Karte ist offen, sie kann in all ihren
Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann
ständig neue Veränderungen aufnehmen".4
Ebenso wie Verbildlichungen kann man wissenschaftliche Modelle
metaphorisch verstehen. Eine solche doppelte Metapher bildet
der aufblasbare Globus in Galileo. Boissonnet nutzt die galileische
Repräsentation der Welt, so wie er erlernte Sehstrategien
der Besucher nutzt. Doch Boissonnet vervielfältigt und verunklärt
mit seiner Installation den einen Gesichtspunkt der Renaissance.
Während Galileo Galilei die Relativität privater Subjektivität
in ein monotheistisches Universum einführte, möchte
Boissonnet, schreibt de Kerckhove, ein vereintes kollektives
Bewußtsein wiederentdecken, das die Relativität subjektiver
Gesichtspunkte transzendiert. Boissonnets Galileo weise,
so interpretiert de Kerckhove, auf die relative Größe
und die unsichere Existenz unseres Planeten ebenso wie auf die
Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, wenn wir ihn beschreiben
wollen.5 Dem Betrachter deutlich wird diese
Problematik, indem Boissonnet in vielfacher Weise Ambivalenzen
herstellt.