Zeichenhaftigkeit und Konstruktivismus
Goethes und Helmholtz' Ausführungen zur Subjektivität
des Sehens haben gezeigt, daß von einer Übertragung
physikalischer Gegebenheiten in Malerei nicht die Rede sein kann.
Was wir empfinden und umsetzen können, sind Wirkungen auf
unseren Sinnesapparat. Folglich ist jedes Bild (im Verhältnis
zu 'realen' physikalischen Gegebenheiten) eine Illusion. Und
man kann nicht nur das gemalte Bild als illusionär bezeichnen,
sondern jede Empfindung überhaupt.
Helmholtz nennt die Nichtübereinstimmung von physikalischen
Gegebenheiten und Empfindungen Zeichenhaftigkeit. Das rückt
ihn in die Nähe aktueller konstruktivistischer Positionen.
Die neuere sinnesphysiologische Forschung ist dabei, das naturalistische
Verständnis des Sehens von naturwissenschaftlicher Seite
aus zu überwinden, eine Tendenz, die sich nach Gottfried
Boehm mit "Gehirnwissenschaft als Geisteswissenschaft"1 umschreiben ließe. Die wesentlichen Konzepte
der Neurobiologie und Hirnforschung wurden im letzten Jahrhundert
und in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts durch Forscher
wie Johannes Müller, Helmholtz, du Bois-Reymond (beide Schüler
Müllers), Hering und Fechner entwickelt. Zwar kennen wir
heute die chemischen und physikalischen Vorgänge sehr viel
detaillierter, doch konzeptionell gab es kaum grundlegende Veränderungen.2
Bereits Johannes Müller hatte es aufgegeben, das Auge als
Analogon der Camera obscura zu beschreiben, als er ihm eine spezifische
Sinnesenergie zumaß. Müllers Theorie, 1833 in seinem
'Handbuch der Physiologie des Menschen' veröffentlicht,
basiert auf der Entdeckung, daß Nerven verschiedener Sinnesorgane
physiologisch verschieden sind, d.h. daß spezifische Nerven
nur für eine bestimmte Art der Sinneswahrnehmung geeignet
sind und sich auf die Art der Sinneswahrnehmung anderer Organe
nicht übertragen lassen. "Sie ging schlicht davon aus
- und das machte sie zum erkenntnistheoretischen Skandalon -
daß eine einzige Ursache ..., je nachdem auf welchen Nerv
sie trifft, grundsätzlich verschiedene Empfindungen auslöst.
Wenn Elektrizität auf den Sehnerv trifft, produziert sie
die Wahrnehmung von Licht, trifft sie auf die Haut, so löst
sie die Empfindung aus, man werde berührt."3
Umgekehrt rufen verschiedene Ursachen, wenn sie auf denselben
Nerv treffen, die gleiche Empfindung hervor. Jede Einwirkung,
die den Sehnerven in Erregung versetzt, kann Lichtempfindungen
hervorrufen. Sehnerven können erregt werden von bestimmten
elektromagnetischen Schwingungen (die man nur wegen ihrer Wirkung
auf das Auge 'Licht' nennt), von mechanischen Einflüssen
wie Stoß oder Schlag, von Elektrizität oder auch von
chemischen Einflüssen wie Narkotika. Durch all diese Einwirkungen
kann "eine Empfindung [hervorgerufen werden], welche derjenigen,
die durch äusseres Licht entsteht, so ununterscheidbar ähnlich
ist, dass Leute, die das Gesetz dieser Erscheinungen nicht kennen,
sehr leicht in den Glauben verfallen, sie hätten eine wirkliche
objective Lichterscheinung gesehen."4
Müller stellt das Sehen zwar noch als etwas Spezialisiertes,
von den anderen Sinnen Getrenntes dar, doch seine Bestimmung
des Sehens entspricht nicht mehr den klassischen Erklärungsmodellen.
Müllers Theorie enthält vielmehr bereits im Kern die
These des radikalen Konstruktivismus, nach der wir mit Hilfe
unserer Sinnestätigkeit Wirklichkeit konstruieren, ohne
daß wir jemals Zugriff haben könnten auf eine etwa
dahinter verborgen liegende Realität. Solche Sichtweise
hat Auswirkungen auf den Wirklichkeitscharakter von Bildern:
Sie sind jetzt nicht mehr oder weniger illusionär als Naturphänomene.
"Die Theorie der spezifischen Sinnesenergien schildert bereits
die groben Züge einer visuellen Moderne, in der die 'referentielle
Illusion' unerbittlich freigelegt wird. Der Verlust der Referentialität
ist erst die Grundlage, auf der neue instrumentelle Techniken
für den Betrachter eine neue 'wirkliche' Welt bilden werden."5 Die physiologisch fundierte Natur des Betrachters
läßt den Unterschied zwischen 'Innen' und 'Außen'
hinfällig werden: "Letztlich wird das Sehen neu definiert
als die Fähigkeit, von Sinneswahrnehmungen affiziert sein
zu können, die nicht notwendigerweise einen Bezugspunkt
in der äußeren Welt haben".6
Mit dem Verhältnis von Außenwelt und Empfindung haben
sich schon Müller und Helmholtz beschäftigt. Heute
kann aus naturwissenschaftlicher Sicht auf sehr viel sichereren
Fundamenten gesagt werden, "daß Wahrnehmung tatsächlich
ein Tun ist ... (sic), das Ergebnis einer Suche nach bestmöglicher
Interpretation von Nervensignalen aus den Sinnesorganen".7